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Autor: Thomas Klatt
Freitag, 18. Mai 2018

Besucher der Maria-Magdalenen-Kirche im brandenburgischen Eberswalde müssen das Kirchenschiff aus dem 14. Jahrhundert ganz durchschreiten, vor dem Altar links abbiegen und an der ersten Säule den Kopf in den Nacken legen. Dann brauchen sie gute Augen, um an der Säule etwas erkennen zu können: Mit einiger Mühe ist am eher bäuerlich simpel gehaltenen Sandsteinkapitell eine Figur mit einem mittelalterlichen Judenhut zu sehen. Neben ihm steht eine Sau, die ihn küsst. Eine Verhöhnung, denn im Judentum gilt das Schwein als besonders unreines Tier.

Auch wenn die Darstellung unscheinbar wirkt, ist man sich in der evangelischen Gemeinde bewusst, dass die sogenannte Judensau Teil der unheilvollen antijüdischen Geschichte der deutschen Kirchen ist. «Wir wissen, dass im mittelalterlichen Eberswalde den Juden Hostienschändung vorgeworfen wurde. Daraufhin wurden auch hier Juden ermordet», erklärt Pfarrer Heinz Peter Giering von der Maria-Magdalenen-Kirche. Eberswalde ist kein Einzelfall. In ganz Deutschland sind rund dreissig Judensau-Darstellungen an oder in christlichen Kirchen bekannt. So etwa in Nürnberg, in Magdeburg oder im Chorgestühl des Kölner Doms, wo zusätzlich die RitualmordLegende dargestellt wird: Juden töten für ihren Gottesdienst kleine unschuldige Christenkinder. Die meisten Plastiken stammen aus dem 13. oder 14. Jahrhundert.

Die Raserei des Reformators

Nirgendwo jedoch fällt die polemische Skulptur so drastisch aus wie an der Wittenberger Stadtkirche. Am Geburtsort der deutschen Reformation saugen Juden nicht nur an den Zitzen eines Schweins, sondern schauen auch in seinen After, um dort den Herren, «Schem Hamphoras» als rabbinische Umschreibung für den unaussprechlichen Namen Gottes, zu entdecken. Die Wittenberger Judensau ist damit bis heute steinernes Zeugnis dafür, dass der Protestantismus zwar den römischen Papismus, in keiner Weise aber den christlichen Antijudaismus bekämpft hat.

So trug Martin Luther gar noch zur Bekanntheit des Wittenberger Reliefs bei, indem er es in einer gegen den jüdischen Glauben gerichteten Schmähschrift erwähnte. In einer seiner berühmten Tischreden äusserte sich Luther 1532 zudem zur Judentaufe, «dass er einen Juden, der sich taufen lasse, am liebsten gleich in der Elbe ertränken wolle». Vor allem in seinen späten Schriften «gegen die Sabbater» und «über die Juden und ihre Lügen» von 1543 liess sich der Reformator in aller Härte aus. Im selben Jahr legte er mit «Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi» nach, indem er die Juden mit dem Teufel gleichsetzte. Luther gab den Rat, Synagogen wie auch Wohnhäuser von Juden zu zerstören, ihre Gottesdienste zu verbieten, Rabbinern ein Lehrverbot zu erteilen und zumindest die jungen Juden in Zwangsarbeit zu nehmen. Überhaupt sollten Juden aus deutschen Landen vertrieben werden.

Luthers Raserei fand jedoch nicht überall Gehör. Der Rat der lutherischen Stadt Strassburg etwa verbot den Druck der judenfeindlichen Schriften. Und auch in der Schweiz stiessen Luthers Äusserungen auf Widerstand. Für den Zürcher Reformator Huldrych Zwingli etwa waren Juden zwar ebenfalls Christusmörder. Aber er forderte – anders als Luther – nie deren Ausrottung, wenn sich Juden nicht zum Christentum bekehren wollten. Im Gegenteil pflegte Zwingli sogar Kontakt zu einem jüdischen Arzt, um den Zürchern den rechten Umgang mit der hebräischen Sprache besser beibringen zu können. Heinrich Bullinger, der neben Zwingli die Schweizer Reformation theologisch mitprägte und sein Nachfolger als Prediger im Grossmünster wurde, verurteilte 1543 den «mörderischen Hass», mit dem Luther «die hebräischen Kommentatoren» angriff. Er sah mit jenem «unbändigen Wüten» auch «die Glaubwürdigkeit und das ehrwürdige Ansehen der biblischen Schriften» angetastet.

Doch daraus zu schliessen, dass die Schweizer Theologen völlig immun gegen Antijudaismus gewesen wären, ist ein Irrtum. Selbst Bullinger hatte seine Vorurteile und meinte, die Aufnahme von Juden in einem christlichen Gemeinwesen sei von der Obrigkeit nicht zu verantworten. Die Juden seien nämlich durch den Talmud verblendet, würden durch ihren Wucher die sozialen Probleme verschärfen und einfache Christen in ihrem Glauben verunsichern, heisst es in einem Gutachten, das Bullinger 1572 verfasste.

Auch aus den Texten eines Johannes Calvin ist ablesbar, dass der Antijudaismus unter den Schweizer Reformatoren latent präsent war. Für Calvin war die Gnade der Erwählung für B Juden nur wirksam, wenn sie sich taufen liessen und damit konvertierten. Einen immerwährenden alttestamentlichen Heilsplan Gottes für das Judentum als Sonderweg neben dem Christentum liess also auch der Genfer Reformator nicht gelten. Auch für ihn war der Grossteil der Juden verworfen – man dürfe sie aber um einiger Erwählter willen nicht verachten. Insgesamt blieb Calvin zurückhaltend, griff aber vereinzelt auf antijüdische Stereotype wie den Vorwurf des Hostienfrevels zurück.

Plastiken als «regionale Traditionen»

Bereits vor der Reformation war das jüdische Leben in der Schweiz von sozialer Ausgrenzung geprägt gewesen. Im Mittelalter durften Juden weder handwerkliche Berufe ausüben noch ein politisches Amt übernehmen. Allein zwischen 1348 und 1350 gingen zudem mindestens achtundzwanzig jüdische Gemeinden in Pogromen unter. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Juden aus praktisch allen Städten verjagt. Und dennoch: Anders als in Deutschland finden sich an oder in Schweizer Kirchen so gut wie keine mittelalterlichen Judensau-Darstellungen. Lediglich am Chorgestühl des Basler Münsters prangte ein Relief, das jedoch 1997 entfernt wurde und sich seitdem im Inventar des Museums Kleines Klingental in Basel befindet.

Der Grund für die Abwesenheit der judenfeindlichen Plastiken ist nicht restlos geklärt. Achim Detmers, Generalsekretär des Reformierten Bundes in Hannover, hat sich eingehend mit dem protestantischen Antijudaismus auseinandergesetzt. Er vermutet, dass die Schmähplastiken, die fast ausschliesslich im deutschsprachigen Raum auftauchen, regionale Traditionen sind: «Nicht jede Symbolik ist überall gleichermassen plausibel.» Auf keinen Fall, so Detmers weiter, könne man aber vom Nichtvorhandensein solcher Plastiken darauf schliessen, dass die Reformierten automatisch judenfreundlich gewesen seien. «Antijudaismus hat es auf lutherischer wie auf reformierter Seite gegeben, beziehungsweise es gibt ihn noch heute.»

Ein Fall für die Justiz

Dennoch bleibt den Schweizer Kirchen erspart, was in Wittenberg und in anderen deutschen Städten in vollem Gange ist: die Diskussion darüber, wie man heute mit den JudensauDarstellungen umgehen soll. 2016 lancierte der britische Theologe Richard Harvey eine Petition und sammelte seither fast zehntausend Unterschriften, damit das Wittenberger Spottbild entfernt und in einem anderen Rahmen ausgestellt wird. Ähnliches will auch die Zivilklage eines Mitglieds der jüdischen Gemeinde in Berlin erreichen. Die Klage wegen Beleidigung wurde allerdings vergangene Woche vom Wittenberger Amtsgericht nicht beantwortet – und der Prozess an die nächsthöhere Instanz verwiesen.

Die Aufarbeitungsdebatte ist indes alles andere als neu. Sie sei froh, dass sich die Gemeinde schon vor Jahrzehnten mit dem Thema auseinandergesetzt und zum Gedenken eine Pinie gepflanzt habe, meint Ilse Junkermann, Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Zusätzlich wurde 1988 das Denkmal des Bildhauers Wieland Schmiedel in den Boden unter der Judensau eingelassen. Den Text dazu verfasste der Schriftsteller Jürgen Rennert: «Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Hamphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in sechs Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.»

Das ist einer jüdisch-christlichen Initiative um den Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik nicht genug. Sie fordert, dass das Denkmal auffälliger wird, mit einer klaren Absage an jeden Antisemitismus. Ähnlich äussert sich auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster. Die jetzige Wittenberger Platte zum Gedenken an die Holocaustopfer helfe wenig zum historischen Verständnis des antisemitischen Reliefs. Schuster schlug vor, eine Tafel anzubringen, die die Darstellung erklärt und einordnet, oder aber die Judensau gleich ganz entfernen zu lassen.

Letzteres hält der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claussen, für keine gute Idee. Kahlschlag sei immer nur die einfachste Lösung. Zudem seien in der Stadt viele Menschen unterwegs; sie mit der Plastik zu konfrontieren habe einen grösseren pädagogischen Effekt als wenn die Judensau in ein Museum gebracht würde. «Aufklärung geht vor Beseitigung», sagt Claussen.

Von den rund dreissig betroffenen Kirchen hat bisher jede eine eigene Art gefunden, das schwierige Erbe zum Thema zu machen. Wittenberg entschied sich für ein Gegendenkmal; in Eberswalde, wo die Judensau am Ende einer Säule prangt, werden die Besucher durch ein Aufklärungsblatt informiert. Generallösungen könne es nicht geben, sagt Claussen. Wichtig wäre ihm aber, dass sich verschiedene Institutionen wie etwa Denkmalschutz, Politik, Kirche und jüdische Gesprächspartner zusammensetzten, um die Thematik zu besprechen. «Denn Antijudaimus ist kein innerchristliches Problem, sondern eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft.»

Thomas Klatt ist evangelischer Theologe und freier Journalist in Berlin.

Bild: KEYSTONE / DPA / HENDRIK SCHMIDT