Es ist Weihnachten 2017, als Peter Hosslis Schwiegervater ihm von einem Mord erzählt, der sich in den 1950er Jahren in der Region Baden ereignet hat.
Ein junges Liebespaar will nach Amerika abhauen und benötigt Geld. Er: Max Märki, Gipser aus Mönthal, 25, bereits verheiratet und Vater von drei Kindern. Sie: Ragnhild Flater, 20, aus Røyken in Norwegen, Hilfsköchin in Luzern und schwanger von Max. Max inseriert ein Auto zum Verkauf, das er nicht besitzt. Preis: 4000 Franken, nur in bar.
Als Max und Ragnhild am 19. Oktober 1957 in Baden mit dem potenziellen Käufer Peter Stadelmann in ihr Auto steigen, nimmt das Drama seinen Lauf. Aus dem geplanten Raub wird ein Mord. Danach wirft Max Märki den Vertreter Peter Stadelmann von einer Brücke in die Reuss, wo er ertrinkt. Der Pathologe wird Monate später am Schädel der Leiche fünfzehn unterschiedlich tiefe Wunden zählen, einige reichen bis auf die Knochenhaut.
Den Journalisten Peter Hossli, selber im Aargau aufgewachsen, lässt die Geschichte nicht mehr los. Er beginnt zu recherchieren und will Zugang zu den Gerichtsakten. Das Staatsarchiv des Kantons Aargau lässt ihn wissen, dass solche bis achtzig Jahre nach dem letzten Eintrag unter Verschluss bleiben. Der letzte Vermerk stammt aus dem Jahr, als Max Märki aus dem Zuchthaus entlassen wurde: 1972.
Peter Hossli, geboren 1969, wuchs in Obersiggenthal im Kanton Aargau auf. Er studierte Geschichte und Filmwissenschaften an der Universität Zürich und an der New York University. Lange Zeit berichtete er als Korrespondent aus den USA; heute arbeitet er als Journalist, unter anderem für die «NZZ am Sonntag» und als Produzent und Moderator für SRF-«Club». 2018 erschien sein Buch «Die erste Miete ging an die Mafia. Was ich bin: Reporter». Hossli lebt in Zürich.
Die Staatsarchivarin in Aarau bestellt Hossli: Wenn er belegen könne, dass Max Märki seit mehr als zehn Jahren tot sei, würde er Zugang zu den Akten erhalten. Über seinen ehemaligen Deutschlehrer findet Hossli zu einem pensionierten Kantonspolizisten, der wiederum den Kontakt zu Kurt Märki herstellt. Das ist der Bruder von Max. Er bestätigt Hossli, dass Max seit 1996 tot ist. Mit dem Totenschein und einer Fotografie des Grabsteins gelangt der Reporter an das Obergericht. Die Akten werden freigegeben. Einzige Bedingung: Er dürfe die sechs Bundesordner, 1500 Seiten, weder kopieren noch scannen oder fotografieren, sondern nur vor Ort begutachten. Als Grund wird der Schutz von Persönlichkeitsrechten genannt.
Hossli verbringt einen ganzen Sommer lang damit, von Hand über 1000 Seiten abzuschreiben. Polizeiberichte, Befragungen der Verdächtigen, Liebesbriefe. Irgendwo zwischen den Akten entdeckt er eine gepresste Blume. Ragnhild liess sie in die Zelle von Max schmuggeln.
Herr Hossli, gleich zu Beginn Ihres Buches schildern Sie detailliert, wie Max Märki und seine Geliebte Ragnhild Flater dem Leben des Vertreters Peter Stadelmann ein Ende setzen. Warum haben Sie der Tat so viel Platz eingeräumt?
Tatsächlich überlegte ich einen kurzen Moment, den Mord auf wenigen Buchseiten abzuhandeln. Aufgrund der Akten entschied ich mich, die Tat ausführlicher zu beschreiben. Max und Ragnhild sind mehrfach von Polizisten und später von Psychiatern und dem Untersuchungsrichter über die Ereignisse am Tatabend befragt worden. Diese Gespräche lagen fein säuberlich protokolliert vor. Es war, als würde ich über das Filmmaterial mehrerer Kameras verfügen, die aus unterschiedlichen Perspektiven den Mord filmten. So wusste ich genau, was sich in den 25 Minuten Tatzeit ereignete. Zumal die Aussagen sich nicht widersprachen, sondern das Bild vervollständigten.
Sie reichern nüchterne Fakten mit Zitaten von Max und Ragnhild an, zusätzlich nennen Sie atmosphärische Elemente wie die Innenbeleuchtung des Citroëns. Dank ihr konnte Max erkennen, wo an Stadelmanns Kopf er mit dem Wagenheber einschlug.
Das Beispiel mit der Beleuchtung zeigt, wie mit Fakten eine dramatische Szene geschaffen werden kann. Ich fügte nichts hinzu, das nicht schon da war. Max und Ragnhild gaben zu Protokoll, was sie gedacht und zueinander gesagt haben. Nur an einer Stelle musste ich mich für eine von zwei Quellen entscheiden: Um herauszufinden, wie die Leiche den Fluss hinuntertrieb, warfen die Behörden eine Puppe so schwer wie ein Mann in die Reuss. In der Aargauer Akte stand, dass jene an einer Schweineblase befestigt war, damit sie nicht unterging. Die Zürcher Kollegen notierten, dass es ein Ballon war. Ich entschied mich für die Aargauer Version, da mir die Schweineblase als Bild besser gefiel.
«Für Max war sein Hund die erste Liebe seines Lebens. Die Stiefmutter wollte ihn weggeben. Daraufhin tötete Max den Hund. Das Töten als Erfahrung muss sich irgendwo in seiner Kinderpsyche eingenistet haben.»
Max und Ragnhild planten einen Raub und ermordeten am Ende einen Menschen. Wie konnte es so weit kommen?
Eine einfache Antwort gibt es nicht. Der Plan, Stadelmann mit dem Wagenheber bewusstlos zu schlagen und auszurauben, lief früh aus dem Ruder. Ragnhild verfuhr sich und bog in eine Sackgasse ein, mit Stadelmann auf dem Beifahrersitz, Max und ein Schäferhund auf der Rückbank. Dass in diesem Augenblick Panik aufkam, wie beide berichteten, scheint plausibel. Max schlug ein erstes Mal mit dem gusseisernen Wagenheber auf Stadelmann ein. Als der nicht bewusstlos wird, schlägt er nochmals zu, immer wieder.
Eine regelrechte Gewaltorgie nahm ihren Lauf. Sie in allen Details zu lesen ist schwere Kost.
Die Gewalt ist schwierig auszuhalten. Ich habe versucht zu zeigen, dass es nicht einfach ist, einen Menschen zu töten. Menschen entwickeln in Not einen starken Überlebenswillen. Jemanden ein bisschen bewusstlos schlagen und ausrauben, das funktioniert vermutlich nicht. Max und Ragnhild gingen naiv an die Sache heran. Ihr Plan war der Fiktion entnommen und hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Dass Stadelmann lange Zeit nicht zu Boden gehen würde, darauf waren sie nicht vorbereitet.
Die meisten Menschen hätten spätestens nach dem ersten Schlag vom Opfer abgelassen und erkannt, dass der Plan nicht funktioniert. Nicht so Max. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Max hatte vor der Tat noch nie einen Menschen absichtlich verletzt. Dann tat er es. In wenigen Minuten und auf brutale Art. Mir erschloss sich das erst, als ich mich mit seinem Leben befasste. Die Lebensläufe, die Max und sein Bruder Kurt in Untersuchungshaft verfassen mussten, berühren mich. Im Alter von drei Jahren wurde Max von seiner Mutter wortwörtlich stehen gelassen. Er und sein Bruder wuchsen bei seinem Vater auf, Gewalt und Geldnot prägten den Alltag. Bis ins Jugendalter waren beide Buben Bettnässer. Hinzu kam eine Stiefmutter, die Max als Kind aufs schlimmste abwertete. So behauptete sie beispielsweise, dass seine Hoden zu klein seien. Das alles zu lesen hat mich sehr betroffen gemacht. Kinder im Arbeitermilieu der 1950er Jahre waren Härte und Brutalität ausgesetzt.
Aber längst nicht alle wurden zum Mörder.
Bei Max kam vieles zusammen. Der Zeitpunkt, als der Raub ausser Kontrolle geriet, war wohl der Schlüsselmoment. Max erlebte einen Kontrollverlust, mit bekannten Folgen. Selbstkontrolle ist in der menschlichen Evolution wichtig. Wir bringen uns gegenseitig nicht mehr um, aber wir könnten es – und einige wenige tun es. Selbst wenn man sich das nicht vorstellen kann, wie Max später immer wieder beteuerte.
Eine verstörende Szene ist, wie er als Bub seinen Hund, den er über alles liebte, erschoss.
Sein Bruder Kurt erzählte mir, dass bei Max in diesem Moment etwas kaputtging. Einen Hund zu erschiessen ist keine leichte Sache. Ich könnte das nicht. Das Töten als Erfahrung muss sich also irgendwo in seiner Kinderpsyche eingenistet haben. Für Max war der Hund die erste Liebe seines Lebens. Die Stiefmutter wollte ihn weggeben. Daraufhin tötete Max den Hund.

Recherche vor Ort: Peter Hossli auf der Brücke zwischen Birmenstorf und Mülligen im Kanton Aargau, wo Max Märki am Abend des 19. Oktober 1957 den noch lebenden Vertreter Peter Stadelmann über das Geländer in die Reuss wirft.
Sie verzichten im Buch weitgehend auf Interpretation und Wertung. Darum die Frage: Was war Max für ein Mensch?
Getroffen habe ich Max nie, ich kenne ihn einzig aus den Akten. Max war intelligent, arm und kämpfte gegen das Gefühl an, nicht männlich genug zu sein. Aber das ist ein unvollständiges Bild. Max war ein aufrichtiger Mensch, der es nicht geschafft hat, aufrichtig zu leben. Dabei hatte er das Bedürfnis gehabt, das Richtige zu tun. Sein Leben war ein ständiges Versuchen gewesen, das im Scheitern endete.
Wo zeigte sich das?
Max war ein richtig guter Gipser. Das reichte ihm aber nicht, weshalb er ein Geschäft gründete. Leider war er ein schlechter Geschäftsmann und ging konkurs. Oder sein Rang im Militär als Unteroffizier und damit verbundene Kontakte: Das war ihm wichtig. Nach dem Konkurs verlor er den Grad. Seine erste Ehe muss in seinen Augen ein Scheitern gewesen sein. Er wollte eine Familie gründen und ein guter Vater sein. Sein endgültiges Scheitern war der Mord. Nach der Tat war er schlicht überwältigt von der Tatsache, dass er fähig gewesen war, einen Menschen zu töten.
«Max wurde für seine Konfession gehänselt. Arm und der falschen Konfession zugehörig – heute würde man von doppelter Diskriminierung sprechen.»
Eine Woche nach der Tat setzte sich Max am Sonntag in den Gottesdienst. Er, der nicht an Gott glaubte, wie er sagte. Ist das die vielzitierte Not, die beten lehrt?
Er war in Not und suchte nach Auswegen, keine Frage. Auch fühlte er sich angesprochen, als der Pfarrer zu jenen predigte, die an Gott zweifelten. Denn die Tat war für ihn der Beweis, dass es Gott nicht gibt. Gäbe es ihn, dann hätte er nicht zugelassen, dass er Stadelmann tötete.
Bevor er sich der Polizei stellte, suchte Max den Kontakt zu einem Theologen.
Von ihm wollte er wissen, ob Gott tatsächlich so barmherzig sei, wie es in der Bibel steht. Ihn interessierten die Fragen, ob er einem gläubigen Mörder verzeihen könne, ob Gebete helfen könnten, damit er nicht erwischt werde.
Für einen, der nicht an Gott glaubt, beschäftigte er sich sehr stark mit ihm. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die Akten ermöglichen keine Aussage dazu. Dokumentiert ist, dass die reformierte Familie Märki im katholischen Kirchdorf auffiel. Max wurde für seine Konfession gehänselt. Arm und der falschen Konfession zugehörig – heute würde man von doppelter Diskriminierung sprechen. Durch die klassische landeskirchliche Sozialisierung dieser Zeit kam Max mit der Bibel und der Frage nach Gott in Berührung. Ich interpretiere sein religiöses Suchen nach der Tat als Versuch, das Geschehene zu bewältigen. Klar ist: Als er aus dem Gefängnis kommt, hat er sich von Gott abgewandt. Im Gegensatz zu seinem Bruder, ein gläubiger Mensch.
Gläubig war Ragnhild. In der Untersuchungshaft schrieb sie Max vor Weihnachten einen Brief, darin das gesamte Vaterunser. Sie bat ihn, zeitgleich mit ihr das Gebet an Heiligabend um 21 Uhr, nach dem letzten Glockenschlag, aufzusagen.
Tatsächlich waren zu Beginn der Haftzeit bei beiden moralische und religiöse Fragen präsent. Sie sprachen davon, nicht nur für die eigene, sondern auch für Stadelmanns Familie zu beten. Max richtete sich stark auf Ragnhild aus. Max liebte diese Frau unsterblich. Für sie hat er alles stehen lassen und in Kauf genommen, dass seine Familie daran zerbrechen wird. Wahrscheinlich gibt es nur eine solche Liebe im Leben – und Max hatte sie gefunden. Er schreibt ihr Briefe und malt sich aus, wie die gemeinsame Zukunft sein wird und wie er sich nach ihr sehnt. Max war ein ehrlicher Mensch. Eine Tugend, die für mich ein Geschenk war.
Wie meinen Sie das?
Die Ehrlichkeit von Max fand Eingang in die Akten. Auf jedem Protokoll steht sinngemäss gleich zu Beginn: Derjenige, der jetzt interviewt wird, weiss, dass, wenn er nicht die Wahrheit sagt, er dafür bestraft wird. – Die Aussagen, die Max unter Eid machte, ermöglichten mir wahrhaftige Einblicke in sein Innenleben.
Nach acht Jahren Gefängnis stellte Ragnhild plötzlich den Briefkontakt zu Max ein. Die Liebe sei erkaltet, schreiben Sie. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Ragnhild hatte grosse Gefühle für Max und erwiderte seine. Einmal zertrümmerte sie in ihrer Zelle Geschirr, nur weil sie keinen Brief von ihm erhielt. Meine Vermutung ist, dass sie zum Kontaktabbruch gedrängt wurde. Ich fand in den Akten Hinweise, allerdings keine eindeutigen. Ragnhild kam 1967 aus dem Gefängnis, ging nach Norwegen zurück und heiratete bereits ein Jahr später, 1968. Mehr weiss ich leider nicht. Trotz intensiven Bemühungen konnte ich nicht herausfinden, ob sie noch lebt.
Woher stammt Ihre Faszination für das Leben von Max Märki?
Ich habe kein besonderes Faible für kriminelle Energie oder Verbrechen. Sehr vertraut ist mir die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Ort – und der Wunsch, das eigene Gepäck, das schwer wiegt, zurückzulassen. Ich wuchs nicht in Armut auf und erlebte nicht jene Gewalt, die Max widerfuhr. Mein Gepäck war mein Vater, ein Alkoholiker. Als sich die Möglichkeit ergab, verliess ich die Schweiz und ging nach Amerika. Die Geschichte von Max Märki ist im Kern keine typisch schweizerische, sondern eine universelle.

Ein Mord als Stoff für den Konfirmationsunterricht: Als die 14- und 15jährigen Buben und Mädchen vom Mord an Peter Stadelmann und vom Geständnis des Mörders Max Märki hören, bitten sie den Pfarrer, statt über Christus über den Mord zu reden. Zwei Stunden diskutieren sie über das Opfer, den Täter und die Täterin, danach schreibt eine Konfirmandin einen Brief an Max.
Sie beschreiben meisterhaft das Leben in der Schweiz der 50er Jahre. Ein beklemmendes Zeugnis.
Ich wusste nicht viel über dieses Jahrzehnt, dementsprechend interessiert war ich. Von der Trostlosigkeit war ich überrascht. Die Menschen harrten in der Nachkriegszeit aus, es herrschte viel Gewalt in den Familien der Arbeiterschicht, und die gesellschaftliche Freiheit war weit und breit nicht in Sicht. Der verklemmte Umgang mit der Sexualität zeugt davon: Niemand redete darüber, aber alle hatten Sex, weil er oft das einzige war, was man sich leisten konnte. In der Folge wurden viele früh Eltern, so wie Max. Geheiratet wurde dann nicht der Liebe wegen. Die Alternative war, illegal und ohne medizinische Hilfe eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Kurz: Es war ein Jahrzehnt, das die Menschen durchseuchen mussten. Nicht ohne Grund wurde die Handlung des Films «Mein Name ist Eugen» in die 60er Jahre verlegt, obschon das Buch in 50er Jahren geschrieben wurde.
Nach allem, was Sie über Max wissen: Würden Sie mit ihm befreundet sein wollen?
Das ist schwierig zu sagen. Was ich sagen kann: Während meiner Recherche habe ich ihn gernbekommen. Als Max am 17. November 1972 vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, hiess es: Max sei ein Mustergefangener, der Reue und Einsicht zeige und sich mit seiner «innerlich gereiften und gefestigten Persönlichkeit» in Freiheit behaupten werde. Soviel ich weiss, liess sich Max bis zu seinem Tod nichts mehr zuschulden kommen.

Reporter Peter Hossli im Stadtturm von Baden, der bis 1985 auch als Bezirksgefängnis genutzt wurde. Max Märki verbrachte hier den ersten Teil der Untersuchungshaft.

Prozessbeginn: Max Märki wird in das Gerichtsgebäude Aarau geführt.

Ragnhild Flater, Mittäterin im Mordfall Stadelmann und Geliebte von Max Märki.

Ein Polizist führt Ragnhild Flater zum Aarauer Gericht.
Peter Hossli: «Revolverchuchi. Mordfall Stadelmann». Zytglogge, Basel 2020; 236 Seiten, 34 Franken.