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Freitag, 29. Januar 2016

Die dreihundert Stühle im grossen Saal des reformierten Kirchgemeindehauses Johannes im Berner Breitenrainquartier reichen an diesem Samstagmorgen nicht aus, um allen Interessierten Platz zu bieten.

Zur schweizweiten Tagung eingeladen hat das ökumenische Netzwerk «KircheNordSüdUntenLinks», die Verfasser der Migrationscharta. Am Morgen wird im grossen Plenum über das «Recht auf freie Niederlassung» debattiert, das die Charta fordert. Für die dreissig Workshops am Nachmittag spannt die Tagung mit der diesjährigen «Tour de Lorraine» zusammen. Dort treffen sich seit sechzehn Jahren linke Aktivisten, um sich mit den Folgen der Globalisierung auseinanderzusetzen. So fanden die Tour-de-Lorraine-Workshops erstmals auch in kirchlichen Räumen statt: Ob kirchenfern oder nicht – das Ankämpfen gegen die derzeitige Flüchtlingspolitik der Schweiz und Europas verbindet. Diese Gemeinsamkeit schlägt sich auch in der Anzahl Besucher nieder: Rund siebenhundert Personen zählen die Workshops.

«Ohne die Kirche wäre die gegenwärtige Asylpolitik noch viel unwidersprochener.» Beat Ringger, Publizist

An den Workshop-Namen lässt sich dann auch die unterschiedliche Herkunft der Teilnehmenden ablesen: «Fluchthilfe ganz konkret», «Migration und interreligiöser Dialog» oder «Migration und Flucht aus theologischer Sicht» heissen sie.

Und ein «Fesselungsworkshop» veranschaulicht, wie es bei einer unfreiwilligen Ausschaffung zu- und hergehen kann.

Charta als «Himmelaufreisser»

Der Sekretär des sozialkritischen Think-Tanks Denknetz, Beat Ringger, ist bereits im morgendlichen Plenum anwesend. Er lobt die Charta als «Himmelaufreisser», sie durchkreuze das übliche Denken. Ringger ist Autor zahlreicher kapitalismuskritischer Schriften, er selbst nennt sich einen «kritischen Marxisten». Ob Ringger die biblisch-theologische Fundierung der Migrationscharta nicht störe? Nein, im Gegenteil, meint der 60jährige, er sei erfreut, denn: «Es gibt keine andere Kraft im linken Spektrum, die mit der Charta eine solche Ausstrahlung hätte.» Religion sei einzig dann problematisch, wenn sie Herrschaft rechtfertige oder das Denken und Fühlen besetze, etwa im Fundamentalismus. «Oder wenn sie sich zu sehr auf das Seelenheil des Einzelnen fixiert und gesellschaftliche Fragen vernachlässigt.» Ringger schätzt den Einfluss kirchlicher Strukturen in der Flüchtlingsarbeit: «Ohne die kirchlichen Akteure wäre die gegenwärtige Asylpolitik noch viel unwidersprochener.»

Religion: Mehr als Nebensache

Für Verena Mühlethaler, Mitorganisatorin der Tagung und Pfarrerin an der Offenen Kirche St. Jakob in Zürich, stehen die Zeichen ganz auf Pragmatismus: «Die Linke und wir haben die gleichen Interessen. Und dies nicht nur in Flüchtlingsfragen. Auch in puncto Nachhaltigkeit und Ökologie.» Matthias Hui, auch er im Organisationsteam, pflichtet Mühlethaler bei. Als Redaktor der religiös-sozialen Zeitschrift Neue Wege sieht er ohnehin keinen Widerspruch zwischen Religion und linker Orientierung. Die Zusammenarbeit sei im übrigen auch nicht neu, so Hui. Die Stadtberner Kommission für Ökumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit der reformierten Kirchen sei seit Jahren bei der Tour de Lorraine mit dabei. Mehr noch: «Die Berner Kirche insgesamt ist im Bereich Migration und Menschenrechte sehr engagiert.»

«Viele Unterstützer haben zu uns gefunden, gerade weil wir in einer Kirche sind.» Dimitri Wyss, Kirchenbesetzer

Die Migrationscharta, die er mitverfasst hat, sei ein Angebot, über kirchliche Kreise hinaus Bündnisse mit linken Bewegungen zu schliessen. Klar, es sei auch Skepsis da gewesen, da die Charta vor einem biblisch-theologischen Hintergrund argumentiere.

So sei es im Vorfeld der gemeinsamen Gestaltung des Programmhefts zur Tour de Lorraine zu Diskussionen gekommen, sagt Hui. Viele der linken Aktivisten hätten ein Problem mit religiösen Strukturen – nicht aber mit Aktivismus, der aus religiösen Quellen schöpft: «Wir mussten klären, dass wir uns zwar in der Kirche engagieren, aber nicht die Kirche als Institution repräsentieren.» Hui sieht in der Annäherung von Kirche und linken Aktivistinnen auch einen besonderen Gewinn für die Arbeit mit Flüchtlingen: «Einige Aktivistinnen hatten bisher wenig Verständnis für die Religion der Geflüchteten, weil sie in ihrem eigenen Denken Nebensache ist.»

Die Besetzer und die Kirche

Am «Kirchenasyl»-Workshop erzählt Dimitri Wyss von der Menschenrechtsgruppe «Collectif R» über die in der Zwischenzeit seit zehn Monaten laufende Besetzung der reformierten Kirche St. Laurent in Lausanne. Das Kollektiv besetzt mit bis zu acht Menschen eritreischer Herkunft Räume der Kirchgemeinde. «Wir kamen mit Matratzen und quartierten uns ein, ohne uns anzumelden», sagt Wyss. Die Besetzerinnen nutzten gezielt die Praxis des Kirchenasyls. Das heisst: Wer in einer Kirche Zuflucht sucht, kann sich dem Zugriff von Polizei und Behörden entziehen – und somit auch der drohenden Ausschaffung. Ein weiterer Vorteil: Die Person gilt als nicht untergetaucht, weil sie die Kirche als Wohnadresse angeben kann. Mit der Aktion will das Kollektiv auf die menschenunwürdige Praxis des Dublin -Abkommens aufmerksam machen und gleichzeitig den Geflüchteten helfen.

«Einige Aktivistinnen hatten bisher wenig Verständnis für die Religion der Geflüchteten. Auch, weil sie in ihrem eigenen Leben Nebensache ist.» Matthias Hui, Migrationscharta-Mitverfasser

Auf wenig Verständnis stösst die Besetzung der Kirche beim Synodalrat, der Exekutivbehörde der reformierten Kirche des Kantons Waadt. Dieser sieht in der Aktion kein Kirchenasyl, sondern eine Besetzung. Während der kantonale Kirchenrat die Besetzer verklagen will, sei das Einvernehmen mit der lokalen Kirchgemeinde gut, erklärt Wyss.

Das Kollektiv könne in der Zwischenzeit auf zweihundert Helferinnen zählen, viele seien von kirchlicher Seite dazugekommen: «Viele Unterstützer haben zu uns gefunden, gerade weil wir in einer Kirche sind.»

Gut möglich, dass für viele Helferinnen die Hilfe für den einzelnen Menschen im Vordergrund stehe, meint Wyss. Er und seine Mitstreiterinnen gehen weiter, denn sie wollen eine Änderung des Systems. Er sieht es aber pragmatisch: «Es ist nicht nötig, sich hundert Prozent mit den politischen Zielen unseres Kollektivs zu identifizieren. Letztlich zählt die Aktion.»

Susanne Leuenberger

Die Migrationscharta wurde im Spätsommer 2015 vom ökumenischen Netzwerk «KircheNordSüdUntenLinks» veröffentlicht. In zehn biblisch-theologisch fundierten Grundsätzen fordert die Charta eine Politik der offenen Grenzen und ein freies Niederlassungsrecht für alle. Die Charta stiess auf breites Echo in den Medien und wurde kontrovers diskutiert. Insbesondere die Frage, ob die Kirche «Hilfe im kleinen» leisten oder auch Systemkritik an der derzeitigen Asylpolitik üben soll.

Am 23. Januar organisierten die Verfasser in Bern in Zusammenarbeit mit der «Tour de Lorraine» eine schweizweite Tagung, an der über freie Niederlassung und eine neue Migrationspolitik debattiert wurde. Die Anwesenden forderten den Bundesrat auf, 2016 mindestens 100000 Flüchtlinge aufzunehmen und diesen eine sichere Flucht zu ermöglichen. su