Jean-Daniel Strub, der US-amerikanische Unternehmer und Millionär Bryan Johnson schluckt täglich über hundert Pillen, um möglichst lange zu leben. Sein Motto lautet «Don’t die». Haben Sie Verständnis für diesen Wunsch?
Ich kann ihn nachvollziehen. Es geht hier um einen Wunsch, der so alt ist wie die Menschheit selbst. Auch in der biblischen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies geht es um den Verlust der Unsterblichkeit. Der Wunsch, unendlich lange zu leben, ist also so etwas wie ein Gründungsmythos der Menschheit. Persönlich finde ich diese Haltung dennoch wenig erstrebenswert.
Warum?
Weil aus der Endlichkeit des Lebens vieles resultiert, was ihm Wert verleiht. Wie bei anderen notorisch knappen Gütern ist es auch beim Leben so, dass seine Begrenzung es wertvoll macht. Ausserdem lohnt es sich, Bryan Johnsons Leben genauer zu betrachten; besonders entspannt scheint es nicht zu sein, für Genuss oder gar Exzesse ist da kein Platz. Johnson zahlt einen Preis, der mir zu hoch wäre. Dem Wunsch nach Langlebigkeit steht aber vor allem auf gesellschaftlicher Ebene einiges entgegen.
Jean-Daniel Strub (49) hat evangelische Theologie studiert und im Bereich Friedensethik promoviert. Seit 2021 ist er stellvertretender Leiter und Fachverantwortlicher Ethik am Institut Neumünster. Zudem ist er Co-Leiter des Ethik-Forums der Gesundheitswelt Zollikerberg und führt ein eigenes Beratungsunternehmen für ethische Fragen. Zu seinen Schwerpunkten gehören unter anderem Medizinethik, Gesundheitspolitik, KI und Digitalisierung. Strub ist ausserdem Präsident von männer.ch, dem Dachverband der progressiven Männer- und Väterorganisationen der Schweiz.
Daneben engagiert sich Jean-Daniel Strub politisch und ist seit diesem Jahr Co-Präsident der SP Kanton Zürich. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.
Was genau?
Global gesehen stellt sich das Problem einer extrem ungerechten Verteilung. Das zeigt sich darin, dass wir in den reichen Ländern bald eine Lebensspanne von 120 oder 150 Jahren anstreben können, während der grösste Teil der Weltbevölkerung wegen veränderbaren Umständen wie Armut, Hygiene oder Gesundheitsversorgung weiterhin mit einer viel geringeren Lebenserwartung konfrontiert ist. Aus einer globalen Gerechtigkeitsperspektive lässt sich der Longevity-Trend deshalb kaum rechtfertigen. Auch für unsere Gesellschaft bringt er Gefahren mit sich.
Inwiefern?
Im Vergleich mit den vorherigen Generationen sind wir jetzt schon eine Gesellschaft von Langlebigen. Auch in Zukunft wird es der Normalfall sein, dass wir viele verletzliche ältere Menschen haben, die genauso würdeberechtigt sind wie alle anderen. Die Perspektive, man müsse möglichst lange fit wie ein Zwanzigjähriger sein, kann diese Würde jedoch in Frage stellen. Alt sein kann dann als etwas empfunden werden, das der Gesellschaft zur Last fällt.
«Die meisten von uns sehen das Leben mit seiner begrenzten Zeitspanne nicht mehr primär als Geschenk.»
Immer mehr Menschen wollen genau das: bis ins hohe Alter jung bleiben. Warum ist Longevity gerade so ein Boom?
Das hat zum einen mit den grossen Fortschritten in den letzten Jahren zu tun. Ich denke insbesondere an die genombasierte Medizin und an neue pharmakologische Möglichkeiten. Es gibt heute viele wissenschaftliche Erkenntnisse, die für Behandlungsansätze im Bereich der Langlebigkeit genutzt werden können. Dazu kommen andere Faktoren, die mit unserem Gesellschaftssystem und unserer Lebensweise zu tun haben.
Welche sind das?
Wir leben in einer stark individualisierten und säkularen Gesellschaft, in der Autonomie und Selbstbestimmung eine grosse Rolle spielen. Die meisten von uns sehen das Leben mit seiner begrenzten Zeitspanne nicht mehr primär als Geschenk. Vielmehr ist es uns wichtig, alles selbst in der Hand zu haben. Hinzu kommt, dass Experimente wie das von Bryan Johnson nur in einer sehr wohlhabenden Gesellschaft möglich sind. Im Einzelnen sind alle diese Faktoren durchaus wünschenswert. Genauso wie ein längeres Leben bei guter Gesundheit. Gesellschaftlich gibt es aber eben Schattenseiten, die wir im Blick haben müssen.
Longevity ist zum Geschäftsmodell geworden. In Zürich zum Beispiel gibt es bereits mehrere Zentren, die Langlebigkeits-Behandlungen anbieten. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Hier wird offensichtlich ein grosser Markt vermutet, obwohl es momentan noch so ist, dass ein Teil der Methoden und Anti-Aging-Medikamente, die in solchen Kliniken zum Einsatz kommen, eine begrenzte medizinische Evidenz haben. Sie funktionieren im Tierversuch, beim Menschen ist ihre Wirkung aber nicht gesichert. Deshalb braucht es bei diesen Behandlungen eine offene und sorgfältige Aufklärung der Kundschaft.
Ein Aufenthalt in einer Longevity-Klinik kann bis zu mehreren Tausend Franken pro Woche kosten. Die meisten Menschen können sich das nicht leisten. Stehen wir vor einer neuen Zweiklassenmedizin?
Es besteht natürlich die Gefahr, dass nur jene Zugang zu solchen Behandlungen haben, die über die nötigen Mittel verfügen. Das muss man vor allem im Auge behalten, wenn sich die Behandlungsmethoden als wirkungsvoll erweisen sollten. Die Folge könnte eine Normalisierung sein, wie wir sie heute bereits von bestimmten kosmetischen Eingriffen kennen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich denke da etwa an Zahnkorrekturen. Sogenannt makellose Zähne werden immer mehr zum Normalfall. Was ist aber mit den Menschen, die sich eine Korrektur nicht leisten können und deshalb womöglich in Zukunft Nachteile haben? Wenn es um körperliche und geistige Verjüngung geht, ist eine solche Normalisierung noch weit schwerwiegender. Personen, die sich diese Behandlungen nicht leisten könnten, wären mit erheblichen Nachteilen konfrontiert. Das beginnt schon damit, dass der öffentliche Raum auf unsere Vorstellung von Normalität ausgerichtet ist. Beispielweise bei der Frage, wie lange die Grünphase einer Ampel dauern soll. Menschen mit eingeschränkter Mobilität können davon ein Lied singen.
«Beim Longevity-Trend sehe ich die Gefahr, dass diejenigen, die vielleicht keine Lust mehr haben oder lebenssatt sind, als Versager hingestellt werden.»
Nehmen wir einmal an, Longevity-Behandlungen würden irgendwann für alle Menschen erschwinglich. Wäre es nicht eine schöne Vorstellung, über ein zeitlich fast unbegrenztes Leben zu verfügen?
Interessant in diesem Zusammenhang sind die Überlegungen des englischen Philosophen Bernard Williams. Seine These ist, dass wir alle bestimmte «kategorische Wünsche» haben, die wir uns in unserem Leben unbedingt erfüllen wollen. Zum Beispiel wollen wir unsere Enkelkinder aufwachsen sehen oder einen Marathon laufen. Diese Wünsche sind so etwas wie unser innerer Antrieb, also das, was uns am Leben erhält. Irgendwann, so Williams, sind diese Wünsche aber erfüllt. Dann verliert unser Leben seine Spannkraft und es droht ewige Wiederholung. So gesehen wäre es eben gar nicht so erstrebenswert, unbegrenzt alt zu werden. Daneben gibt es noch einen sozialethischen Aspekt.
Worum geht es dabei?
Eine Gesellschaft von sehr langlebigen oder sogar unsterblichen Menschen wäre, wie es der Sozialethiker Peter Dabrock sagt, eine Gesellschaft, die für die Nachkommenden keinen Platz machen will. Teilweise erleben wir schon heute, wie schwer es Älteren fällt, von einem Amt zurückzutreten und es Jüngeren zu überlassen. Diese Stabübergabe scheint mir aber den kommenden Generationen gegenüber eine Verpflichtung zu sein.
Alte Menschen sagen manchmal, sie seien lebenssatt. Ist es nicht so, dass wir alle früher oder später vom Leben genug haben?
In der Debatte ist schon länger von Anti-Aging versus Pro-Aging die Rede. Bei der ersten Haltung geht es vor allem darum, dem Alterungsprozess etwas entgegenzusetzen, beispielweise auf der Zellebene oder äusserlich durch Botox. Pro-Aging akzeptiert das Altern hingegen als anthropologische Tatsache; das Altwerden und Loslassen werden dort als vollwertige Bestandteile des menschlichen Lebens gesehen. Beim Longevity-Trend sehe ich die Gefahr, dass diejenigen, die vielleicht keine Lust mehr haben oder lebenssatt sind, als Versager hingestellt werden. Allerdings hat die Lebenssattheit auch damit zu tun, dass wir heute im Alter meist tatsächlich mit Einschränkungen konfrontiert sind. Wir können also gar nicht so genau wissen, wie es sich anfühlt, mit 90 Jahren topfit zu sein.

Seit 2021 ist Jean-Daniel Strub stellvertretender Leiter und Fachverantwortlicher Ethik am Institut Neumünster.
Sie sind Ethiker und Theologe. Was kann die Theologie dem Weltbild der Langlebigkeits-Gurus entgegensetzen?
In der Theologie gibt es die Vorstellung, dass ein Teil unseres Lebens unverfügbar ist. Der Tod kann manchmal plötzlich und unerwartet eintreten, wir können ihn nicht beherrschen. Um zu akzeptieren, dass wir nicht alles beeinflussen können, braucht es Demut. Dazu gehört, dass wir einen Weg finden, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. Das kann ein schmerzhafter Prozess sein.
Für die Longevity-Anhänger sind Alter und Gebrechlichkeit nicht etwas natürlich Gegebenes, sondern eine Krankheit, die geheilt werden muss.
Das entbehrt nicht einer gewissen Logik. Wenn man zum Beispiel versucht, den Degenerationsprozess auf Zellebene auszuschalten, ist das ein ähnlicher Prozess wie die Suche nach Therapien für Krankheiten. Die Pathologisierung des Alters ist eine gute Strategie, um den Longevity-Trend zu rechtfertigen. So lässt sich ein auf den ersten Blick egozentrisches Unterfangen als etwas darstellen, das von gesamtgesellschaftlichem Nutzen ist. Für mich ist der Vergleich mit einer Krankheit aber dennoch falsch. Das Alter ist keine Abweichung vom Gesunden, es ist vielmehr eine Grundkonstellation des Menschseins. Ich halte es für wichtig, dass wir das weiterhin anerkennen.
Bereits heute hört man die Klage, dass Langlebigkeit unser Vorsorgesystem belastet. Wird unsere Gesellschaft zunehmend altersfeindlich?
Nein, das nehme ich nicht so wahr, genauso wenig, wie sie den Tod verdrängt. In den letzten Jahrzehnten hat sich eher ein positiverer Blick auf das Alter durchgesetzt. Man sieht es vielgestaltiger und anerkennt seinen Wert vielleicht sogar mehr als auch schon.
«Ein bestimmtes Wunschalter habe ich nicht im Kopf. Die Lebenserwartung in unserer Gesellschaft ist zum Glück ohnehin hoch.»
Woran erkennen Sie das?
Ein Beispiel: Früher baute man Altersheime gern etwas ausserhalb von einer Ortschaft, etwa am Waldrand. Die Leute sollten ins Grüne sehen können, aber zugleich waren sie isoliert von der übrigen Gemeinschaft. Heute wäre das nicht mehr zeitgemäss. In diesem und in anderen Bereichen gibt es grosse Fortschritte. Auch in der Gerontologie macht man sich für den Wert des Alters stark.
Sie sind bald 50 Jahre alt. In diesem Alter beginnen die meisten Leute, sich Gedanken über das Altern zu machen. Wie gehen Sie damit um?
Ich habe mich in den vergangenen fünf Jahren intensiver mit dem Thema Sterblichkeit auseinandergesetzt. Unter anderem auch, weil ich die Gelegenheit hatte, eine Ausstellung über den Tod zu kuratieren. Ältere Menschen leiden oft unter Einsamkeit. Daher ist es mir wichtig, vielfältige Freundschaften und Beziehungen zu pflegen. Ich habe ausserdem Hobbys, die als gesund gelten, wie zum Beispiel Ausdauersport.
Möchten Sie ein Wunschalter erreichen?
Ein bestimmtes Wunschalter habe ich nicht im Kopf. Die Lebenserwartung in unserer Gesellschaft ist zum Glück ohnehin hoch und dafür bin ich selbstverständlich dankbar. Und wenn ich bei guter Gesundheit noch ein paar Jahre älter werde als der Durchschnitt, habe ich auch nichts dagegen.


