Herr Coors, der Fall von Noah Berge zeigt, dass die Rechtslage in Deutschland in Sachen Suizidhilfe noch immer unklar ist — trotz dem Entscheid des Bundesverfassungsgerichts von 2020. Wie beurteilen Sie das als Ethiker?
Da würde ich widersprechen: Die Rechtslage an sich ist sehr klar. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass jeder, der dazu bereit ist, einem anderen helfen darf, sich selbst zu töten. Es hat auch entschieden, dass das Leiden der betroffenen Person keine Rolle spielen darf. Ausschlaggebend ist allein die Selbstbestimmung, also dass die Person in der Lage ist, eine freie Entscheidung zu treffen.
Wie konnte es dann zu einem Fall wie dem von Noah Berge kommen?
Eine klare Rechtslage bedeutet nicht automatisch, dass alle Beteiligten wissen, was zu tun ist. Das sehen wir in vielen Bereichen der Medizin. So haben wir rechtlich eine nahezu hundertprozentige Klarheit darüber, unter welchen Umständen es legitim ist, lebenserhaltende Massnahmen einzustellen. Und dennoch gibt es Tausende Fälle, in denen der Prozess nicht funktioniert, weil Ärzte oder Pflegekräfte unsicher sind, ob sie die Geräte abstellen dürfen oder nicht.
Was wäre nötig, um mehr Klarheit zu schaffen?
In Deutschland läuft aktuell ein Gesetzgebungsverfahren, um das Urteil des obersten Gerichts in eine klare Regelung zu übersetzen. Verschiedene Varianten liegen auf dem Tisch: von einer sehr restriktiven Handhabung, die, wenn sie durchkäme, vielleicht selbst wieder ein Fall für das Verfassungsgericht wäre; über eine Regelung, die ein Beratungsgespräch durch eine zertifizierte Stelle sowie Bedenkzeit vorschreiben würde; bis hin zu dem Vorschlag, gar kein Gesetz zu erlassen. Im letzten Fall hätten wir in Deutschland weitgehend die gleiche Rechtslage wie in der Schweiz – mit dem Unterschied, dass die eigennützige Suizidhilfe hier verboten ist, während sie in Deutschland aktuell nicht verboten ist.
Angenommen, das deutsche Parlament verabschiedet ein Gesetz, das die Suizidhilfe in irgendeiner Form regelt. Und dann?
Dann müssen die verschiedenen Institutionen, die involviert sein werden – Hausärzte, Spitäler, Heime, Seelsorgende, vielleicht auch Kirchen –, für sich reflektieren, wie sie damit umgehen wollen. Sie müssen sich fragen, was ihre berufsethischen Standards sind, und in einem zweiten Schritt entsprechende Fortbildungen organisieren. Das sind alles Prozesse, die in der Schweiz auch gelaufen sind und zum Teil bis heute laufen.
«Was vielen Menschen hierzulande nicht klar ist: ‹In die Schweiz gehen› ist in Deutschland eine stehende Redewendung für assistierten Suizid.»
Die Schweiz ist in Sachen Suizidhilfe relativ liberal, Deutschland war es bis vor kurzem nicht. Wie erklären Sie sich das?
Es ist interessant: Es gibt die vorherrschende Meinung, dass Suizidhilfe in Deutschland immer verboten war und dass sich das erst mit dem Urteil des Verfassungsgerichts geändert hat. Das ist so nicht ganz korrekt. Vielmehr gab es vor diesem Urteil eine jahrzehntelange Phase der rechtlichen Unsicherheit. Seit 2006 war zwar die juristische Mehrheitsmeinung, dass Suizidhilfe strafrechtlich nicht belangbar ist, wenn es um einen klar selbstbestimmten Suizid geht. Auch der Verein Sterbehilfe e.V. war in Deutschland tätig und hat einige Gerichtsprozesse für sich entscheiden können.
… aber?
Die breite Bevölkerung und wohl auch viele Menschen im Medizinbereich waren der Meinung, es sei anders. Das hat auch mit einem älteren Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1984 zu tun, das lange kontrovers diskutiert wurde. Am Ende scheint allerdings entscheidender, dass Suizidhilfe in Deutschland kulturell weniger akzeptiert wurde.
Weniger als in der Schweiz.
Ja. Was vielen Menschen hierzulande nicht klar ist: «In die Schweiz gehen» ist in Deutschland eine stehende Redewendung für assistierten Suizid. Wenn jemand aus der Pflege sagt, der Herr XY ist in die Schweiz gegangen, wissen die meisten, was gemeint ist.
Woher kommt dieser unterschiedliche Zugang zum Thema?
Eine Rolle spielt sicherlich die Erfahrung des Dritten Reichs und der nationalsozialistischen Euthanasie-Programme. Positiv formuliert, hat das zu einer hohen Sensibilität dafür geführt, wie schnell ein gewisser moralischer Konsens komplett erodieren kann. Man will auf keinen Fall, dass sich so etwas wiederholt – dass irgendjemand ein Urteil über den Lebenswert anderer fällt. Zwar ist es ein Unterschied, ob jemand eine Krankheit als existenzielle Notlage empfindet und um Hilfe bittet, um dieser Notlage ein Ende zu machen; oder ob ein Staat systematisch anfängt, aufgrund von bestimmten Kriterien Menschen zu ermorden. Diese Extreme sind klar unterschieden. Aber es gibt dazwischen einige Graustufen.
Können Sie das ausführen?
Die Probleme beginnen, wenn man versucht, die Suizidhilfe rechtlich zu regeln. So könnte man zum Beispiel gesetzlich festhalten, dass jemand, der nur noch ein halbes Jahr zu leben hat, Suizidhilfe in Anspruch nehmen darf. Man könnte auch eine Reihe von Krankheiten festlegen, die einen für Suizidhilfe sozusagen qualifizieren. Aber darin steckt ein Werturteil darüber, was noch als lebenswert gilt und was nicht – und dieses Werturteil würde dann im Rechtssystem verankert. Das ist mit einer liberalen Rechtsordnung eigentlich unvereinbar. Das ist meines Erachtens der Grund, warum das Bundesverfassungsgericht in Deutschland das Leiden als relevanten Faktor ausgeschlossen hat und warum auch die Schweiz bisher keine klare Gesetzesregelung etabliert hat, sondern auf die Selbstregulation der Sterbehilfeorganisationen setzt. Um nicht den Eindruck zu erwecken, der Staat würde das Leben von Menschen mit beispielsweise einer bestimmten Krankheit weniger schützen als das Leben anderer.
Sie sagen, eine rechtliche Regelung birgt Gefahren. Gleichzeitig würde sie aber vielleicht verhindern, dass es zu Fällen wie dem von Noah Berge kommt.
Das stimmt. Eine klare Regelung würde Transparenz und Rechtssicherheit für alle Beteiligten schaffen. Man könnte sich im Zweifelsfall darauf berufen, dass alle Verfahrensschritte eingehalten wurden. Zudem würden alle Akteure denselben Standards unterliegen, so dass es nicht zu Ungerechtigkeiten kommen würde. Wenn sich ein Staat dagegen auf die Selbstregulierung verlässt, besteht immer die Gefahr, dass so etwas passiert wie im Fall von Noah Berge. Ich muss sagen, da verstehe ich jeden Polizisten, der lieber vorsichtig ist, statt sich nachher Vorwürfe machen lassen zu müssen, weil jemand tot ist, der es nicht sein dürfte.
Beide Wege — Selbstregulierung und gesetzliche Schranken — sind also problembehaftet. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Man könnte versuchen, die Suizidhilfe nicht materiell, sondern nur prozedural zu regeln. Das wird voraussichtlich der Weg sein, den Deutschland nehmen wird. Vereinfacht gesagt hiesse das, nicht festzulegen, welche Person Hilfe bei der Selbsttötung in Anspruch nehmen darf und welche nicht, sondern eine Prozedur zu definieren, wie festgestellt werden kann, ob eine Person sich assistiert töten darf oder nicht. Das müsste ein ergebnisoffener Beratungsprozess sein, in dem die Entscheidungsfähigkeit der Person sichergestellt wird, aber zum Beispiel auch, dass kein Eigennutz im Spiel ist. Ich selbst war früher in dieser Frage skeptisch. Inzwischen bin ich aber der Meinung, dass so ein Modell besser wäre, als gar keine Regulierung zu haben. Schwierigkeiten bleiben dennoch.
«Die meisten Seelsorgenden sind bereit, Menschen in dieser Situation seelsorglich zu begleiten – auch wenn viele die Suizidhilfe für sich nicht in Anspruch nehmen würden.»
Welche?
Nun, Suizidhilfe bleibt ein moralisch ambivalentes Phänomen. Das zeigt sich schon in der Feststellung des deutschen Verfassungsgerichts, dass niemand dazu gezwungen werden darf, bei einem Suizid zu helfen. Warum nicht? Weil es eben um eine Tötungshandlung geht. Die Rechtslage bildet diese Ambivalenz nicht ab, kann das vielleicht auch gar nicht. Deswegen müssen wir als Gesellschaft die ethischen Fragen rund um die Suizidhilfe weiter debattieren.
In der Schweiz scheint es derzeit aber keine grosse Auseinandersetzung mit dem Thema zu geben.
Punktuell kommen immer wieder Debatten auf. Derzeit sind beispielsweise die Kirchen sehr stark mit der Frage beschäftigt, wie ihre Seelsorgerinnen und Seelsorger mit assistiertem Suizid umgehen sollen. Unser Institut arbeitet gerade an einer entsprechenden Befragung. Sie zeigt, dass rund 60 Prozent der Seelsorgenden schon mal mit assistiertem Suizid zu tun hatten. Von diesen waren etwa 45 Prozent in die Phase der Entscheidungsfindung eingebunden. Und die meisten dieser Seelsorgenden sind auch bereit, Menschen in dieser Situation seelsorglich zu begleiten – auch wenn viele die Suizidhilfe für sich nicht in Anspruch nehmen würden.
Abgesehen von den Kirchen: Wo steht die Debatte um Suizidhilfe in der Schweiz?
Meist geht es um sehr spezifische Kontexte: Darf ein Demenzkranker Suizidhilfe in Anspruch nehmen? Oder jemand im Gefängnis?
Und?
Wenn die Selbstbestimmungsfähigkeit tatsächlich das einzige Kriterium sein soll beim Entscheid, ob jemand Suizidhilfe in Anspruch nehmen darf oder nicht, dann ist doch die spannende Frage: Wie selbstbestimmungsfähig ist man, wenn man in Haft ist? Denn wenn die Person frei wäre in ihrer Entscheidung, dann würde sie vermutlich eher das Gefängnis verlassen, als sich selbst zu töten. Haft schränkt per se Freiheit und Selbstbestimmung ein.
Michael Coors (1976) hat evangelische Theologie und Philosophie in Bonn, Tübingen und Durham (England) studiert. Nach zwei Jahren als Vikar entschied er sich für eine akademische Karriere: Zunächst arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock, später war er während acht Jahren theologischer Referent am Zentrum für Gesundheitsethik an der Evangelischen Akademie Loccum (Hannover). Seit 2019 ist er ausserordentlicher Professor für theologische Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und leitet dort das Institut für Sozialethik. Michael Coors ist verheiratet und hat vier Kinder.
Ist nicht auch ein kranker Mensch in seiner Freiheit eingeschränkt? Auch er würde ja vermutlich lieber geheilt werden, als sich selbst zu töten.
Das stimmt. Deswegen ist es so entscheidend zu klären, ob es eine Alternative zum Suizid gibt. Interessanterweise kann man sich auch mit Leuten aus Sterbehilfeorganisationen darauf verständigen, dass Suizidprävention in der Regel Vorrang haben sollte vor Suizidhilfe. Eine rechtliche Regelung, die auf den Prozess abzielt, könnte genau hier ansetzen: Sie könnte festhalten, dass alle Alternativen erwogen werden müssen, dass man den Betroffenen aber auch nicht penetrant Dinge vorschlagen soll, die für sie nicht in Frage kommen.
In den meisten Ländern, in denen Suizidhilfe erlaubt ist, nehmen die Fälle kontinuierlich zu. Wie beurteilen Sie das als Ethiker?
Erst einmal gar nicht, das sind einfach nur Zahlen – in der Schweiz sind es derzeit 4 bis 5 Prozent aller Todesfälle. Für mich ist entscheidend, was dahintersteht, und da habe ich keine abschliessende Antwort. Als Ethiker sehe ich allerdings den Selbstbestimmungs- oder Freiheitsbegriff, mit dem gerne argumentiert wird, kritisch. Es ist das eine, zu sagen, jeder hat das Recht, selber zu entscheiden. Das andere ist, von Selbstbestimmungsfähigkeit als Ideal der Lebensführung auszugehen.
Wie meinen Sie das?
Wenn wir als Gesellschaft nahelegen, dass Selbstbestimmung das Standardideal ist, an dem wir Erfolg im Leben messen – was geschieht dann mit Menschen, die diesem Ideal nicht mehr entsprechen können, weil sie zum Beispiel behindert sind oder pflegebedürftig werden? Der Lebenswert, den sie sich selber zuschreiben, erodiert. Dann ist die Entscheidung, sich selbst zu töten, nur noch in einem sehr eingeschränkten Sinne frei. Sondern sie ist letztlich ein Scheitern an den Idealen, die die Gesellschaft einem vorgibt. Eine liberale Gesellschaft aber muss es jedem ermöglichen, seine Lebensideale selbst zu definieren und zu bestimmen.
Wie kann man verhindern, dass eine Gesellschaft an diesen Punkt kommt?
Das hat viel mit der Fähigkeit zur Selbstreflektion zu tun, aber auch mit Pädagogik und medialer Kommunikation, mit der öffentlichen Diskussion über Leiden und Tod. Gehört Krankheit zum Leben dazu oder ist sie die grösstmögliche Katastrophe, die einem widerfahren kann? Ist Pflegebedürftigkeit immer etwas Schlimmes, oder kann es auch ein gutes Leben mit Pflegebedürftigkeit geben? Welche alternativen Lebensideale kennen wir zu dem des Selfmademans, der immer Herr über alles ist?
Sehen Sie derzeit Ansätze dieser Diskussion in der Gesellschaft?
Mir scheint, die Corona-Pandemie hat hier einiges verändert. Sie hat deutlich gemacht, dass wir alle nicht so selbstbestimmt sind, wie einige es gerne hätten. Sondern wir sind alle abhängig voneinander – davon, dass andere uns helfen, dass wir in einem System leben, das uns unterstützt. Wenn wir es schaffen würden, diese Angewiesenheit ernster zu nehmen und in unsere Vorstellung guten Lebens zu integrieren – das würde vielleicht am ehesten dazu beitragen, Zahlen von Suizid und Suizidhilfe zu reduzieren.
Dieser Artikel bezieht sich auf die Reportage Noahs Tod in der gleichen bref-Ausgabe. Den Text finden Sie hier.