Gleich hinter dem Burgtheater, im obersten Stock der Evangelischen Fakultät der Universität Wien, befindet sich Ulrich Körtners Büro. Wer es betritt, überblickt durch das Panoramafenster die architektonische Wucht der Wiener Innenstadt.
Seit 24 Jahren lebt Körtner in der Stadt. Er nennt sich einen «Zugereisten». In Deutschland geboren und aufgewachsen, studierte er Theologie und arbeitete danach als Pfarrer in einer Gemeinde und Studienleiter einer evangelischen Akademie. 1992 folgte er dem Ruf der Universität Wien auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie. Mit dem Professorentitel erhielt Körtner von Österreich auch die Staatsbürgerschaft zugesprochen. Dies war die Voraussetzung dafür, dass er in die österreichische Bioethikkommission gewählt wurde. Sei es in der Wissenschaft, in der Kirche oder in Österreichs Politbetrieb, Körtners Ansichten sind gefragt. Wohl auch, weil er sich nicht scheut, öffentlich klar Stellung zu beziehen. Er tue dies aber sehr dosiert, eine «innere Nötigung» müsse schon da sein, sagt er. Beispielsweise dann, wenn er ein Thema als wichtig erachte, aber «links oder rechts» von ihm niemand darüber sprechen wolle.
Eine innere Not muss er auch am Sonntag, 18. Oktober 2015, verspürt haben, als er sich in der evangelischen Radiosendung Zwischenruf auf dem öffentlichrechtlichen Sender Ö1 zur aktuellen Flüchtlingspolitik der Kirchen äusserte. Nur wenige Wochen davor hatte sich Angela Merkel in Absprache mit ihrem österreichischen Kollegen entschieden, die Grenzen beider Länder für Tausende in Ungarn in Bedrängnis geratene Flüchtlinge zu öffnen. Am Wiener Westbahnhof trafen daraufhin Tausende von Flüchtlingen ein. Die Behörden und die Politik waren mit der Situation überfordert, einzelne Bundesländer verweigerten die Aufnahme von Flüchtlingen. Die rechtspopulistische FPÖ nutzte den Augenblick, um aus dem Unbehagen und den Ängsten der Bevölkerung politisches Kapital zu schlagen. Währenddessen versorgten kirchliche Hilfswerke und zahlreiche Helfer die Menschen auf der Flucht mit Essen, Kleidern, Koffern und Spielsachen für die Kinder.
Herr Körtner, die Situation damals war angespannt, trotzdem äusserten Sie sich kontrovers zum Thema. Was war Ihre Motivation?
Das Thema Migration beschäftigt mich seit langem, nicht erst seit den Flüchtlingsströmen der letzten Jahre. Ich wanderte 1992 mit meiner ganzen Familie von Deutschland nach Österreich aus und bilde mir ein, eine gewisse Sensibilität für das Fremdsein zu haben.
Lassen sich solche Migrationsgeschichten miteinander vergleichen?
Nein, natürlich nicht. Meine Geschichte ist nicht vergleichbar mit einer syrischen Familie, die vor dem Krieg fliehen musste. Ich bin privilegiert, die Universität wollte mich. Sie haben mich aber nach meiner Motivation zu diesem Radiobeitrag gefragt – und die gründet im Umstand, dass mich das Thema seit langem umtreibt.
In Ihrem Radiobeitrag kritisieren Sie die Kirchen und ihre Flüchtlingspolitik.
Damit es klar ist: Ich kritisierte nie die Hilfe der Kirche. Ich war ja selbst als Helfer vor Ort engagiert. So eröffnete die Johanniterunfallhilfe, deren Bundespfarrer ich bin, bereits sehr früh Notunterkünfte. Was ich in meinem Beitrag an den Kirchen kritisierte, war ihre einseitig gesinnungsethische Haltung in der Flüchtlingspolitik. Dabei erwähnte ich den Unterschied von Gesinnungs- und Verantwortungsethik nach dem Soziologen Max Weber.
Was unterscheidet den Gesinnungs- vom Verantwortungsethiker?
Der Gesinnungsethiker bemisst die moralische Qualität des Handelns in erster Linie an den moralischen Prinzipien und Absichten. Anders der Verantwortungsethiker: Er fragt nach den möglichen Folgen seines Tuns. In der Debatte darüber, wie Europa und seine Mitgliedstaaten auf den massenhaften Zustrom von Flüchtlingen reagieren sollen, prallen gesinnungs- und verantwortungsethische Sichtweisen aufeinander.
Und wie äussert sich das konkret?
Die bewundernswerte spontane Hilfsbereitschaft der Österreicher, als die Flüchtlinge am Wiener Hauptbahnhof eintrafen, ist Ausdruck einer gesinnungsethischen Haltung. Ebenfalls gesinnungsethisch ist es, wenn Menschen in der Kirche keine Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen und sonstigen Migranten akzeptieren wollen oder eine Grossdemonstration unter das Motto «Kein Mensch ist illegal – Refugees Welcome!» gestellt wird. Letzteres ist Gesinnungsethik pur.
Was ist daran problematisch?
Das Problem ist, dass sich Leute, die so etwas fordern, keine Gedanken machen über die Folgen für die Gesamtgesellschaft.
«Sie müssen niemanden fragen, welche Haltung die Kirche zu Migration hat, es ist bereits im voraus klar.»
Wer aber verantwortungsethisch argumentiert, also auf mögliche Probleme bei der Bewältigung der anstehenden Integrationsaufgaben hinweist, läuft Gefahr, als Rechter und Rassist beschimpft zu werden.
Dabei wäre es wichtig, mögliche Verwerfungen, die im Sozialsystem entstehen können, zu diskutieren. Dies auch im Interesse der Flüchtlinge. Sie trifft es bei einem Verteilungskampf im unteren Bereich der Gesellschaft auch – etwa wenn es um billigen Wohnraum geht. Aber das sind oftmals Tabus, über die nicht diskutiert werden darf.
Wurden Sie beschimpft?
Ja. Manche unterstellten mir, dass ich einen rechtslastigen Rülpser losgelassen habe.
Damit mussten Sie doch rechnen.
Ich rechnete nicht damit. Im Gegenteil, ich übte im Beitrag ja sehr klar Kritik an der populistischen FPÖ und der Bewirtschaftung von Ängsten. Auch zweifelte ich keine Sekunde daran, dass Österreich die Nothilfe leisten kann. Der zuständige Redaktor der Sendung sagte mir gar noch, dass er meinen Text sehr gut fand. Endlich mal einer, der zur Versachlichung der Diskussion beiträgt. Und genau dies war auch meine Absicht.
Was waren die Reaktionen aus der Kirche?
Da kam vernehmbare Kritik. Manche Vertreterinnen und Vertreter waren empört. Das hat mich aber nicht so sehr überrascht, da in den Kirchen die gesinnungsethische Haltung sehr stark verbreitet ist.
«Eine unreflektierte Moral kann schädliche Folgen haben.»
Viele treten dann auch mit dem Gestus der moralischen Überlegenheit auf, was leider eine Auseinandersetzung mit dem Thema manchmal verunmöglicht.
Ich würde mir wünschen, dass sie stärker einen verantwortungsethischen Politikansatz unterstützen, sich also mit realen Folgen beschäftigen.
Woran machen Sie Ihre Einschätzung fest?
Seit langem findet eine Moralisierung in allen Lebensbereichen statt, das ist nicht kirchenspezifisch. Die Kirche geht diesbezüglich mit der Politik einher. Die Flüchtlingskrise hat diese Tatsache einfach nochmals sehr deutlich gezeigt.
Woher kommt diese starke Präsenz einer gesinnungspolitischen Ethik in der Kirche?
Zugespitzt formuliert wird die Ausdünnung des Theologischen durch eine Verstärkung des Ethisch-Moralischen kompensiert. Oder böse gesagt: Im Bereich Theologie und Verkündigung, wo der Glaube nicht mehr viel zu sagen hat, ausser dass Gott uns alle lieb hat und immer auf der Seite der Schwachen steht, gleicht man das umso mehr dadurch aus, dass das Christliche zu einem moralischen Programm gemacht wird. Darum ist die Kirche heute auch ein verlässlicher Orientierungspunkt in der Gesellschaft.
Wie meinen Sie das?
Nehmen Sie den Automobilclub: Sie kennen die Haltung des Clubs zu Geschwindigkeitsbegrenzungen, dafür müssen Sie nicht erst die Verantwortlichen befragen. Gleich verhält es sich bei der Kirche. Sie müssen niemanden fragen, welche Haltung die Kirche zu Migration oder Freihandelsabkommen hat, es ist bereits im voraus klar. Meist sind auch die theologischen oder biblischen Begründungen stereotyp und vorhersehbar.
Die Kirche zeigt Haltung – soll man ihr dafür tatsächlich einen Vorwurf machen?
Ich habe damit ein Problem, wenn der Eindruck entsteht, als gebe es nur eine richtige Position in kontroversen Fragen. Und diese Stellung wird dann noch emotional aufgeladen. Das sehen Sie an der Appellitis auf dem Buchmarkt, innerhalb wie ausserhalb der Kirchen. Das Ausrufezeichen kommt dort inflationär zum Einsatz. Empört euch! heisst es bei Stéphane Hessel; Konstantin Wecker und Margot Kässmann schreiben auf ihren Buchdeckel Entrüstet euch!, und mein katholischer Freund Paul Zulehner rät seiner Leserschaft: Entängstigt euch!
Der moralische Imperativ auf dem Buchtitel sorgt für gute Verkaufszahlen und scheint den Menschen zu gefallen.
Ich habe nichts gegen Moral, ich bin ja Berufsethiker. Aber ich halte es da mit dem Soziologen Niklas Luhmann, der geschrieben hat, dass die Ethik – also die Theorie der Moral – es zur Aufgabe hat, vor zu viel Moral zu warnen. Eine unreflektierte Moral kann schädliche Folgen haben.
Das heisst?
Wir unterscheiden ja zwischen Gut und Böse, so wie wir in der Politik zwischen Mehrheit und Minderheit unterscheiden oder in der Ökonomie zwischen Kaufen und Nichtkaufen. Wenn ich jetzt einen politischen Konflikt, beispielsweise jenen über die richtige Strategie in der Flüchtlingspolitik, zu einem moralischen mache, dann gewinnt er an Schärfe. Er wird heiss.
Inwiefern?
Weil diejenigen, die zwischen Gut und Böse unterscheiden, selten die sind, die sagen: Wir sind die Bösen. Moral verschärft also Konflikte. Wenn dann noch gesagt wird, dass eine Position moralisch minderwertig ist, dann wird der Konflikt noch heisser. Das sehen wir im linken, aber auch im rechten Spektrum. Ich weiss nicht, wie das bei Blocher und der SVP ist, aber die FPÖ und Strache verunglimpfen dann den politischen Gegner als «Verräter».
Im Radio sagten Sie, dass die Kirchen besser einen verantwortungsethischen Politikansatz unterstützen sollten. Das wäre «gut evangelisch». Was meinten Sie damit?
Im Sinne der reformatorischen Tradition ist zwischen Gesetz und Evangelium zu unterscheiden, aber auch zwischen dem Bereich des Politischen und dem Reich Gottes. Die zwei Dinge gilt es auseinanderzuhalten, ohne sie zu trennen. Wenn wir das Evangelium moralisieren, dann wird es verdunkelt, weil wir es zu einem neuen Gesetz machen. Die mögliche Folge ist dann auch eine Klerikalisierung der Politik.
Und was bedeutet das konkret?
Dass Politik – und zwar gerade aus Gründen des Glaubens! – in ihrer Eigenlogik gewürdigt wird. Sprich: Nicht jede politische Frage darf zu einer moralischen Frage werden. Ist dies der Fall, wird eine sachorientierte Politik durch moralische Appelle ersetzt. Jede religiöse Moral kann in ihrem Eigenwert nur richtig stark sein, wenn ich auch ihre Grenzen sehe – und vor allem auch die Ambivalenzen jeder Moral und jeder Moralisierung. Sonst besteht die Gefahr, dass vor lauter guter Absicht sachliche Lösungen für politische Konflikte verhindert werden.
Eine nüchterne, schon fast pragmatische Haltung. Weshalb muss da überhaupt noch die Theologie ins Spiel kommen?
Weil meine Haltung auch theologisch begründet ist. Pragmatisch wäre zu sagen: Jetzt lassen wir die Theologie einfach mal weg. Es ist aber eine theologische Entscheidung, wenn ich sage, politische Probleme müssen zunächst einmal auch als solche behandelt werden. Zum Beispiel – und da würden mir jetzt einige Kollegen gleich ins Wort fallen – wenn ich die Ansicht vertrete, dass der barmherzige Samariter für mich keine hinreichende Anleitung dafür ist, wie ich mit der Migrationskrise umgehe.
«Der barmherzige Samariter ist für mich keine hinreichende Anleitung dafür, wie ich mit der Migrationskrise umgehe.»
Auf einer individualethischen Ebene funktioniert das. Aber in der Politik reicht es nicht, sich am Beispiel des barmherzigen Samariters zu orientieren. Es ist doch erstmal ein Fortschritt, dass Sozialleistungen nicht ein Akt der Barmherzigkeit sind, sondern zunächst vor allem ein Rechtsanspruch, den ich aufgrund von Gesetzen habe.
Wie gehen Sie damit um, wenn Sie Bilder sehen von Kindern, die auf dem Mittelmeer ertrinken?
Es zerreisst mich fast, wenn ich die dramatischen Bilder sehe, die sich auf dem Meer abspielen. Für mich ist völlig klar, dass wir diese Menschen retten müssen. Aber ich anerkenne auch, dass die Flüchtlingskrise ein Dilemma ist. Es gibt keine einfache oder klare Lösung.
Was ist eigentlich konkret das Dilemma?
Da sind diese Menschen in Not, denen wir helfen müssen. Da sind aber auch die Schlepper, denen wir mit jedem geretteten Boot einen Anreiz bieten, weitere Menschen in ein Boot zu setzen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich freue mich über jeden Menschen, der gerettet wird.
Was müssten die Kirchenspitzen tun?
Es würde bereits ausreichen, das Dilemma zu benennen. So wie es der Schweizerische Evangelische Kirchenbund tat. Zum Flüchtlingssonntag schrieb er: «Zwischen der Mitmenschlichkeit und der Anwendung politischer Unterscheidungskriterien klafft eine Lücke.» Das war ehrlich und gut. Nicht gut ist es aber, wenn Kirchenleitungen absolut sagen, dass Staaten die Einwanderung nicht kontrollieren oder begrenzen dürfen, oder ausblenden, welche Konsequenzen eine übermässige Migration mit sich bringen kann.
Welche Konsequenzen sind das?
Bei unkontrollierten Migrationsströmen besteht die Gefahr, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft in Gefahr gerät. Darum ist es unerlässlich, dass eine politische Willensbildung auf den Konsens der angestammten Bevölkerung baut. Wenn durch starke Migration ein hoher Prozentsatz von Menschen kommt, die in ein paar Jahren stark die Sozialleistungen in hohem Mass beanspruchen, dann wird das zu einem Problem.
Solche Aussagen machen auch Politiker im rechten Spektrum.
Ich gehöre keiner Partei oder Organisation an, und ich kämpfe auch nicht mit irgendwelchen Gleichgesinnten. Wenn Sie mich politisch unbedingt verorten wollen, dann noch am ehesten als bürgerlich-liberal. Aber zurück zur Frage: Wenn die Bevölkerung, die bereits da ist, das nicht mitträgt, dann gefährden Sie alle, auch die Flüchtlinge. Der Staat ist verantwortlich für die, die jetzt immigrieren, aber genauso für die Bevölkerung, die bereits da ist.
Sie sprechen von kontrollierter Zuwanderung. Was heisst das?
Ich kann Ihnen keine Zahl nennen und es wäre auch falsch, eine Obergrenze festzulegen. Das geht nur schon verfassungsrechtlich nicht. Was ich sagen will: Toleranzgrenzen sind unterschiedlich. Was ein Staat verkraftet und wann der soziale Frieden in Gefahr gerät, kann sich von Land zu Land unterscheiden. Mich interessiert am Ende einzig, wie wir Menschen, die tatsächlich nicht in ihre Länder zurückkehren können, dauerhaft integrieren können.
Ein Jahr danach zeigt sich doch: Es ist machbar.
Das logistische Problem, dass Menschen erst einmal ein Dach über dem Kopf haben, ist kein Problem. Es geht aber in der Folge zum Beispiel um bezahlbaren Wohnraum und Integration auf dem Arbeitsmarkt. Die Frage nach Kosten und Nutzen für die Gesamtgesellschaft wird sich erst noch stellen. Wenn es sich um Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention handelt, darf man nicht nach den Kosten fragen – solange das nicht gerade zu einem Staatskollaps führt. Aber: Bei der Migration allgemein hat der Staat sehr wohl das Recht zu fragen, was es ihm bringt und was es ihn kostet. Dabei sollte auch zwischen Flüchtlingen, Asylbewerbern und sonstigen Migranten unterschieden werden, was die kirchliche Rhetorik oft verwischt. Das Problem ist aber, dass Leute aus ganz unterschiedlichen Motiven zu uns kommen, und in dem Satz wird suggeriert, alle seien eben Schutzsuchende. Die unterschiedlichen Gründe für Migration müsste man meines Erachtens differenzierter betrachten.

Ulrich Körtner

Der Papst nannte Menschen, die sich Christen nennen und zugleich gegen Flüchtlinge sind, Heuchler. Herr Körtner, sind Sie ein Heuchler?
Der Sager des Papstes ist mir zu platt. Es geht doch nicht einfach darum, ob man für oder gegen Flüchtlinge ist. Wir tragen auch für die Menschen Verantwortung, die wir vielleicht nicht alle bei uns aufnehmen können.
Sie argumentieren stark mit Blick auf den Nationalstaat.
Wir kommen auch nicht darum herum, die Vorteile von einem funktionierenden Nationalstaat anzuschauen.
«Als Bundeskanzlerin Merkel entschied, die Grenzen zu öffnen, war das für die Kirchen in Deutschland ein Glücksmoment.»
Asyl- oder Menschenrechte können Menschen nur in Anspruch nehmen, wenn ein Staat funktioniert. In gescheiterte Staaten wie Libyen kann man nicht kommen und seine Menschenrechte einklagen.
Aber sollten Christen nicht ausserhalb der Kategorie Nationalstaat denken?
Ich sage nicht, dass der Nationalstaat das Allheilmittel ist. Ich wäre sogar froh, wenn Europa eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik hätte. Da bin ich voll und ganz Europäer. Wir haben aber miterleben müssen, dass alle Ansätze für eine gesamteuropäische Lösung in der Flüchtlingskrise gescheitert sind. Das Christentum ist transnational und transethisch. Das war auch immer das Manko des Protestantismus, dass er historisch an ein territoriales Gebilde gebunden war. Aber solange wir nichts anderes haben als den Nationalstaat, der menschliches Leben und Menschenrechte schützt, so lange kommen wir um den Nationalstaat nicht herum.
Werden über die Flüchtlingspolitik innerhalb der Kirche auch theologische Streitereien ausgefochten?
Der Reformierte Bund in Deutschland hat erklärt, dass bei den Flüchtlingsfragen «für die Kirche immer auch ihr eigenes Kirchesein auf dem Spiel» stehe. Wenn die Politik der offenen Grenzen zur Bekenntnisfrage erklärt wird, habe ich damit ein Problem.
In Form von Meinungspluralismus muss das doch möglich sein.
Hier geht es nicht um eine Meinung unter vielen. Wo der Bekenntnisfall ausgerufen wird, bleibt für eine innerkirchliche Diskussion eigentlich kein Spielraum mehr.
Auch der Präsident der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD, Heinrich Bedford-Strohm, lässt in seinen Interviews durchblicken, dass es in der Frage der Flüchtlingspolitk nichts zu deuteln gibt. Warum ist das so?
Das liegt am Selbstverständnis evangelischer Kirchen in Deutschland, die ihren Öffentlichkeitsauftrag als Wächteramt verstehen. Dazu ein Mini-Exkurs: Das Theorem des deutschen Verfassungsrechtlers Ernst Wolfgang Böckenförde lautet, dass der demokratische säkulare Rechtsstaat von geistigen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen und garantieren kann. Böckenförde, ein katholischer Jurist, pflegte eine Hegelsche Vorstellung, dass der Staat etwas braucht, auf dem er eigentlich grundiert ist.
Also so etwas wie Religion?
Er spricht nicht ausdrücklich davon, aber es ist klar, dass er eine religiöse Dimension meint. Darin sieht er die Ressourcen für Normen und Werte oder sowas wie den Kitt, der die säkulare plurale Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Die Kirchen in Deutschland haben dies begierig aufgenommen und gesagt: Seht ihr, der säkulare Staat braucht die Kirchen.
Mit welchen Folgen?
Beispielsweise ist das Böckenförde-Theorem abgewandelt im gemeinsamen Sozialwort der EKD und der deutschen Bischofskonferenz von 1997 zu finden. Dort steht der vielsagende Satz geschrieben: «Die Kirchen wollen nicht Politik machen, sondern sie wollen Politik möglich machen.» Diese Aussage muss man sich als Leser erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Dieses Denken findet man auch in der Flüchtlingspolitik der Kirchen: Wir wollen Politik möglich machen. Das war gut sichtbar, als sich Angela Merkel im Sommer 2015 entschied, die Grenzen zu öffnen. Das war ein Glücksmoment für die Kirchen in Deutschland. In einer Zeit, in denen sie massiv an Bedeutung verlieren, standen sie und die Bundeskanzlerin so nahe beieinander, dass kein Blatt Papier mehr dazwischen passte. Es musste sich für die Kirchenfunktionäre gut anfühlen, in der Politik den Ton mit angeben zu können.
Politik und Kirche sind in solchen Momenten kongruent.
Das wäre im Einzelfall noch nicht mal so schlimm, solange daraus nicht die Selbstimmunisierung gegen jede Kritik von innen wie von aussen resultiert.
Wie lässt sich das durchbrechen?
Das ist fast nicht möglich, wenn sich Kritiker nur hinter vorgehaltener Hand äussern und öffentlich zurückhalten. An der Universität bemühe ich mich jedenfalls, mit den Studierenden das kritische Denken einzuüben: Beim Suchen einer Position muss jeder Gedanke und jedes Gedankenexperiment bis ans Ende erlaubt sein, ohne dass man darauf behaftet wird. Es muss ins Unreine gesprochen werden können und Scheitern ist erlaubt. Und ganz wichtig: Der moralische Imperativ bleibt draussen vor der Tür.
Heimito Nollé ist Redaktor bei bref.
Oliver Demont ist Redaktionsleiter bei bref.
Ulrich Körtner, geboren 1957, wuchs als Pfarrerskind in Enger im Nordosten von Nordrhein-Westfalen auf. Er studierte in Bethel, Münster und Göttingen Theologie. Seit 1992 ist er reformierter Theologieprofessor für Systematik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Mit der Berufung auf den Lehrstuhl wurde er in Österreich eingebürgert. Körtner ist Direktor des Instituts für öffentliche Theologie und Ethik. Das Institut gehört zu dem evangelischen Hilfswerk Diakonie Österreich. 2012 wurde er vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Vorsitzenden des Kuratoriums der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin berufen. Als Medizinethiker gehörte Körtner über zehn Jahre der österreichischen Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt an. Er lebt in Wien, ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern. dem