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Autorin: Jana Avanzini
Illustration: Ingeborg Schindler
Freitag, 11. Oktober 2024

Der Schauplatz ist düster. Eine von Dämonen verseuchte Welt voller Feuer, in der du der letzte Funken Hoffnung bist. Hier taucht Lilith auf: Aus ihrem Kopf wächst eine knöcherne Hörnerkrone, ihre Augen sind blutunterlaufen, auf dem schmalen, schönen Gesicht zeichnen sich Adern ab. Lilith greift dich mit ihren Flügeln an.

Sie bringt eine Feuerlinie hervor oder eine Welle aus Stacheln, die tödlichen Schaden verursachen kann. Du kannst Liliths Stachelwellen ausweichen oder dich hinter sie stellen, wenn es deine Position zulässt. Willst du den Feuerlinien entfliehen, lauf in einem grossen Kreis von ihr weg. Du spielst Diablo IV. Altersfreigabe 16 Jahre.

In diesem Action-Rollenspiel, erstmals 1997 veröffentlicht, geht es um die Befreiung der Welt vom mächtigen Dämon Diablo. Die Spielerinnen durchstreifen Labyrinthe, in denen sie Monster bekämpfen müssen, um schliesslich gegen Diablo selbst anzutreten. Die Dämonenkönigin Lilith ist dabei eine der wichtigsten und interessantesten Figuren. Sie ist die Tochter von Mephisto und damit die Nichte von Diablo selbst.

Gemeinsam mit ihrem Geliebten Inarius erschuf sie eine eigene Welt, einen Ort für ihre vielen Kinder, fern und ausserhalb der Kontrolle von Himmel und Hölle. Doch sowohl Engel als auch Dämonen fühlten sich von diesem Ort und Liliths Kindern bedroht und töteten diese. Worauf Lilith schwor, Himmel und Hölle zu zerstören.

In Fantasy-Games wie Diablo ist Lilith beliebt als Gegenspielerin des Dämons. Doch wer ist Lilith abgesehen von düsteren Computergames? Ein Dessous-Geschäft im zürcherischen Rüti heisst so, eine Familienberatung und ein Tangaslip der Marke Hunkemöller. Lilith ist die kleine Tochter von Freunden in Köln und eine bekannte Transfrau aus Pakistan. «Wer ist Lilith?», fragt auch Dr. Faust in Goethes Drama seinen Begleiter Mephisto, und der antwortet ihm: «Adams erste Frau.»

Die ersten Frauen

Adams erste Frau? So steht das nicht in den überlieferten Texten, die in der heutigen Version der Bibel zu lesen sind. Da ist Eva die erste Frau – aus Adams Rippe erschaffen. Doch nimmt man sich ältere heilige Schriften vor, gibt es noch ein paar andere Erzählungen – und eine Vorgeschichte.

Die ersten Belege einer Lilith, dreitausend Jahre vor Christus, finden sich im sumerischen Epos «Gilgamesch, Enkidu und die Unterwelt». Die Sumerer, das als erste Hochkultur bekannte Volk aus Mesopotamien, kannten zwei weibliche Windgeister – Lilitu und Ardat-Lili –, die bekannt dafür waren, insbesondere Männer anzugreifen.

Auch die Göttinnen-Darstellung auf dem bekannten Burney-Relief aus dieser Zeit wird mit Hinweis auf Gilgamesch als Lilith gedeutet. Das Relief zeigt eine nackte, junge Frau mit vierfacher Hörnerkrone. Ebenso im Talmud, einem der bedeutendsten jüdischen Schriftwerke, ist Lilith erwähnt. Im babylonischen Talmud wird davon berichtet, dass sie eine geflügelte Dämonin mit langen Haaren sei, die in der Nacht lauere und allein schlafende Männer aufsuche, um sie zur Masturbation zu verführen.

In der biblischen Schöpfungsgeschichte taucht Lilith ebenfalls auf, im Alten Testament im Buch Jesaja. Hier wird in einer prophetischen Rede geschildert, wie unheimliche und gefährliche Tiere die Ruinen Edoms bevölkern und diese unbewohnbar machen. Einzig Lilith solle hier rasten. Wer diese Lilith ist, weshalb sie in den Ruinen zu finden ist und was sie dort zu suchen hat, wird nicht klar.

Die Gleichberechtigung

Richtig spannend wird es für Lilith Ende des zweiten Jahrhunderts nach Christus. In Ben Sira, einem komplexen, anonym verfassten hebräischen Text, steht, dass Adam vor Eva eine andere Frau hatte: Lilith. Die verstorbene jüdische Mediävistin und Feministin Marianne Wallach-Faller schrieb 1992 in ihrer Auslegung der Schriften zu Ben Sira: «Am Anfang schuf Gott Adam und Lilith aus dem Staub der Erde und blies ihnen den Lebensatem ein. Da sie beide gleich erschaffen worden waren, waren sie einander in jeder Hinsicht gleichgestellt.»

Doch Adam habe das nicht gepasst, er verlangte von Lilith, dass sie sich ihm unterordne. «Lilith weigerte sich», schreibt Wallach-Faller, «sie rief Gottes heiligen Namen an und flog weg. Sofort beklagte sich Adam darüber bei Gott. Gott schickte drei Boten zu Lilith, um sie zur Rückkehr aufzufordern. Sonst werde sie bestraft. Lilith aber wollte nicht mit einem Mann zusammenleben, der sie nicht als Gleichgestellte behandelte, und sie beschloss, dort zu bleiben, wo sie war.»

Im Volksglauben, besonders in der Kabbala, galt Lilith als Gefahr für Mütter und Neugeborene.

Kathrin Trattner, Theologin mit den Forschungsbereichen rabbinische Literatur und Religion und Games, schreibt in der Wiener Tageszeitung «Der Standard»: «Ihr Ungehorsam blieb nicht ungestraft: Fortan sollen jeden Tag hundert ihrer dämonischen Kinder sterben.» Als Vergeltung dafür wandert Lilith durch die Nacht, sucht Frauen heim, die eben ein Kind geboren haben, und tötet die Neugeborenen, täglich hundert Bébés. Sie ist eine Kindsmörderin und eine Männerverführerin. So beschreibt sie Trattner «als Dämonin der Masturbation – kurzum, Lilith ist alles, was unrein ist».

Was bei Wallach-Faller etwas untergeht, ist die sexuelle Ebene der «Gleichstellung», die in vielen Midraschim und anderen Auslegungen von Liliths Geschichte eine grosse Rolle spielt. Kathrin Trattner zeichnet das Bild einer Frau, die die gleichen Rechte forderte, die Adam hatte. Und die sich auch beim Sex nicht unterordnen, sondern die aktive Position einnehmen wollte. «Womit Adam jedoch gar nicht einverstanden war.»

Für Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz ist Lilith eine symbolische Figur. In seinem Buch «Der Lilith-Komplex» über Mütterlichkeitsstörungen nennt er Lilith auch «die dunkle, die verleugnete Schwester Evas». Adams erste Frau stehe für Sexualität, Lust und Selbstbestimmung. Sie symbolisiere Ebenbürtigkeit mit ihrer Weigerung, beim Sex unter Adam zu liegen. «Sie wollte selbst aktiv das Liebesspiel mitbestimmen.»

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Die deutsche Literaturwissenschaftlerin Irmgard Roebling fasst Liliths Geschichte folgendermassen zusammen: «Überblickt man das in religionsgeschichtlicher und religionspsychologischer Forschung gesammelte Wissen, so zeigen sich drei Phasen in der Lilith-Tradition, die allerdings vielfältig miteinander verschränkt sind.»

Mal ist Lilith eine hochsexualisierte ambivalente Muttergottheit sumerisch-babylonischer Herkunft, mal eine böse würgende und männerverführende Dämonin in der jüdisch-mosaischen Kultur und schliesslich, in den nebenbiblischen Schriften der jüdischen Kabbala und der rabbinischen Midraschim, Adams erste Frau.

Die erste Feministin

Im Volksglauben, besonders in der Kabbala, galt Lilith als Gefahr für Mütter und Neugeborene. Amulette und Zaubersprüche versprachen Schutz vor der Dämonin. Im Zuge der Hexenverfolgung dann wurde sie auch zu einer Begleiterin der Göttin Hulda – auch bekannt als Frau Holle aus Grimms Märchen.

Seit dem frühen 19. Jahrhundert findet langsam eine Versöhnung mit der dämonisierten Figur Lilith statt. Schon bevor Goethe Lilith im Faust erwähnt hatte, tauchte sie in der Dichtung auf – und nach ihm immer öfter. Meist als Femme fatale oder als Wunderwesen zwischen Engel und Mensch. Robert Browning nimmt sich ihrer genauso an wie Heinrich Heine, Guillaume Apollinaire und Isolde Kurz.

Unter dem Namen Lilith werden ab den 1970er-Jahren Buchläden, Verlage, Cafés und Musikfestivals gegründet.

Spätestens in den 1970er-Jahren ändert sich die Rezeption von Lilith stark: Ihre Geschichte wird besonders von jüdischen Feministinnen umgedeutet. Die jüdische Theologieprofessorin Judith Plaskow schreibt 1972 in ihrem Midrasch «The Coming of Lilith» etwa, Lilith sei die erste Feministin, weil sie sich geweigert habe, sich Adam zu unterwerfen, obwohl sie das alles gekostet habe. Sie wird zur Symbolfigur für weibliche Sexualität, Lust und Selbstbestimmung, für Freiheit und Gleichberechtigung.

Literaturwissenschaftlerin Irmgard Roebling fasst die Relevanz der Figur für die feministische Bewegung in den 1980er-Jahren folgendermassen zusammen: «Mit der Relativierung des Mythos von der Menschheitsmutter Eva durch Lilith schien eine Revision der Grundfesten des abendländischen Patriarchats möglich. War doch mit Eva die Zweitrangigkeit der Frau begründet, da sie quasi als Epiprodukt Adams enstanden war (…) und zudem moralisch minderwertig (weil sie ihn) zur Sünde verlockt hatte.»

Die rippengeborene Eva sei daher nichts anderes als patriarchalische Geschichtsverfälschung. Die Auslegung von Lilith als einer Dämonin, die Männer zur Masturbation verleite, bezeichnet sie als einen Versuch von vielen, Frauen in patriarchal geprägten Religionen für die Sexualtriebe der Männer verantwortlich zu machen.

Unter dem Namen Lilith werden ab den 1970er-Jahren Buchläden, Verlage, Cafés und Musikfestivals gegründet. Manchen ist die Zeitschrift «Lilith» ein Begriff, sie macht seit 1976 unabhängigen, jüdischen und feministischen Journalismus.

Heute findet man Lilith in Fantasy- und Erotik-Romanen, Dracula-Comics und Vampirserien wie «True Blood». Besonders arbeitet sich der Streaming-Dienst Netflix in den unterschiedlichsten Formen und Formaten an der Figur der Lilith ab – kaum eine düstere Serie kommt ohne sie aus.

In «Chilling Adventures of Sabrina» tritt sie als erste Hexe auf. Als Figur, die, zunächst auf der Seite des Teufels, dessen Lügen bald erkennt und sich gegen ihn stellt – um selbst die Herrscherin der Hölle zu werden. In «Warrior Nun» ist Lilith eine Nonne, von der man lange nicht weiss, ob sie auf die Seite des Bösen wechselt. Und in «Shadowhunters» führt der Fakt, dass Lilith keine Kinder bekommen kann, die Figur dazu, mit dem Bösen zusammenzuarbeiten und selbst böse zu werden.

1999 schrieb Vera Zingsem in ihrem Buch «Lilith – Adams erste Frau»: «Lilith wird gesellschaftsfähig.» Blickt man auf die letzten Jahre, muss man sagen: gesellschaftsfähiger vielleicht, aber noch immer bleibt die Figur auf der dunklen Seite. Doch egal, wie Lilith heute rezipiert wird – ein Aspekt geht vergessen: die Schwesternschaft.

«Für mich ist Lilith die erste Feministin der Welt. Sie war stark und hat sich für die Gleichberechtigung von Mann und Frau eingesetzt. Deshalb gefällt mir der Name.» Lilith Raza

Doris Strahm, eine Pionierin der feministischen Theologie, begegnete Lilith erstmals in den 1980er-Jahren im erwähnten Text der US-amerikanischen Theologieprofessorin Judith Plaskow. «Ich war, wie viele Kolleginnen damals, begeistert von diesem Text. Wir haben ihn als christliche Feministinnen auch für uns rezipiert», sagt Strahm. «Plötzlich war die erste Frau nicht eine fügsame Gehilfin des Mannes, als die uns die biblische Eva von der christlichen Tradition präsentiert worden war, sondern eine unabhängige und eigenwillige Frau.»

Strahm sagt, sie wisse nicht, inwiefern Lilith heute in der feministischen Theologie als Identifikationsfigur noch relevant sei. Das Selbstbild von Frauen habe sich seit den 1980er-Jahren doch sehr verändert. «Nach wie vor relevant ist für mich als feministische Theologin aber die Vision von Schwesternschaft, wie sie in Plaskows Erzählung zum Ausdruck kommt: Wenn Frauen sich zusammentun, erkennen, wo sie über alle Unterschiede hinweg verbunden sind, sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern sich gegenseitig stärken, dann verändern sie nicht nur sich selbst, sondern auch die Welt», so Strahm.

«Gott und Adam harrten voller Bangen des Tages, da Eva und Lilith, strotzend vor Möglichkeiten, in den Garten zurückkehren würden, um ihn zusammen neu aufzubauen», zitiert Doris Strahm aus Plaskows Text und sagt dann, dass sie die Schwesternschaft mittlerweile zwar ernüchterter und kritischer betrachte, es aber dennoch nötig finde, über Begriffe wie Frauensolidarität, politische Schwesternschaft und Allianzen neu nachzudenken. «Gerade heutzutage, da reaktionäre und religiös-fundamentalistische Kräfte weltweit versuchen, Frauenrechte einzuschränken.»

Der gewählte Name

Interessant in diesem Zusammenhang ist eine weitere Community, die den Namen Lilith für sich entdeckt hat und die von reaktionärer Seite angegriffen wird: Immer häufiger nennen sich Transfrauen Lilith. Die bekannteste in Europa ist Lilith Raza aus Pakistan. 2012 war sie nach Deutschland geflüchtet, engagiert sich seither für die Rechte von Transmenschen und ist für verschiedene Organisationen tätig. Für den Namen Lilith habe sie sich ganz bewusst entschieden, erzählte sie in mehreren Interviews.

Denn «Lilith soll noch vor Eva Adams erste von Gott erschaffene Frau gewesen sein. Es heisst, dass sie sich ihm nicht unterwerfen wollte», sagt Raza und weiter: «Für mich ist Lilith die erste Feministin der Welt. Sie war stark und hat sich für die Gleichberechtigung von Mann und Frau eingesetzt. Deshalb gefällt mir der Name.»

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Im Reddit-Forum «A Safe Haven for Trans Feminine People» wird über die Namenswahl diskutiert und darüber, dass der Name zwar «badass» sei, aber gewissen Menschen dementsprechend das Gefühl vermitteln könne, dass man auf Konfrontation aus sei. Und selbstverständlich müsse man auch bedenken, dass Lilith ein sehr stereotypischer Transname sei. Denn natürlich spielt für die Namenswahl eine Rolle, dass Lilith von Gott wie Adam aus der gleichen Erde, demselben Ton oder Lehm gemacht wird – was als Insiderjoke bei Transpersonen super passt.

Als Contra-Argument wird jedoch betont, Satanisten hielten Lilith teilweise für die Frau des Teufels. Zudem tauche sie oft als Sukkubus auf, also als weiblicher Dämon, der Männer zu sexuellen Handlungen zwingt und ihre Seelen aussaugt. Sukkubus, ein Wort, das übrigens vom lateinischen «succumbere» abstammt – was übersetzt «unten liegen» bedeutet und zu Liliths Geschichte so gar nicht passt.

Eine Lilith rät in den Kommentarspalten den Kindern von «religiösen Eltern», den Namen nur mit Bedacht zu wählen. Nach ihrer Transition und der Wahl des Namens Lilith weigere sich ihre Mutter, sie so zu nennen, weil sie den Namen gegoogelt habe und dabei auf eine ganze Reihe weiblicher Dämonenbilder gestossen sei. Wahrscheinlich Bilder einer Figur mit knöcherner Hörnerkrone, mit stechenden, blutunterlaufenen Augen, einem schmalen, schönen Gesicht, auf dem sich unter der hellen Haut ein Netz aus Adern abzeichnet.