Immer wieder bekommt die Hebamme Anna Margareta Neff einen dieser Anrufe: Am Telefon ist eine Frau, im Schock, kurz nach einer Ultraschalluntersuchung mit schwerwiegender Diagnose. Nicht selten hat sie bereits einen Termin für einen Abbruch am nächsten Tag.
Was tun? Sie kann sich nur falsch entscheiden. Gegen ihr Kind – oder dafür, ihm beim Sterben zusehen zu müssen.
«Es ist nur in Ausnahmefällen medizinisch notwendig, sofort zu handeln», sagt Anna Margareta Neff. Meist ist der Abbruch eine emotionale Kurzschlusshandlung: der Wunsch, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. «Aber nachher ist es nicht vorbei. Hinterher fragen sich die Frauen praktisch immer: Was wäre wohl aus meinem Kind geworden?»
Diagnose: Trisomie 18
Jessica Della-Vedova konnte ihre Tochter im Bauch schon spüren, als die Ärzte eine Trisomie 18 diagnostizierten. Die Gynäkologin betrachtete im Ultraschall bestimmte Stellen immer wieder, dann rief sie einen Kollegen dazu. Die beiden entdeckten Fehlbildungen an den Organen, dazu einen Herzfehler und Wasser im Hirn. Man bot Della-Vedova an, die Schwangerschaft abzubrechen.
«Mich hat die Traurigkeit überflutet», sagt die 32-Jährige. «Ich habe tagelang nichts mehr gefühlt.»
Laut Statistik sterben die meisten Kinder mit Trisomie 18 bereits in der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt. Nur 5 bis 10 Prozent werden mehr als ein Jahr alt.
Jessica und Matthias Della-Vedova wollten das Leben ihrer Tochter nicht vorzeitig beenden, darin waren sie sich schnell einig. Das Kind sollte sterben, wenn es selbst so weit war. Jeden Abend legten sie eine Musikdose auf Jessicas Bauch, einen kleinen Walfisch aus Plüsch, spürten die sanften Tritte und beteten gemeinsam.
Diagnose: Schwerer Herzfehler
Mirjam Hirschi war in der 21. Schwangerschaftswoche, als sie bei ihrer Gynäkologin eine Kontrolle machen liess. Von der letzten wusste sie, dass es ein Mädchen werden würde. Sie und ihr Mann hatten schon zwei Söhne, daher freuten sie sich besonders. Beim Organscreening schien zunächst alles in Ordnung. Bis die Frauenärztin das Herz untersuchte und sah: Die linke Kammer ist nicht richtig ausgebildet.
Mirjam Hirschi ist Pflegefachfrau, sie wusste, was das bedeutet. «Für mich war klar: Wenn es tatsächlich so ist, dann muss nicht um jeden Preis alles unternommen werden, damit Lielle überlebt. Dann gebe ich ihr möglichst viel Liebe, solange sie lebt, rede ihr gut zu und streichle sie schon in meinem Bauch.»
Der Verdacht auf ein «hypoplastisches Linksherzsyndrom» bestätigte sich: Lielles Herz würde nicht ausreichend Blut in den Körper pumpen. Wollte man versuchen, das Herz zu operieren, müsste man vermutlich die Geburt einleiten und das Kind sofort danach von der Mutter trennen, um es künstlich zu beatmen und auf mehrere Herz-OPs vorzubereiten. Aber selbst dann wäre unklar, ob und wie lange es mit einem unheilbaren Herzfehler noch weiterleben könnte.
Nach drei oder vier Terminen mit Kardiologen stand für Mirjam Hirschi fest: «Ich will nicht mit meiner Tochter ihr Leben lang im Spital bleiben. Ich habe auch noch zwei andere Kinder, die mich brauchen.»
Die zweite Option, die man dem Paar vorschlug, war ein Abbruch. Das lehnte es ab, aus ethischen Gründen.
Als Pflegefachfrau kannte Mirjam Hirschi einen dritten Weg. «Ich habe gefragt, ob ich mein Kind auch palliativ zur Welt bringen kann.» Ein Team aus Gynäkologen, Pränataldiagnostikerinnen, Kardiologen, Geburtshelfern, Hebammen und Neonatologinnen diskutierte den Fall und stimmte dem Wunsch zu.
Palliative Care bei Neugeborenen
Nur sehr wenige Paare entscheiden sich dafür, ihr Kind auszutragen, wenn es während oder kurz nach der Geburt sterben könnte. Die wenigsten erfahren von der Möglichkeit einer palliativen Geburt. Bei einer solchen konzentrieren sich Hebammen, Geburtsmedizinerinnen und Neonatologen darauf, dass das Neugeborene keine Schmerzen hat und nicht von den Eltern getrennt wird. Die Eltern halten ihr Kind möglichst ununterbrochen am eigenen Körper, die Ärztinnen und Ärzte vermeiden alle medizinischen Eingriffe. Man wiegt das Neugeborene nicht, nimmt ihm kein Blut ab, legt keine Infusionen und misst auch nicht Fieber.
Eine palliative Geburt ist für die Eltern weniger traumatisierend als ein Abbruch, weil sie ihr Kind kennenlernen und sich von ihm verabschieden können. Darauf deuten Erfahrungen aus anderen Ländern hin, etwa aus Deutschland, wo an der Berliner Charité vor einigen Jahren ein Konzept für eine palliative Geburt entwickelt wurde.
Hierzulande empfiehlt die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK), das Konzept der palliativen Geburt an allen Zentrumskliniken der Schweiz anzubieten. Noch ist das nicht der Fall. In der Stellungnahme «Zur Praxis des Abbruchs im späteren Verlauf der Schwangerschaft» schrieb die NEK 2018, internationale Studien zeigten, dass die Möglichkeit einer palliativen Geburt für viele Frauen und Paare auch aus nachträglicher Sicht eine tragbare, bestmögliche Option darstelle.
Das Pädiatrische Palliative-Care-Team (PPC) am Inselspital in Bern gibt es seit 2018. Es hat im vergangenen Jahr zwei Familien dabei unterstützt, ihr Kind trotz einer schwerwiegenden Diagnose zur Welt zu bringen und nach der Geburt auf intensivmedizinische Massnahmen zu verzichten: die Familie von Jessica Della-Vedova und die von Mirjam Hirschi.
Simone Keller hat das PPC-Team mit aufgebaut, sie arbeitet seit 23 Jahren als Pflegefachfrau auf der Kinderintensivstation. Dort betreut sie schwerkranke Babys und Kinder, unterstützt deren Eltern und Geschwister. Die Familie Hirschi lernte sie im Frühsommer 2023 kennen, als Lielle noch nicht geboren war.
«Für mich war es etwas Neues, ein Kind zu begleiten, das noch nicht auf der Welt ist», sagt Simone Keller. «Das macht alles noch mal fragiler.»
Nach einer auffälligen Pränataldiagnose sorgen sich viele Frauen, dass ihr Kind im Mutterleib Schmerzen haben könnte. In der Neonatalogie geht man jedoch davon aus, dass der Fötus in der Gebärmutter gut geschützt ist und eine Fehlbildung ihm nicht wehtut, da der Kreislauf anders funktioniert und das Kind noch nicht selbständig atmen muss. Über Plazenta und Nabelschnur bekommt es Sauerstoff von der Mutter.
Fernrohre aus WC-Rollen
Mit ihren beiden kleinen Söhnen kaufte Mirjam Hirschi Babykleidchen und bereitete sie behutsam darauf vor, dass ihre Schwester nicht lange leben würde. Die Buben kümmerte das nicht gross, sie bastelten Fernrohre aus WC-Rollen, damit wollten sie zum Baby in den Bauch gucken.
Für sich selbst fand die 33-Jährige ein eigenes Ritual: Hier und da las sie Vogelfedern auf, die sie auf Spaziergängen zufällig entdeckte.
«Wir sind gläubige Menschen», sagt Mirjam Hirschi. «Wir wollten den Weg offenlassen für ein Wunder, das vielleicht passieren kann. Und trotzdem realistisch sein, dass der Tod zum Leben dazugehört.»

Mirjam und Marcel Hirschi mit ihren beiden Söhnen.
Für die Geburt wünschte sie sich, danach möglichst schnell wieder zu Hause zu sein. «Ich wusste ja nicht, wie lange meine Tochter noch lebt. Für mich war es wichtig, dass alle aus der Familie sie kennenlernen und wir ein bisschen Alltag mit ihr verbringen können.»
So schulte das Palliativteam des Inselspitals die Hebammen im Regionalspital in Langenthal – dort, wo Lielle zur Welt kommen würde – vor allem darin, worauf sie verzichten dürfen. «Eine palliative Geburt verläuft meist ganz still und friedlich», sagt Simone Keller. «Allein schon, weil sie ohne CTG auskommt, also ohne ständige Überwachung der Herztöne. Weil das Kind bei der Geburt auch sterben darf.»
Für ein Geburtshilfeteam, das darauf trainiert ist, das Leben eines Kindes um jeden Preis zu retten, ist diese Situation sehr ungewöhnlich. Kommt ein Baby unerwartet mit einem schweren Herzfehler auf die Welt, wird üblicherweise die komplette intensivmedizinische Maschinerie angeworfen. «Die Notfallequipe aus dem Inselspital rückt aus, holt das Kind im Regionalspital ab und bringt es auf die Intensivstation», sagt Simone Keller. «Und das oft unter viel Stress.»
Der Natur ihren Lauf lassen
Ein paar Wochen nach der Diagnose hörten Jessica und Matthias Della-Vedova zufällig von einer Hebamme, die Frauen dabei unterstützt, ihr Kind weiterzutragen, und sie darin bestärkt, abzuwarten, wie es sich entwickelt – ohne einzugreifen. Es war Anna Margareta Neff.
«Ich wünschte, wir wären direkt nach der Diagnose so begleitet worden», sagt Jessica Della-Vedova. «Statt dass man uns nur anbietet, die Schwangerschaft abzubrechen.»
Anna Margareta Neff überlegte zusammen mit dem Paar, was nach der Geburt geschehen soll: Soll es operiert werden? Sauerstoff bekommen? Eine Magensonde? Die Hebamme, die lange im Spital arbeitete, leitet heute die Fachstelle Kindsverlust. Sie berät Frauen nach einem Abbruch oder einer Fehlgeburt ebenso wie Eltern, deren Kind nach einer Geburt vermutlich sterben oder schwer beeinträchtigt sein wird.
Jessica und Matthias Della-Vedova meldeten sich im Herbst 2022 für eine ambulante Geburt im Inselspital an. Eine Operation schlossen sie aus, alles andere wollten sie nach der Geburt spontan entscheiden. «Wenn unser Kind schon stirbt, dann wenigstens in unseren Armen und nicht alleine auf der Intensivstation.»
Ihre Tochter hatte eine eindeutige Diagnose, deshalb war klar: Die Kinderärztinnen müssen nicht alle medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen. Sind die Überlebenschancen eines Kindes unklar, kommt vor der palliativen Geburt ein Team aus verschiedenen Fachdisziplinen zusammen, um die Wünsche der Eltern sowie das Kindeswohl zu besprechen.
Jessica Della-Vedova hatte sich mit dem Verlust auseinandergesetzt, aber sie fand, sie könne noch genug trauern, wenn ihre Tochter tatsächlich stürbe. Entgegen aller Statistik war sie davon überzeugt, dass ihr Kind leben würde. Bei der letzten Kontrolle im Inselspital schaute eine Hebamme die Schwangere traurig an und fragte, ob sie und ihr Mann schon Abschied genommen hätten. Jessica Della-Vedova musste lachen. «Nein», antwortete sie. «Ich freue mich darauf, sie endlich kennenzulernen.»
Die Eltern begleiten
Die Infrastruktur für eine palliative Geburt ist schweizweit sehr unterschiedlich ausgebaut. Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin hat die Praxis sowie die Rahmenbedingungen in den Schweizer Universitäts- und Kantonsspitälern untersucht und dabei festgestellt, dass nicht klar ist, inwiefern palliative Geburten in der Schweiz praktiziert werden.
In einer Stellungnahme aus dem Jahr 2018 fordert die Kommission, dass die Schwangerschaft, die Geburt sowie die Zeit danach sorgfältig geplant und von einem Team aus unterschiedlichen Fachpersonen begleitet werden, wenn das Kind schwer krank ist und eine Frau die Schwangerschaft nicht abbrechen will.
Die Eltern professionell, kontinuierlich und rechtzeitig zu unterstützen, kostet Zeit und personelle Ressourcen. Noch haben nur wenige Spitäler in der Schweiz speziell geschulte Teams oder Leitlinien für eine palliative Geburt. Viele vermitteln Paare nach einer schwerwiegenden Pränataldiagnose, einem Abbruch oder einer Totgeburt für ein Beratungsgespräch an die Fachstelle Kindsverlust, wo sie kostenlos unterstützt werden, zum Beispiel darin, eine spezialisierte Hebamme zu finden.
Zudem setzt sich die Fachstelle auch für eine fundierte Aus- und Weiterbildung aller begleitenden Fachpersonen ein und bietet selbst Schulungen an. Mit ihrem Angebot füllt sie eine Lücke in der Versorgung, ohne von staatlichen oder kantonalen Leistungsträgern finanziert zu sein. Ihre Arbeit speist sich aus Stiftungsgeldern, Spenden und Mitgliederbeiträgen.
Leidet das Kind im Mutterleib an einer schweren Krankheit, die möglicherweise dazu führt, dass es während der Geburt oder kurz danach stirbt, gibt es eine Alternative zum Schwangerschaftsabbruch: die palliative Geburt. Bei diesem Konzept begleitet ein Team aus Hebammen, Neonatologinnen, Geburts- medizinern, Pflegefachpersonen, Psychologen und Seelsorgerinnen die Eltern bereits während der Schwangerschaft. Gemeinsam mit ihnen besprechen sie die Geburt und welche palliativmedizinische Versorgung das Neugeborene bekommen soll.
Während der Geburt selbst gehört eine ruhige, störungsfreie Atmosphäre zum Wichtigsten. So gibt es etwa kein CTG (Cardiotocography), mit dem die Herztöne des Ungeborenen und die Wehen der Mutter simultan gemessen werden. Ist das Kind auf der Welt, achten Mediziner und Hebammen darauf, dass es möglichst die ganze Zeit Körperkontakt mit seinen Eltern hat, damit es die beruhigende Wärme von Mutter und Vater spürt. Oder jene von nahen Verwandten oder engen Freunden, die die werdenden Eltern auf deren Wunsch während der Geburt begleiten. Ist das Kind geboren, wird die neonatologische Betreuung nach Absprache mit den Eltern seinem Zustand angepasst. Nach der Geburt können die Eltern auf die Begleitung von Hebammen und Psychologinnen zählen oder sich mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen austauschen.
Adressen von Selbsthilfegruppen und kostenlose Beratung zur palliativen Geburt, aber auch zu Fragen, wie die verbleibende Zeit mit dem Kind gestaltet werden kann, zur Wochenbettbegleitung zu Hause oder zu Paartherapie gibt es bei der Fachstelle Kindsverlust.
Schwangere, die sich für eine palliative Geburt entscheiden, können ihr Kind im Berner Inselspital zur Welt bringen oder unterstützt vom dortigen Pädiatrischen Palliative-Care-Team (PPC), allenfalls auch in einem anderen Spital. Das PPC-Team begleitet die Eltern vor, während und nach der Geburt. Informationen: kinderklinik.insel.ch.
Die Klinik für Neonatologie am Universitätsspital Zürich bietet ebenfalls Palliative Care für Früh- und Neugeborene, die an einer unheilbaren Krankheit leiden. Eltern, die ihr Kind nach Hause nehmen möchten, können auf die Unterstützung der Palliative-Care-Abteilung des Kinderspitals Zürich und der Kinderspitex zählen. Informationen unter Klinik für Neonatologie und Kispi.
Auch das Kinderspital St. Gallen und das Universitäts-Kinderspital beider Basel, UKBB, begleiten Familien mit einem Kind, das an einer komplexen chronischen oder weit fortgeschrittenen Krankheit leidet, die lebensverkürzend sein kann. Am Kinderspital St. Gallen unterstützen die Expertinnen und Experten des Pädiatrischen Advanced-Care-Teams die Eltern, am UKBB sind es die Medizinerinnen und Mediziner der Pädiatrischen Palliative Care.
An einem Sommerabend um 21 Uhr setzten bei Mirjam Hirschi die Wehen ein. Zwei Stunden später fuhr sie mit ihrem Mann ins Spital. Dort stieg sie in die Wanne, und noch bevor das Wasser komplett eingelassen war, kam um 23.34 Uhr ihre Tochter Lielle Anne auf die Welt. Ihr Mann nahm ein Video auf, ihre Schwester durfte Fotos im Gebärsaal machen. Sie selbst schaute als Erstes, ob es tatsächlich ein Mädchen ist. Dann hoffte sie, dass ihr Kind anfangen würde zu atmen. «Das waren sehr lange Sekunden.»
Ihre Tochter lag auf ihrer Brust, sie brauchte keine Unterstützung beim Atmen. Im Spital fanden weder Kontrollen noch Untersuchungen statt. Früh am nächsten Morgen fuhren die Eltern mit ihrer Tochter nach Hause. Die Buben schliefen noch. Als sie aufwachten, wollten sie ihre kleine Schwester sofort berühren, wickeln und anziehen.
«Wir haben ihnen vor der Geburt erklärt, dass Lielles Herz krank ist und wir nicht wissen, wie lange sie leben würde.» Von Anfang an redeten die Eltern mit ihren Söhnen offen darüber, was es heisst, wenn jemand stirbt. Zum Beispiel, dass das Herz dann aufhört zu schlagen. «Wir haben auch Kinderbücher über den Himmel angeschaut», erzählt Mirjam Hirschi, «für uns geht das Leben nach dem Tod weiter.»
Noch am selben Morgen kam erst die Familie von Marcel Hirschi in das Einfamilienhaus in Langenthal, nach und nach trafen auch Mirjam Hirschis vier Schwestern mit ihren Kindern ein. Auch die Nachbarn, die das Neugeborene kennenlernen wollten, durften auf einen Besuch vorbeikommen.
Lielle trug eine bunte Blümchenhose und ein passendes Stirnband, immer war sie bei jemandem auf dem Arm, zwischendurch schlief und trank sie. Eine Kinderpastorin segnete das Mädchen, eine Fotografin kam und machte Bilder. Man sah der Kleinen am ersten Tag nicht an, dass sie schwer krank ist.
Die Atemnot beginnt
Am zweiten Tag hörte eine Hebamme das Herz ab. Lielles Gesicht war ein wenig gelblich, und sie hatte Blähungen, aber das haben Neugeborene oft. Am Abend dann wurde sie sehr blass und in der Nacht begann die Atemnot. Die Kleine lag bei Mirjam Hirschi auf der Brust, sie atmete viel zu schnell. Ihr Mann schickte dem Palliativteam des Inselspitals mitten in der Nacht ein Video.
Die Pflegefachfrau Simone Keller riet den Eltern, ihrer Tochter Morphintropfen in den Mund zu träufeln und sie in engem Körperkontakt zu halten. Sie telefonierte mit der Hebamme in Langenthal, die kam sofort und gab Lielle die Tropfen. Mirjam Hirschi war erleichtert, das nicht selbst machen zu müssen. Danach beruhigte sich die Kleine ein wenig. «Das war das letzte Mal, dass sie an meiner Brust getrunken hat.»
Am nächsten Morgen wirkte die Haut von Lielle bläulich, rötlich und blass marmoriert. Das Palliativteam kam zur Familie Hirschi nach Hause und zeigte den Eltern, wie sie den Mund ihrer Tochter mit abgepumpter Muttermilch befeuchten und die Kleine am besten halten können, damit ihr das Atmen leichter fällt.
Mirjam Hirschi hatte ihre Tochter dicht bei sich und spürte plötzlich, wie bei Lielle das erste Mal der Atem aussetzte. Sie erschrak. «Ist das jetzt der Moment, in dem sie stirbt?»
Kurz darauf fing ihre Tochter wieder an zu atmen. Beim Wickeln öffnete sie noch einmal die Augen. Wenige Minuten später holte sie ein letztes Mal Luft und hörte schliesslich ganz auf zu atmen.
«Wir hatten nicht das Gefühl, dass sie leidet. Ihr Gesicht war entspannt, sie hat sich aufs Atmen konzentriert, hat nicht geweint. Sie hatte auch gar keine Kraft mehr dazu.»
Sterben ohne Schmerzen
Den Moment, in dem ihr Kind stirbt, fürchten Eltern am meisten. Sie haben Angst davor, zusehen zu müssen, wie ihr Kind starke Schmerzen hat oder erstickt – ohne dass sie etwas dagegen tun können.
Nach heutigem Wissensstand handelt es sich bei einer Schnappatmung am Lebensende nicht um ein Ersticken, sondern um den natürlichen Sterbeprozess, wenn der Körper die Atmung nach und nach verlangsamt, um sie dann ganz einzustellen.
Eine Untersuchung, die der Neonatologe und Palliativmediziner Lars Garten zusammen mit der psychosozialen Elternberaterin Kerstin von der Hude in der Neonatologie der Berliner Charité machte, zeigte, dass Neugeborene, die noch im Gebärzimmer sterben, selten bis nie Schmerzmedikamente brauchen.
Das liegt daran, dass Wehen durch eine hohe Konzentration des Hormons Oxytocin ausgelöst werden, was der Frau hilft, die Geburtsschmerzen besser auszuhalten. Gleichzeitig werden im kindlichen Organismus hohe Dosen von Vasopressin, einem körpereigenen Hormon, freigesetzt. Stirbt das Kind unmittelbar nach der Geburt, lindert Vasopressin die Schmerzen und beruhigt zugleich.
Hat ein unheilbar krankes Neugeborenes dennoch Schmerzen, geben Palliativmediziner beziehungsweise Neonatologinnen ihm Morphintropfen oder Fentanyl als Nasenspray. Dabei achten sie auf eine möglichst geringe Dosierung, um die wenige Zeit, die den Eltern mit dem Neugeborenen bleibt, nicht noch weiter zu verkürzen.

Lielle Anne Hirschi sah man am Tag der Geburt nicht an, dass sie schwer krank ist.
«Wenn das eigene Kind stirbt, braucht man Begleitung», sagt Mirjam Hirschi. Die Hebammen und das Palliativteam wechselten sich in Langenthal ab, auch Mirjam Hirschis Schwestern waren die ganze Zeit über da. Die eine nahm Fussabdrücke von Lielle, die anderen bemalten mit den Buben einen winzigen Sarg und überlegten zusammen mit ihnen, was sie der Schwester mitgeben könnten.
Die Nachbarin brachte zweimal das gleiche Kleidchen für Lielle – eines, das sie im Sarg tragen konnte, und eins zur Erinnerung. Mirjam Hirschi schnitt ihrer Tochter ein paar dunkle Haarsträhnen ab. Die Nachbarskinder durften mit dem verstorbenen Baby im Kinderwagen noch eine Runde durch die Siedlung drehen.
Eine Woche behielten sie den Leichnam nach dem Tod bei sich zu Hause, die Schweizer Behörden seien in solchen Fällen kulant, sagt Anna Margareta Neff von der Fachstelle Kindsverlust. Eltern hätten auch das Recht, ihr verstorbenes Kind aus dem Spital mit nach Hause zu nehmen.
Mirjam und Marcel Hirschi wollten, dass ihre Buben erleben, wie sich der Körper ihrer kleinen Schwester verändert, wie er erkaltet, wie die Lippen bläulich werden und sich die winzigen Fingernägel lila verfärben. Es sehe aus wie Nagellack, fanden sie.
Für Mirjam Hirschi war es wichtig, diesen Prozess mitzuerleben. An einem Morgen lief dem toten Kind Blut aus der Nase. «Da war für mich klar: Jetzt will ich sie nicht mehr zu Hause haben.» Zwei Tage später wurde Lielle beerdigt.
Die Geburt von Rosa
Als die Tochter von Jessica und Matthias Della-Vedova geboren wurde, verlief vieles anders, als es die Ärzte erwartet hatten. Rosa kam an einem dunklen Winterabend in einem komplett stillen Gebärsaal auf die Welt. Sie wog 2340 Gramm, lag an der Brust ihrer Mutter und entleerte erstmal Blase und Darm. Ihr Herzschlag war schwach, Atemnot hatte sie nicht, auch sonst wirkte sie stabil.
Am nächsten Morgen gingen die Eltern mit Rosa nach Hause. Keine Stunde später kam die Hebamme Anna Margareta Neff dazu. Sie fragte: «Habt ihr schon ein Foto gemacht zu dritt? Sonst machen wir doch jetzt gleich eins.» Sie erlebt oft, wie wichtig es für die Eltern sein kann, ein Foto zu haben von den letzten Momenten, in denen das Kind noch lebte.
Anna Margareta Neff ist seit zwanzig Jahren Hebamme, doch die ersten Tage von Rosa waren auch für sie sehr emotional. «Ich war wie die Eltern in einem Notfallmodus. In den ersten Stunden und Tagen habe ich immer gedacht, jetzt stirbt sie gleich.» Aber die Kleine kämpfte.
Drei Wochen schlief sie in einem Bonding-T-Shirt auf der Brust ihrer Mutter. Der Körperkontakt regulierte Rosas Herzschlag und ihre Atmung. Und die Körpertemperatur der Mutter wärmte das Neugeborene, so konnte es seine Energie für andere lebenswichtige Funktionen sparen.

Jessica und Matthias Della-Vedova mit ihrer Tochter Rosa.
Jessica Della-Vedova gab die Nähe zu ihrem Kind Sicherheit. «Es war sehr schön zu spüren, sie ist da, ihr Herz schlägt tatsächlich. So wusste ich, dass ich es merken würde, wenn sie nicht gut atmet.»
Aber Rosa atmete und trank – wenn auch nur langsam und in winzigen Mengen. Aufgrund der Trisomie 18 hatte sie einen Herzfehler, das Trinken strengte sie sehr an. Als das Neugeborene nur spärlich zunahm, mussten die Eltern eine schwierige Entscheidung treffen. Das Palliativteam des Inselspitals unterstützte sie dabei.
«Wir haben überlegt, die Muttermilch mit zusätzlichen Kalorien anzureichern, damit sie keinen Hunger hat», erzählt Simone Keller. Aber mehr Körpergewicht bedeutet auch, dass das kleine Herz mehr pumpen muss – und das vielleicht gar nicht leisten kann.
Jessica und Matthias Della-Vedova entschieden sich auch in dieser Situation wieder, auf ihre Tochter zu vertrauen: «Sie wird uns zeigen, wie lange sie leben möchte.»
Die Intensivpflegerin Simone Keller hat Respekt vor Familien, die sich diesem natürlichen Verlauf stellen – und damit einem Auf und Ab von heftigen Gefühlen, weil alle paar Tage existenzielle Entscheidungen getroffen und wenig später eventuell wieder korrigiert werden müssen. «Da hat man sich lange mit dem Tod dieses Kindes auseinandergesetzt, dann kommt es auf die Welt und plötzlich merkt man: Jetzt müssen wir alles wieder umplanen. Das braucht Stärke und Offenheit», sagt Simone Keller.
Eine «palliative Geburt» heisst nicht zwangsläufig, dass ein Neugeborenes tot zur Welt kommt oder kurz nach der Geburt stirbt. Manchmal haben Familien auch noch Wochen, Monate oder sogar Jahre mit ihrem Kind.
In Simone Kellers Büro im Inselspital hängt ein Monatskalender an der Wand. Sie trägt darin die Geburtstage der schwer- kranken Kinder ein, die sie gepflegt hat. Gerade ist das Blatt vom Dezember offen, am 20. steht der Name von Rosa. «Morgen hat Rosa Geburtstag, dann wird sie ein Jahr alt», sagt Simone Keller und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Nur wenige Monate später, im Frühling 2024, muss sie auch dieses Kind gehen lassen.
Dieser Text erschien im Januar 2024 erstmals im Online-Magazin «Republik».



