Kann ein Mensch zu verzweifelt sein, um noch zu hoffen? Elena schon. Sie gehört zu den Ärmsten in diesem bettelarmen Winkel Serbiens. Neunundfünfzig ist sie, Mutter von elf Kindern, ihre Beine sind seit Geburt verkrüppelt. Ihr Mann sei bei einer anderen, sagt sie. «Bildhübsch» soll sie sein. Geblieben ist Sandu, Elenas Jüngster. Er hat russschwarzes Haar, grosse Lippen, trägt Mädchenkleider und hat noch nie ein Wort gesprochen. Tagsüber stochert er im Müll nach Essbarem. Elenas Hütte gleicht eher einer verbeulten Büchse. Darin stehen ein Bett, Sandus Fahrrad, ein Plastiktisch, in einer Ecke ein Ofen, ein Sack mit Brot, Blechgeschirr, zwei, drei Gläser. An den Wänden hängen Tücher, dahinter blättert der Verputz ab. Ein Ort ohne Hoffnung, gleich wie Elenas Leben.
Pfarrer Tibor Varga aber sagt: «Es gibt immer einen Weg aus dem Elend.» Und er glaubt, was er sagt. Denn er hat das, was hier nur noch wenige haben: Gottvertrauen.

Rund hunderttausend Roma sind in Serbien registriert, inoffiziell soll es eine halbe Million sein. Fünfzig von ihnen leben in einer Siedlung ausserhalb der Stadt Senta nahe der rumänischen Grenze. Viele sind Kinder, nur wenige von ihnen gehen zur Schule. Die jungen Männer haben meist keine Arbeit, die Mädchen sind schon bald Mütter. Zweimal die Woche kommt Tibor bei Elena und den anderen vorbei und bringt Essen und Kleider mit. Manchmal auch Gottes Wort. Auf Mission sei er aber nicht, beteuert der sechzigjährige Pfarrer. Wer zuhören will, dem erzählt er seine Geschichte. Davon, wie ihn vor dreissig Jahren ein Vers aus dem Matthäusevangelium regelrecht erschütterte: «Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.» Tibor erzählt, wie er daraufhin seinen Job hinschmiss und bei einem Hilfswerk zu arbeiten begann, zuerst in Belgrad, dann in Subotica im Norden Serbiens. Und wie er mit seiner Frau eine Familie gründete. Sieben Kinder sind es geworden, alle mit biblischen Namen, von David bis Eva. Viel hatten sie nie, doch gereicht hat es immer, sagt Tibor. Dank Gottes Hilfe musste er sich nie um ein Morgen kümmern.
Elena lächelt müde. Zu Tibor sagt sie bloss: «Mich hat dein Gott vergessen.» Er aber sagt: «Ich bringe dir Brot und deinem Jungen Kleider. Zusammen reden, lachen, weinen wir. Elena, bin ich denn nicht der Beweis, dass Gott dich liebt?»

Ort ohne Hoffnung: Elena und ihr jünster Sohn Sandu in einer Romasiedlung unweit der rumänischen Grenze.
Jeden Tag begegnet Tibor dutzendfach dem Elend: bei den Roma, den Flüchtlingen, Obdachlosen, armen Alten, verwahrlosten Familien, bei all den Verlorenen. Und es werden immer mehr: Mit der Privatisierung der staatlichen Unternehmen in den vergangenen Jahren haben viele Serben ihre Arbeit verloren. Allein hier im Norden sind es über zwanzig Prozent. Wer noch Arbeit hat, verdient im Schnitt um die dreihundert Euro im Monat. Das reicht auch in Serbien kaum zum Leben. Wer kann, versucht darum im benachbarten Ungarn oder in Deutschland sein Glück. Putzen, nähen, für andere den Dreck wegräumen, vielleicht ein Job im Büro oder sogar mehr: Hauptsache, weg.
«Fort mit diesem Pack!»
Serbien hat den grössten Bevölkerungsrückgang in ganz Europa. Mit sieben Millionen Einwohnern zählt das Land fast eine halbe Million weniger Menschen als noch vor zehn Jahren. Zurück bleiben die Jungen, die keinen Schulabschluss haben; rund die Hälfte von ihnen ist arbeitslos. Oder die Alten, die keine Rente haben und hungern, weil das Ersparte für Medikamente draufgeht. Viele von ihnen sitzen früher oder später bei Tibor an der Trg Lajoša Košuta 1, 24 000 Subotica, im Büro des christlichen Hilfswerks Osteuropamission, für das er seit Jahren arbeitet. Dort schlürfen sie eine Suppe, essen Brot, reden über die Nachbarn oder erzählen einander von früher. Viele ziehen an einer Zigarette und klagen, seufzen, grübeln und witzeln dabei.
Dass der Glaube Berge versetzen kann, daran zweifelt Tibor bis heute. Viel lieber setzt er auf die kleinen Schritte.
Am Ende wird Tibor ihnen eine Packung Reis auf den Weg geben, und sie sagen «Leb wohl!», worauf er ihnen mit seiner rauhen Stimme ein herzhaftes «Később találkozunk!» zuruft. «Bis bald!» Tibor weiss: Sie kommen ja doch wieder.

Drei auf vier Meter: Hier liegt nachts die Familie Ilić Schulter an Bein.
Manchmal stört es die einen, wenn Tibor auch den anderen hilft. In Čantavir etwa, einem Städtchen südlich von Subotica, stehen zwei verlotterte Häuser, ein kleiner Garten, ein Rasen, ein Brunnen. Das Anwesen wurde Tibor vor Jahren geschenkt. Der Plan ist bald gefasst: ein Ort der Begegnung für Romafamilien soll es werden, samt Gebetsraum. Als die Renovationen beginnen und die jungen Männer die Mauern verputzen, die Frauen die Küche herrichten und die Kinder im Innenhof herumtollen, da fängt im Dorf die Maulerei an. Nachbarn ziehen Stacheldraht um ihr Anwesen. Auf der Strasse rufen sie Tibor zu: «Was wollen die denn hier?» Ihre Frage ist rhetorisch. Eigentlich meinen sie: Fort mit diesem Pack, zum Teufel mit den Zigeunern! Und Tibor, wie immer, geht auf die Erbosten zu, will reden, denn er weiss: Sie haben selber nichts, leben wahrhaftig von der Hand in den Mund. Und wieder einmal verteilt er Gebäck, Kleider und Hoffnung. Denn er weiss, dass aus Hoffnung Mut werden kann.
Was nach einer Floskel klingt, hat er selbst erlebt: Als junger Mann sei er oft unglücklich gewesen. Er habe sich verloren gefühlt und an allem gezweifelt. An seiner Arbeit als Ingenieur, seiner Beziehung zu den Frauen, an seinem Platz im grossen Ganzen sowieso. Irgendwann habe er Gott erfahren und sich ihm anvertraut. «Ab da wusste ich: Jetzt kann ich alles hinter mir lassen – er wird für mich sorgen.» Nicht, dass es einfach gewesen sei, sagt er. Doch der Glaube habe ihn hoffen und handeln lassen, und davon wolle er erzählen. Sein Leben, sagt Tibor, sei alles, worüber er berichten könne: «Ich habe nicht ein Privatleben und daneben noch einen Job als Pfarrer. Ich bin das, was ich tue.»

Verlassene Ziegelei bei Subotica: Zu Hunderten hausen hier Geflüchtete im Dreck, ohne Toiletten, fliessend Wasser und Strom. Der Staat war noch nie hier und wird nie kommen, dafür Pfarrer Tibor.
Überleben in der Europäischen Union
Dass der Glaube Berge versetzen kann, daran zweifelt Tibor allerdings bis heute. Viel lieber setzt er auf die kleinen Schritte, wie er sagt: dass aus wenig irgendwann viel werden kann. Tibor zitiert an dieser Stelle das Gleichnis vom Sämann – und meint selbstverständlich mit dem Samen Gottes Wort. Dieses könne aber nur in denen keimen, die sich ihm öffnen, sagt er. «Zwingen kann ich niemanden.» Jemanden aber unterstützen, ihm zureden und manchmal vielleicht sogar auf die Sprünge helfen, das schon.
Zu Hilfe kommt Tibor in solchen Momenten der peruanische Prediger Manuel Castro Ayala, geboren und aufgewachsen in Lima. Seit acht Jahren lebt er in Serbien, ist verheiratet mit einer Brasilianerin und Vater von drei Söhnen, zwei davon studieren in Portugal. Sind Manuel und Tibor unter sich, kramt Tibor das Spanisch seiner Jugendjahre hervor, die er mit den Eltern in Argentinien verbrachte.
Es stecke immer dieselbe Logik dahinter, sagt Tibor: Zuerst seien es «Fremde», die später Stück für Stück entmenschlicht würden, bis sie «Ratten, Hunde und Ungeziefer» genannt werden.
Heute sind sie zu Besuch bei Familie Ilić. «¿Cantemos a Jehova, hermano?» Manuel greift zur Gitarre und stimmt ein Kirchenlied an, Tibor rezitiert den Psalm, und die Familie singt mit, sieben Buben und vier Mädchen, darunter Zwillinge. Sie wohnen mit ihren Eltern mitten in Senta, einer Stadt mit 20 000 Einwohnern.
Und doch lebt die Familie wie an einem anderen Ort. Wer zu ihnen will, muss durch ein Holzgatter, an einem Schäferhund vorbei, in einen Innenhof voller Müll, dann einer Mauer entlang die Treppe hinauf in ein Ziegelhaus mit zwei Zimmern. Im einen, dem länglichen Raum, ist die Küche mit Herd und Tisch und mit einem Jesusbild an der orangen Wand. Der andere Raum, drei auf vier Meter, ist das Schlafzimmer. Darin schläft die Familie Ilić Schulter an Bein. Hier überleben Menschen im Verborgenen.
Er sei angesichts dieses Elends oft müde, sagt Tibor. Dann zieht er sich zurück, liest eine Stunde in der Bibel, streicht darin Stellen an und meditiert. Oder er fährt seine jüngste Tochter zur Schule, holt sie von dort ab. Auf die Frage, wie viel Leid er denn ertragen könne, mag Tibor nicht antworten. Vielleicht ist sie ihm zu persönlich. Dafür sagt er: «Am Ende geht es darum, wie wir mit dem Leid umgehen, was wir daraus machen.» Überhaupt sei dies das Wichtigste: «Wir dürfen die Menschlichkeit nicht verlieren.» Derweil zupft Manuel ein Kinderlied. Alle hüpfen umher und machen Faxen. Für einen Augenblick sind die Sorgen, der Hunger und die Krätze vergessen. «Trotz allem sich freuen zu können, das ist sehr wichtig.»

Seit neun Monaten sitzt Zarar aus Pakistan in Serbien fest: «Wir treten an Ort, kommen nicht mehr voran, können nicht mehr zurück.» Zurück würde für ihn auch bedeuten: in die Hände der Taliban.
Bereits da, als noch keiner von Krise sprach
Es steckt immer dieselbe Logik dahinter, sagt Tibor. Zuerst sind sie bloss Fremde, später werden sie zu den anderen, die durchtrieben, dreckig oder faul sind, und schliesslich, wenn sie Stück für Stück entmenschlicht sind, werden sie «Ratten», «Hunde» oder «Ungeziefer» genannt und irgendwo an den Rand gedrängt – bis sie unsichtbar sind. Wie Elena, die Familie Ilić oder die Geflüchteten, die sich wieder einmal im Norden Serbiens auf ihrem Weg in die EU stauen. Auch sie sind da, und doch sind sie nirgendwo.
Tibor hat sie schon früh gesehen, das war 2009. Von einer «Flüchtlingskrise» redete da noch niemand. Auch war noch kaum eine Hilfsorganisation vor Ort, als Tibor mehrmals die Woche mit einem Wagen voller Essen, Kleider und Spielzeug zu den verlassenen Baracken rund um Subotica an der serbisch-ungarischen Grenze fuhr, wo die Geflüchteten Unterschlupf suchten. Das ist auch jetzt noch so, acht Jahre später. Nur wurde in der Zwischenzeit die Fluchtroute über den Balkan geschlossen. Die Situation wird tagtäglich prekärer.
Mitverantwortlich dafür ist die Einwanderungspolitik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Dieser liess bereits 2015 im ganzen Land Plakate aufhängen, auf denen Migranten zu einer Gefahr für die «christliche Identität Europas» erklärt wurden. Wenig später errichtete Orbán an der Grenze zu Serbien einen Zaun: 175 Kilometer lang, 3 Meter hoch, darüber ein Draht der Nato.
Den Geflüchteten gelang es trotzdem, illegal in die EU zu gelangen. Bis Ungarn seine Grenze mit unzähligen Polizisten zu sichern begann. Wurden diese anfänglich aus Polizeischülern rekrutiert, dürfen inzwischen alle mitmachen, die von den ungarischen Behörden als «unbescholten» eingestuft werden, sich fit fühlen und nicht kleiner sind als 1,60 Meter. Seit diesem Januar häufen sich die Berichte über gewaltsame Übergriffe von Grenzpolizisten auf Flüchtlinge. Bilder machen die Runde: aufgeschlagene Lippen, Blutergüsse an den Beinen, geschwollene Augen und verdrehte Arme.
«Wir werden verrückt»
Auch Zarar versuchte schon mehrere Male, unbemerkt die Grenze zu passieren, vergeblich. Orbáns Grenzpolizisten griffen ihn jedes Mal auf: «Sie hetzten ihre Hunde auf uns, schlugen uns. Dann mussten wir uns nackt ausziehen und wurden mit kaltem Wasser übergossen. Am Schluss fotografierten sie uns und grölten: ‹Welcome to Europe, we will kill you!› » Zarar, 24 Jahre alt und aus Pakistan stammend, flüchtete vor den Taliban. Seit neun Monaten harrt er bereits in Serbien aus. Zuerst in einem Camp an der kroatischen Grenze, dann in Subotica, später in Belgrad und jetzt in einem Flüchtlingslager im Nordwesten des Landes. Wie Tausende Geflüchtete aus Afghanistan, Irak, Pakistan und Syrien sitzt Zarar fest. «Wir treten an Ort, kommen nicht mehr voran, können nicht mehr zurück.» Zurück würde für Zarar auch bedeuten: in die Hände der Taliban.
«Serbien darf kein Parkplatz für Flüchtlinge werden», sagt der serbische Präsident.
Die bisher schwierigste Zeit auf seiner Flucht war für Zarar die Zeit in der verlassenen Ziegelei bei Subotica. Ein halbes Jahr verbrachte er dort, hauste mit zweihundert Geflüchteten im Dreck und im Durchzug, ohne Toiletten, fliessend Wasser und Strom.
Am schlimmsten aber sei das Warten, tagaus, tagein. «Wir sitzen herum, kochen, reden; manchmal spielen wir Fussball. Die meiste Zeit aber sind wir allein: mit unseren Gedanken, Erinnerungen, Ängsten. Wir werden noch verrückt.»
In der alten Ziegelei begegnete Zarar auch Tibor. Aus Angst, abgeschoben zu werden, wollte er sich in Serbien nicht registrieren lassen. Deswegen darf er keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen, sondern ist auf die Unterstützung von selbstorganisierten Gruppierungen oder lokalen Organisationen angewiesen. Und wie so oft ist Tibor einer der wenigen, die zur Stelle sind. Er bringt Essen, Kleider und Decken, besorgt Medikamente oder kauft bei Trödlern Kochtöpfe. Tibor bringt Zeit mit. Um zu reden, und manchmal auch, um zu schweigen. Oder um sich zu umarmen.
«Wir geben denen Kleider, wir geben ihnen zu essen; was wollen diese Flüchtlinge denn noch, das ist doch hier kein Restaurant! So denken viele, leider», sagt Tibor. Wie es den Menschen wirklich geht – welche Hoffnungen sie noch haben, welche Ängste sie wachhalten –, das interessiere niemanden. Zwar sei die serbische Regierung bemüht, sich flüchtlingsfreundlich zu präsentieren. Zugleich tue sie alles, um diese Menschen möglichst rasch wieder loszuwerden. In den Worten des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić klingt das so: «Serbien darf kein Parkplatz für Flüchtlinge werden.» Dies liess Vučić noch vor seiner Wahl zum Präsidenten im April dieses Jahres seine Wähler wissen.
Und so fragt sich auch Zarar nicht, ob er in Serbien bleiben wolle, sondern vielmehr: Wann komme ich endlich von hier weg? Und wohin? Er weiss es nicht. «In Europa sind wir jedenfalls nicht mehr willkommen. Vielleicht Kanada? Inschallah.»
Es sind viele Vergessene, Verarmte, Vertriebene auf Tibors Weg. Wie oft muss man zu ihnen zurückkehren, um diesem bisschen Hoffnung zu begegnen, von dem der Pfarrer immer wieder redet? Tibor hat für sich die Antwort gefunden: «Wer verloren ist, der wird sich wiederfinden – wenn er Gott findet.» Doch was, Tibor, wenn die Menschen zu müde sind, um noch zu hoffen?
Tibor Varga heisst auch im richtigen Leben so. Alle anderen Namen wurden geändert.
Der Autor und Fotograf Klaus Petrus lebt in Bern. Seine Reportagen erschienen u.a. in den Magazinen Vice und Hintergrund.