Erstaunlich, welche Karriere der 2009 veröffentlichte Debütroman von Jonas Jonasson innerhalb kurzer Zeit machte. «Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand» war nicht nur in Schweden lange das meistverkaufte Buch. Auch in Deutschland und der Schweiz gehörte es monatelang zu den Top 10 und wurde zum internationalen Bestseller mit Millionenauflage. Mal abgesehen vom Unterhaltungswert dieses Schelmenromans, der einem rasanten Roadmovie gleicht: Was fasziniert an dem Thema? Dass die Zahl der Hundertjährigen bei uns stetig wächst? Dass uns der Protagonist in Rückblenden mitnimmt auf eine Zeitreise mitten durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts? Oder der Titel, der die Fantasie beflügelt, wie es wäre, selber aus dem bisherigen Leben auszusteigen und zu verschwinden?
In mir rührt der Buchtitel noch an eine andere Frage: Wie bin ich zu dem geworden, der ich heute bin, mit 71 Jahren? Dabei spielen Hundertjährige eine entscheidende Rolle, gehören sie doch zu meiner Elterngeneration, die oft dröhnend laut schwieg, wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus ging. Sieben von ihnen will ich ehren, die dies nicht taten und sich auf sehr unterschiedliche Weise in mein Leben einfädelten – als Lehrmeister, Vorbilder, beredte Zeitzeugen, auf je eigene Weise angefasst von und befasst mit den Schrecken und Verbrechen jener Jahre.
Ich gehöre zu den sogenannten 68ern, die auf die Strasse gingen, um gegen den Vietnamkrieg und gegen Politiker zu demonstrieren, die eine braune Vergangenheit hatten. Seitdem traten sie in mein Bewusstsein, diese sieben, meldeten sich zu Wort oder bekamen ein neues Ansehen. In diesem Jubiläumsjahr berühren sie mich aufs Neue.

«Wer will,/ dass die Welt so bleibt,/ wie sie ist,/ der will nicht,/ dass sie bleibt.» Erich Fried, Lyriker (1921–1988)
Da ist Erich Fried, geboren 1921 in Wien. Seine Stimme ist mir noch im Ohr – sie wärmte das Herz und provozierte das Denken. Seine Sprache war pointiert und politisch, präzise und poetisch. Gegen die US-Politik in Vietnam, gegen Israels Umgang mit den Palästinensern, gegen politische Zustände in der alten BRD und «sprachliche Endlösungen», wie er eines seiner Gedichte nannte: In einem Gesetzentwurf wurde damals der Begriff «gezielter polizeilicher Todesschuss» ersetzt durch «finaler Rettungsschuss». Erich Fried kommentierte das sarkastisch: «O nimmermüder Genius/ unserer deutschen Sprache/ der du überall/ alles/ verschönst/ und verklärst und begütigst!»
Fried war eine glaubwürdige Autorität, auch als Jude und Überlebender der Schoa. Seine Grossmutter wurde ins Vernichtungslager abtransportiert, sein Vater starb nach der Folter durch die Gestapo. Da war Fried siebzehn und rettete sich und etwas später seine Mutter ins Exil nach London. Später fanden seine Texte wegen ihrer politischen Brisanz in der alten Bundesrepublik zunächst keinen Verleger. Manche seiner Gedichte standen auf Wandzeitungen in den Universitäten und klingen aktueller denn je: «Wer will,/ dass die Welt so bleibt,/ wie sie ist,/ der will nicht,/ dass sie bleibt.»
Faszinierend fand ich seinen Umgang mit der hebräischen Bibel. Im Konfirmandenunterricht las ich wiederholt seine Variante des Brudermords: «Präventivschlag» nannte er die knappe Erzählung, in der Abel, die mörderische Absicht seines Bruders Kain erahnend, diesem zuvorkommt, und dann, von der Stimme Gottes konfrontiert: Kain, wo ist dein Bruder Abel? beschwichtigend antwortet: Hier bin ich, mach dir keine Sorge um mich. Als die Frage weiter an ihm nagt, deckt er den Leichnam des verscharrten Bruders auf, um erschrocken in sein eigenes Antlitz zu schauen.
Erich Fried war, bei aller polemischen Schärfe, ein Versöhner. Im Jahr vor seinem Tod 1988 widmete er dem von mir geschätzten Theologen Helmut Gollwitzer dieses Gedicht: «Weltfremd/ Wer denkt/ dass die Feindesliebe/ unpraktisch ist/ der bedenkt nicht/ die praktischen Folgen/ der Folgen/ des Feindeshasses.»

«Das Rationale am Menschen sind die Einsichten, die er hat. Das Irrationale an ihm ist, dass er nicht danach handelt.» Friedrich Dürrenmatt, Schriftsteller (1921–1990)
Was wusste ich als junger Mensch über die Welt – und die Abgründe der menschlichen Seele? Die zu ergründen und auszuloten, dazu half mir, Jahre zuvor, ein anderer Hundertjähriger, scharfsinnig und unterhaltsam zugleich: Friedrich Dürrenmatt, Sohn eines reformierten Pfarrers. Wenn ich an meinen Deutschunterricht zurückdenke, fallen mir die Stücke «Der Besuch der alten Dame» und «Die Physiker» ein.
Für beides, Schullektüre und begleitende Theaterbesuche in Schleswig, Kiel und Hamburg, bin ich meinen Lehrern noch heute dankbar. Neben vielen anderen Literaten, die hier nicht genannt werden können, arbeitete der Schweizer Schriftsteller Dürrenmatt an unserer Charakter- und Gewissensbildung. Das war eine Schule fürs Leben! Das war Aufklärung im besten Sinne des Wortes: Hilfe beim Herausfinden, beim Ausgang aus unreflektierter und daher selbst verschuldeter Unmündigkeit.

«grosser gott:/ uns näher/ als haut/ oder halsschlag ader/ kleiner/ als herz muskel/ zwerchfell oft:/ zu nahe/ zu klein/ – wozu dich suchen?/ wir:/ deine verstecke» Kurt Marti, Pfarrer (1921–2017)
Damals wusste ich noch nicht, dass neben Friedrich Dürrenmatt in der gleichen Schulklasse ein anderer Schweizer sass, der mich mit Beginn meines Theologiestudiums ein Leben lang begleiten und inspirieren würde: Kurt Marti, der Pfarrer und Dichter, ebenfalls im Januar 1921 geboren. Noch heute schaue ich ihm gelegentlich über den Rücken, will sagen: über die vielen Buchrücken in meinem Regal. Marti brachte Schwung in mein damals recht starres Glaubensgebäude. Dogmatische Begriffe löste er auf, indem er sie übersetzte in eine poetische, fliessende und sinnliche Sprache. In einem Weihnachtsgedicht heisst es: «Damals/ als Gott/ im Schrei der Geburt/ die Gottesbilder zerschlug/ und/ zwischen Marias Schenkeln/ runzlig rot/ das Kind lag.»
Kurt Marti war unbequem – und wurde gehört, weit über Bern hinaus. Die evangelisch-theologische Fakultät wollte ihm einen Lehrauftrag für Homiletik geben, für die Geschichte und Theorie der Predigt, doch der Regierungsrat des Kantons intervenierte – aus politischen Gründen. Marti hatte gegen Atomwaffen und Atomkraftwerke protestiert und pointiert kritisiert, dass in der Schweiz zwar Diktatoren mit ihrem Geld, nicht aber Flüchtlinge Asyl fänden. Für mich war Kurt Marti vor allem ein feinfühliger Theologe. «Zärtlichkeit und Schmerz» heisst eines seiner Bücher. Seine «Körpertheologie» berührt mich noch heute: «grosser gott:/ uns näher/ als haut/ oder halsschlagader/ kleiner/ als herzmuskel/ zwerchfell oft:/ zu nahe/ zu klein/ – wozu dich suchen ?/ wir:/ deine verstecke».
Immer wieder umkreist Marti das Alleinstellungsmerkmal der christlichen Religion, die Trinität, und übersetzt die Formel von Vater, Sohn und Heiligem Geist erfrischend neu. Die Dreifaltigkeit ist für ihn Inbegriff einer geselligen, kommunikativen und gewaltenteilenden Gottheit, die nicht in sich ruht, sondern sich teilt und auf Menschen übergeht: «Gott reist durch/ – durch uns hindurch./ Vielleicht lässt er/ etwas mitlaufen von uns?»
Ich könnte sagen, «meine» Hundertjährigen gehören auf je eigene Weise in die Kommune und den Wirkkreis dieser geselligen Gottheit. Denn für die gilt, so Martis Deutung von Pfingsten: «… lieber/ als einsamer Herr zu sein/ fliesst sie über/ in Menschen hinein».

«Der Mensch soll ja nicht, weil alle Dinge zwie spältig sind, deshalb auch zwiespältig sein.» Sophie Scholl, Widerstandskämpferin (1921–1943)
Zu den von pfingstlichem Geist erweckten Menschen gehört für mich Sophie Scholl, geboren im Mai 1921 in Baden-Württemberg. Jahrelang war sie in der Hitlerjugend aktiv, übernahm begeistert im Bund Deutscher Mädel eine leitende Rolle. Doch Zweifel und Erschrecken wuchsen, insbesondere nach der Reichspogromnacht und dann der Entfesselung des Krieges. Ihrem Geliebten, als Offizier an der Front, schrieb sie 1942: «Der Mensch soll ja nicht, weil alle Dinge zwiespältig sind, deshalb auch zwiespältig sein. Diese Meinung aber trifft man immer und überall. Weil wir hineingestellt sind in diese zwiespältige Welt, deshalb müssen wir ihr gehorchen. Und seltsamerweise findet man diese ganz und gar unchristliche Anschauung gerade bei den sogenannten Christen.»
Nach Jahren des Irrwegs fragt sie sich, ob sie bisher geträumt habe, und erkennt: «Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht.» Die spät und dann so entschieden Aufgewachte bleibt ein Vorbild bis heute: Du kannst dein Leben ändern und deinem Gewissen folgen. Im letzten Flugblatt der Weissen Rose, das sie mit verteilte an der Münchner Universität, wird zur «Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes» aufgerufen. Sophie Scholls Glaubensmut und ihre Zivilcourage machten sie zur Märtyrerin, sie starb mit anderen im Februar 1943 in München unter dem Fallbeil.
Wie spät begann die Aufarbeitung und Würdigung des Widerstands in der alten Bundesrepublik! Ich erinnere mich an kontroverse Diskussionen noch 1978 in meiner Vikariatsgemeinde im Norden Hamburgs, wo ein Platz nach der Weissen Rose benannt wurde, in Erinnerung an Studierende aus Hamburg, die wie die Münchner Gruppe gegen Hitler-Deutschland opponierte.

«Durch und durch./ Wir sind alle/ nur für kurz hier eingefädelt,/ aber das Öhr/ hält man uns seither fern,/ uns Kamelen.» Ilse Aichinger, Schriftstellerin (1921–2016)
In diesem Kontext muss ich die im November 1921 in Wien als Tochter einer jüdischen Ärztin geborene Ilse Aichinger erwähnen, die tief geprägt war vom Schicksal der Geschwister Scholl. In ihrem 1948 veröffentlichten Roman «Die grössere Hoffnung» erzählt sie die Geschichte eines rassisch verfolgten Mädchens in der Hitlerzeit. Die Deportation ihrer Grossmutter in ein Konzentrationslager liess sie zeitlebens nicht los. «Wer die Toten vergisst, bringt sie noch einmal um. Man muss den Toten auf der Spur bleiben. Ich hab’ die Verbindung zu meiner Grossmutter. Sie hat eine gute Art, dazubleiben, wie Günter.» Gemeint war ihr 1972 verstorbener Mann Günter Eich, den sie um mehr als vier Jahrzehnte überlebte.
Mich hat mitgenommen, ja erschüttert, was Ilse Aichinger 1996 – zu dem Zeitpunkt war sie 75 und schon fast ein Vierteljahrhundert verwitwet – in einem Interview sagte. Iris Radisch, Literaturkritikerin der «Zeit», hat es in den «Lebensendgesprächen» über «Die letzten Dinge» veröffentlicht. Da hatte die Schriftstellerin und Lyrikerin schon über zehn Jahre nichts mehr geschrieben. Ilse Aichinger erläutert in dem Gespräch, weshalb sie gern ins Kino geht: «Das Kino ist eine Form des Verschwindens. Man taucht ins Dunkel, man ist unsichtbar.
Ich hatte schon als Kind den Wunsch zu verschwinden. Das war mein erster leidenschaftlicher Wunsch. Ich erinnere mich kaum an etwas anderes ausser an diesen wahnsinnigen Wunsch. Der Wunsch ist noch immer da. Ich habe es immer als eine Zumutung empfunden, dass man nicht gefragt wird, ob man auf die Welt kommen will. Ich hätte es bestimmt abgelehnt.» Gefragt, warum, antwortet sie: «Was man an Leiden mit ansehen muss.» Der Anblick ihrer Grossmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien hat sich ihr in die Seele gebrannt. « Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben.»
Zwei Jahre nach dem Interview starb der Sohn von Ilse Aichinger an den Folgen eines Sturzes, mit 43 Jahren. Und sechs Jahre später, im gleichen Alter, an gleicher Stelle und auf gleiche Weise, ihr Herausgeber und jahrelanger Vertrauter. Da mutet es tragisch an, dass Ilse Aichinger selbst erst Ende 2016 verstarb, 95-jährig.
Ein Gedicht Ilse Aichingers hält mich wach und in Atem, gleicht es doch einem Rätselwort und einer bleibenden theologischen Provokation. Ich fand es erst in diesem Jahr, als ich auf ein schmales Bändchen der Autorin stiess, das fast zwanzig Jahre unbeachtet in meinem Regal stand. Eine befreundete Ärztin und Therapeutin hatte es mir geschenkt und als Widmung mit auf den Weg gegeben: «Durch und durch./ Wir sind alle/ nur für kurz hier eingefädelt,/ aber das Öhr/ hält man uns seither fern,/ uns Kamelen.»

«Wir sind die Generation ohne Bindung und Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund.» Wolfgang Borchert, Schriftsteller (1921–1947)
In Hamburg lebend, steht auf meiner Geburtstagsliste natürlich ein Sohn dieser Stadt, der auf ganz andere Weise versehrt wurde durch die Schreckensherrschaft der Nazis: Wolfgang Borchert, geboren im Mai 1921. Den Krieg hatte er mit Mühe überlebt – als Soldat wurde ihm wegen kritischer Bemerkungen der Prozess gemacht wegen Wehrkraftzersetzung. Vom Gefängnis wurde er zur «Frontbewährung» wieder in den Krieg geschickt, danach konnte er aus der Gefangenschaft fliehen und kam todkrank in seine in Trümmern liegende Heimatstadt.
Als ich Anfang der 2000er-Jahre von der Kieler Förde beruflich in die Innenstadt Hamburgs wechselte, joggte ich öfters um die Alster – und fand mich gegenüber dem Literaturhaus wiederholt erschüttert innehalten vor dem Gedenkstein mit diesem Zitat: «Wir sind die Generation ohne Bindung und Tiefe. Unsere Tiefe ist der Abgrund.» In diesen Abgrund schaut Borchert in seinem Theaterstück «Draussen vor der Tür», das einen Tag nach seinem Tod 1947 erstmals aufgeführt wurde. Als ich dieser Tage erneut in den Text schaute, war ich angefasst von der Aktualität und Zeitlosigkeit dieses Dramas. Im Vorspiel beobachtet ein Beerdigungsunternehmer einen Mann, der in die Elbe springt. In der Nähe steht einer, der verzweifelt weint. «Warum weinst du denn, Alter?» – «Weil ich es nicht ändern kann … Oh, meine Kinder! Es sind doch alles meine Kinder!» – «Oho, wer bist du denn?» – «Der Gott, an den keiner mehr glaubt.»
Im letzten Akt zieht der Protagonist, der wie das Alter Ego Borcherts erscheint, Bilanz: «Das ist das Leben! … Ein Mann kommt nach Deutschland. Er kommt nach Hause … Eine Tür schlägt zu, und er steht draussen.» Und dann mündet sein Monolog in einen einzigen Schrei einer gebrochenen Heimkehrer-Generation: «Soll ich mich weiter morden lassen und weiter morden? … Wohin sollen wir denn auf dieser Welt! Verraten sind wir. Furchtbar verraten. Wo bist du, Anderer? Du bist sonst immer da! … Wo ist der alte Mann, der sich Gott nennt? Wo seid ihr denn alle? … Gebt doch Antwort! … Gibt denn keiner, keiner Antwort? ? ?» So endet Borcherts bekanntestes Stück – wie der Schrei Jesu am Kreuz.
Eine andere Geschichte Wolfgang Borcherts habe ich auf Weihnachtsfeiern vorgelesen, mit einem Funken Wärme in aller Trostlosigkeit: «Die drei dunklen Könige». Da treten drei versehrte Kriegsheimkehrer in einen Raum, in dem sich ein Paar mit einem Neugeborenen an einem Herd wärmt. Immer wenn der Vater, der nicht weiss, wohin mit seiner Wut und Verzweiflung, die Ofentür aufmacht, fällt « eine Handvoll Licht über das schlafende Gesicht. Die Frau sagte leise: Kuck, wie ein Heiligenschein, siehst du?»
Ach, diese ganz und gar unheilige erste Jahrhunderthälfte meiner Elterngeneration!
Der Zufall will es, dass mein Geburtstagsgedenken noch einen heiteren Ausblick bekommt. Denn vor fast genau 100 Jahren, am 25. Juli 1921, wurde Paul Watzlawick in Österreich geboren – ein «Ausreisser» unter meinen Jubilaren. Den Nazis als Soldat und widerständiger Übersetzer mit knapper Not entronnen, nahm er Reissaus in mehrfacher Hinsicht. Watzlawick wurde zum Kosmopoliten.
Der promovierte Philosoph und am C. G. Jung-Institut in Zürich ausgebildete Psychoanalytiker brach aus der klassischen Schule aus, ging nach Indien, integrierte Konzepte des Hinduismus und des Yoga in seine Arbeit, folgte einem Ruf an die Universität El Salvador und wechselte Anfang der 1960er-Jahre ans Mental Research Institute in Palo Alto. In meinem Studium der Erziehungswissenschaften stiess ich erstmals auf seine «Axiome zur menschlichen Kommunikation», das wichtigste und grundlegende Axiom lautet: «Man kann nicht nicht kommunizieren.» Will sagen: Auch mit Schweigen, mit Mimik und Körpersprache teilen wir uns mit.
Sein konstruktivistischer therapeutischer Ansatz ist auch theologisch fruchtbar: Werde nicht zum Opfer deiner Vergangenheit. Mit trockener Lakonie bringt er das am Beispiel einer biblischen Figur so auf den Punkt: «Ein Vorteil des Festhaltens an der Vergangenheit besteht darin, dass es einem keine Zeit lässt, sich mit der Gegenwart abzugeben. Täte man das, so könnte es einem jederzeit passieren, die Blickrichtung rein zufällig um 90 oder gar 180 Grad zu schwenken und feststellen zu müssen, dass die Gegenwart nicht nur zusätzliche Unglücklichkeit, sondern gelegentlich auch Un-Unglückliches zu bieten hat; von allerlei Neuem ganz zu schweigen, das unseren ein für allemal gefassten Pessimismus erschüttern könnte. Hier blicken wir mit Bewunderung auf unsere biblische Lehrmeisterin, Frau Lot, zurück.»

«Man kann nicht nicht kommunizieren.» Paul Watzlawick, Kommunikationswissenschaftler (1921–2007)
Statt sich ins Leben zu retten, erstarrt Lots Frau bekanntlich zur Salzsäule beim Blick zurück. Das Zitat findet sich in Watzlawicks Weltbestseller «Anleitung zum Unglücklichsein». Ich las es erneut mit grossem Vergnügen. Paul Watzlawick ist für mich Meister einer heiteren, geradezu erlösten Sicht auf sich selber und die Welt.
Angenommen, die sieben Jubilare sässen um mich herum an einem Tisch und ich könnte ihnen danken für ihren Beitrag zu meinem Leben – gäbe es da so etwas wie einen roten Faden, der alles durchzieht und verbindet? Ich mag das Bild vom Leben als Gewebe. Nicht ein Faden bildet das Ganze ab, sondern die farbige Textur teils gerissener, teils wieder aufgenommener, teils neu aufgenommener Fäden, die sich je nach Blickwinkel zeigen. Nächstes Jahr wird das Bild anders sein. Ist nicht der Versuch des Paulus grandios, die Wirklichkeit unseres In-der-Welt-Seins so zu umschreiben? Keinem von uns sei Gott fern, heisst es in der Apostelgeschichte: «Denn in ihm leben, weben und sind wir.»
Gott als Webmaster, als Web-Meister! Mein Leben hängt nicht an einem Faden, sondern: Da sind viele, die mich halten. Heute nennt man das Resilienz. Schon der Prediger Salomo wusste: Eine dreifache Schnur reisst nicht leicht entzwei.
Dieser Beitrag entstand für die Radiosendung «Glaubenssachen» von NDR Kultur.