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Freitag, 10. Dezember 2021

Freitag, 18. Dezember 2020

120 neue Todesfälle seit gestern. 120 Tote? 120 Verstorbene? 120 statistisch Abgebuchte? 120 Betrauerte? 120 Erinnerte? 120 Vergessene? Proklamation des neuen Shutdowns. Zur Medienkonferenz erscheinen Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und die Bundesräte Alain Berset und Guy Parmelin dem Ernst der Lage angemessen in dunkelblauer bis schwarzer Kleidung. Dunkle Krawatte, weisses Hemd. Vom 22. Dezember bis 22. Januar 2021 werden Restaurants und Bars geschlossen – auch Freizeit-, Sport- und Kultureinrichtungen. Museen zu, aber Skilifte offen. Preisfrage: Wo bildet sich gewöhnlich die längere Schlange und damit der grössere Ansteckungsherd – vor dem Kunstmuseum oder vor dem «Schilift»?

Daniel Andres schreibt auf Facebook: «Wir tun jetzt die Beizen zu und lassen die Läden und die Schigebiete offen, und wenn das nichts nützt, tun wir die Beizen noch mehr zu und lassen die Läden noch mehr offen. Die Schweiz – eine Groteske von Dürrenmatt’schen Ausmassen.» Wer monatlich weniger als 3470 Franken verdient, erhält neu 100 statt nur 80 Prozent Lohnausfallentschädigung. «Können sich Bundesräte, Parlamentarier und Chefbeamte überhaupt vorstellen, was es heisst, mit weniger als 3470 Franken monatlich leben zu müssen?» fragt Heidi. Mein Hausarzt ist krank. Corona? Dürfen Hausärztinnen und Hausärzte überhaupt erkranken bzw. sich zuhause erholen? Müssen die nicht fiebrig zur Arbeit erscheinen, wie es erkranktes Spitalpersonal momentan teilweise muss? Ein positiv getesteter Staatspräsident wie Emmanuel Macron hat’s gut, kann seine Arbeit problemlos im Homeoffice erledigen. Aber doch nicht der systemrelevante Arzt im Quartier!

Samstag, 19. Dezember 2020

«Um fünf Prozent gealtert und dünnhäutiger» fühle er sich nach durchgestandener Covid-Erkrankung, sagt M. Es wuselt um den Breitsch-Träff, das Quartierzentrum im Berner Breitenrain. Alle mit Masken und um Abstand bemüht, versteht sich. Ein Feuer in der Schale entfachen. Marktstände aufbauen. Darauf Pasta, Linsen, Kichererbsen, Wein und Olivenöl zum Verkauf auftischen. «Libera Terra»-Lebensmittel, produziert von Genossenschaften in Apulien, Kalabrien, Kampanien, Sizilien. Auf Land, das der Mafia entzogen wurde. Hand in Hand arbeiten. Rund um die Feuerschale stehen – in der kaltfeuchten Luft. Ein Gefühl von Nähe in Zeiten der Distanz. Gespräche, Geplapper, Gekicher über den Ladentisch. Dazu Linsensuppe für alle. Gratis. Misstrauisch fragt eine Frau: «Gratis? Warum?» Die Organisatoren hinter dem Gewusel: Remigio und seine «Lupi solidali», die «solidarischen Wölfe». Wappentiere lassen sich also umerziehen. Von den «Grauen Wölfen», den Totemtieren türkischer Faschisten, zu den «Lupi solidali» italienischer Antifaschisten. In «solidali» klingt für mich «solidaire» und «solitaire» an. Gelesen im «Zeitmagazin»: «Ich bin 33 Jahre alt und derzeit Single. (…) Ich komme insgesamt gut zurecht und fühle mich trotz allem keineswegs einsam, aber was mir inzwischen wirklich krass fehlt, ist körperlicher Kontakt. Ich fühle mich körperlich angespannt, seelisch niedergeschlagen. Ich träume nachts oft von Sex oder Berührungen.» Birgit auf Twitter: «Vorletztes Date (nach dem letzten geb ich dann auf): wieder ein Coronaverharmloser!!! Stimmt vielleicht mit mir was nicht?» Monique fehlt das Diskutieren. Sie ertappe sich dabei, wie sie mit sich selbst debattiere. «Letzte Nacht habe ich gar geträumt, ich würde auf der Strasse laut mit mir argumentieren. Das war mir sehr peinlich. Ich schaute mich um, ob mir ja niemand zuhört.»

Sonntag, 20. Dezember 2020

Es menschenrechtelt sehr im Streit zwischen den USA und China in Zeiten von Corona. Und China bezweifelt, dass es den USA überhaupt um Menschenrechte geht. In den 1980er Jahren hätten die Vereinigten Staaten den Aufstieg Japans als Gefahr heraufbeschworen – und schwere Strafen gegen japanische Unternehmen verhängt, schreibt die chinesische «Global Times». «Japan ist ein Land, das eine sogenannte liberale Demokratie angenommen hat, wie die USA, aber das hinderte die USA nicht daran, es als Bedrohung zu behandeln.

Daraus schliesst der Kommentator, die Betonung von Differenzen in Menschenrechtsfragen sei lediglich ein Vorwand, um den Wiederaufstieg des Reichs der Mitte zu blockieren. Franco Cavalli, Vizepräsident von mediCuba-Suisse, über die Gemeinschaftsmedizin auf der Karibikinsel: Bis Mitte November habe Kuba weniger als 150 Corona-Todesfälle verzeichnet («ein Drittel der Todesfälle, die wir allein im Kanton Tessin hatten»), dank der sofortigen Hospitalisierung positiv getesteter Personen und täglichen Hausbesuchen durch das Gesundheitspersonal zur Nachverfolgung von Covid-Fällen, so Cavalli.

Montag, 21. Dezember 2020

Tanja Krones, leitende Ärztin am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte am Universitätsspital Zürich, in der «Republik»: «Wir stellen fest, dass es viele Patienten gar nicht mehr in die Spitäler schaffen, auch wenn sie sehr krank sind. Sie werden nicht mehr überwiesen. In manchen Pflegeheimen und Hausarztpraxen scheint die Haltung vorzuherrschen: Wenn eine schon 85 ist, hat es keinen Sinn mehr, das Spitalsystem zu belasten.» Die Gewerkschaft ver.di in Deutschland ruft zum Streik gegen den Versandhändler Amazon auf. Dieser verdiene sich in der Krise «eine goldene Nase». Zugleich herrschten verheerende Zustände beim Gesundheits- und Hygieneschutz der Beschäftigten. Heute in der «NZZ»: «Das mutierte Coronavirus setzt den Börsen zu.» Und die «Coopzeitung» informiert die Kundschaft: «Für entspannte Weihnachtseinkäufe öffnen wir unsere Supermärkte und die Lebensmittelabteilungen von Coop City und Bau + Hobby vom 21.12.2020 bis 2.1.2021 an den Verkaufstagen bereits um 7.00 Uhr.»

«Ich konnte der Machtlosigkeit etwas entgegensetzen»

Mit «Sauerstoff» hat der Berner Historiker und ehemalige Journ...

Dezember 2021
Johanna Wedl
Alexander Egger

Dienstag, 22. Dezember 2020

Lichtinsel. Zwei junge Frauen auf einer Sitzbank bei der Tramhaltestelle Spitalacker im Berner Breitenrain, zwischen ihnen ein Kuchenblech, darauf zwei Rechaudkerzen. Die beiden im Gespräch, einander leicht zugeneigt. «Sie ist meine beste Freundin, wir müssen doch ein bisschen miteinander feiern», erklärt die eine, entschuldigend, als wir das «déjeuner sur banc» freudig lachend kommentieren. Stadtpräsident Alec von Graffenried und Gemeinderätin Franziska Teuscher haben sich mit dem Coronavirus infiziert, sie müssen bis nach Weihnachten in Isolation. Gemeinderat Michael Aebersold ist in Quarantäne, Gemeinderat Reto Nause wartet auf sein Testresultat. Die Stadtregierung arbeitet aber weiter – online. Das Virus degradiert das Regieren zum Bürojob im Homeoffice, nimmt den Regierenden die Aura der Auserwählten, den Restbestand aristokratischer Abgehobenheit. Im Tram. Ein junger Mann mit Rucksack auf einem Sitz vor uns beugt sich zurück und fragt: «Zieglerspi­-tal?» Wir nicken, bestätigen ihm, dass er an der nächsten Sta­tion aussteigen muss. Vermutlich ein Flüchtling, unterwegs zum Ersteintritt ins Bundesasylzentrum Zieglerspital. Welche Geschichte trägt er im Rucksack mit ? Später, zu Gast in einem Einfamilienhaus in der Nähe des Asylzentrums. In einer ruhigen Wohngegend. Eigentlich. Nun aber, erzählt man uns, störten Schreie aus dem Zentrum, Streit unter Flüchtlingen und aufkreuzende Polizeipatrouillen immer häufiger die Nachtruhe. Wenn alles zur Ware wird, warum nicht auch Haustiere? Wegen Homeoffice legen sich viele Bernerinnen und Berner einen Hund zu. Die Anzahl registrierter Tiere sei 2020 stark angestiegen, schreibt « Der Bund ». Und was man sich zulegt, kann man bei Bedarf auch wieder ablegen. Ernst Dummermuth vom Tierheim Emmental fürchtet, dass die Halter nach dem Ende des Homeoffice die Hunde wieder in Heimen abgeben werden. «Leider ist der Hund für viele kein guter Kumpel, sondern bloss ein Trendobjekt.»

Mittwoch, 23. Dezember 2020

Barbara Boss, Theatermacherin, im «Bund»: «Ich bin nur damit beschäftigt, Vorstellungen zu verschieben und um Entschädigungen zu kämpfen. (…) Der Arbeitsalltag ist zermürbend. Auch darum bin ich nebenbei als Pflegehilfe im Spital tätig – sinnstiftender Ausgleich und finanzielle Absicherung. Der Zustand der Pflegenden ist erschreckend, sie chrampfen zum Teil 13-Stunden-Schichten. Ohne Lohnerhöhung. Ohne Aussicht auf Besserung.» Jetzt schenken wir wieder. Schenken ist Opfern, unbewusstes. Ein Entschuldigungsritual. Ein Eingeständnis, dass uns eigentlich nichts gehört, dass wir nichts verdient haben, dass wir alles, was wir besitzen, nur zufällig besitzen – und nur auf Zeit.

Donnerstag, 24. Dezember 2020

Weihnachten – ein Waffenstillstand mit gelegentlichen Scharmützeln. Ein Hymnus. Und wie jede Hymne – National­hymne, Vereinshymne, Parteihymne – endet sie nicht auf dem letzten Ton, nicht mit dem abschliessenden ohrenbetäubenden Klatschen, sondern mit der Leere danach.

«Sauerstoff» ist ausser den Tagebucheinträgen von Samuel Geiser auch eine Bildchronik mit 90 Fotografien des Ausnahmezustand – im Homeoffice, auf der Intensivstation, an Demos und illegalen Partys.