Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Autorin: Vanessa Buff
Freitag, 11. November 2016

Die Schweizer Grünen wollen schnellstmöglich aus der Atomenergie aussteigen. Was meinen Sie als reformierter Theologe dazu?

Das wäre aus zwei Gründen ein wichtiger Schritt hin zu mehr Nachhaltigkeit: Erstens birgt die Atomenergie massive Risiken, das hat Fukushima gezeigt. Japan ist ein fortgeschrittenes und hochtechnisiertes Land, und dennoch ist es zu einem Unfall gekommen, mit nachhaltig problematischen Folgen. Zweitens ist die Frage der Endlagerung noch immer nicht geklärt. In Deutschland sucht man seit Jahrzehnten nach einer Lösung, und immer, wenn man denkt, man hätte sie gefunden, zeigt sich, dass sie den Anforderungen eben doch nicht genügt. Damit hinterlassen wir der Nachwelt auf Hunderttausende Jahre hinweg ein Problem. Das ist das genaue Gegenteil von Nachhaltigkeit.

Die Atom-Befürworter argumentieren, dass Kernkraftwerke praktisch kein CO2 ausstossen. Das ist doch sehr nachhaltig?

Wenn man alles miteinberechnet, also auch den Bau und den Betrieb eines AKW sowie die Endlagerung, dann ist die Ökobilanz der Kernenergie alles andere als positiv. Auch die anderen Argumente, die oft gegen einen schnellen Ausstieg angeführt werden, überzeugen mich nicht.

Zum Beispiel?

Etwa die möglichen Entschädigungsklagen der Kernkraftwerk-Betreiber, wie sie in Deutschland vorgekommen sind. Auch von Stromlücken hört man immer wieder. Diese müssten dann durch den Zukauf von ausländischem «Dreckstrom», also Strom aus anderen Atom- oder sogar aus Kohlekraftwerken, wieder ausgeglichen werden. Ich frage mich, ob die Lage wirklich so gravierend ist, wie sie teilweise dargestellt wird. Gutachten steht hier gegen Gutachten, und wie sich die Stromproduktion entwickelt, wird sich erst im Verlauf der Umstellung zeigen. Doch selbst wenn man Strom zukaufen müsste, würde dieses moralische Problem dadurch ausgeglichen, dass im Inland sehr starke ökonomische Anreize zugunsten der erneuerbaren Energien gesetzt würden. Auch das hat sich in Deutschland gezeigt: Durch den rigiden Ausstieg nach dem Reaktorunglück von Fukushima hat ein starkes Umdenken der Konzerne stattgefunden. Je schneller die Schweiz also diesen Schritt macht, desto besser.

Ihre Argumente könnten aus der Abstimmungsbroschüre der Grünen stammen. Was spricht denn theologisch gegen die Kernenergie?

Ich sehe drei Motive mit einer Affinität zum Nachhaltigkeitsgedanken. Das erste ist die Verantwortung gegenüber der Schöpfung. Die Umwelt steht uns nicht einfach zur Verfügung, sondern sie hat einen Wert in sich selbst. Das bedeutet, dass wir keine Entscheidungen treffen dürfen, die völlig irreversibel sind. Wir müssen unseren Bedarf an Ressourcen auf eine Art und Weise decken, dass auch die kommenden Generationen dies noch tun können.

Jede Form der Energiegewinnung bedeutet einen Eingriff in die Natur. Staudämme müssen gebaut, Solarpanels müssen entsorgt werden.

Das stimmt, die einen greifen mehr in die Natur ein, die anderen weniger. Aber die Kernenergie ist deswegen hochproblematisch, weil die Zerstörung im Fall eines Unglücks umfassend und unberechenbar ist. Im Hinblick auf die Bewahrung von Gottes Schöpfung können wir das nicht verantworten.

Ihr Argument beruht auf der Annahme, dass es zu einem Unfall kommt. Der Bundesrat würde Ihnen jetzt vermutlich Panikmache vorwerfen und argumentieren, dass die AKW ja nur so lange laufen dürfen, wie sie sicher sind.

Und ich würde dem das Argument der Hybris, also der Selbstüberhebung, entgegenhalten. Auch die Japaner und die Ukrainer dachten, dass ihre Anlagen sicher seien. Dass dem nicht so war, hat die Geschichte gezeigt. Doch selbst wenn es in der Schweiz niemals zu einem Reaktorunglück kommen sollte, bleibt immer noch die Frage der Gerechtigkeit.

Was meinen Sie damit?

Das ist das zweite der drei theologischen Motive, die ich angesprochen habe. Wir müssen Gerechtigkeit vor allem aus der Perspektive derjenigen betrachten, die ihre eigenen Interessen nicht ohne weiteres wahrnehmen können. Die Atomenergie ist hier deshalb problematisch, weil sie für die künftigen Generationen hohe Belastungen generiert, ohne dass sie jemals etwas davon hätten – und ohne dass sie sich dazu hätten äussern können. Der Abfall aus den AKW lässt sich nicht so einfach zurückbauen, das wird unsere Nachfahren noch lange beschäftigen. Und dazu kommt, dass der Rohstoff, also das Uran, in falsche Hände geraten könnte.

Daran ändert ein AKW-Verbot in der Schweiz aber nichts.

Aber die Schweiz braucht spaltbares Material für den Betrieb der AKW, und sie produziert darüber hinaus Material, das aufbereitet werden könnte. Das allein scheint mir schon ein Problem. Die westlichen Länder haben hier eine Vorbildfunktion: Senden sie das Signal aus, dass Kernkraft die beste Energiequelle der Welt ist, eifern die Schwellen- und Entwicklungsländer dem nach. Wollen wir das, wenn wir bedenken, was man mit Kernkraft noch so alles anstellen könnte und wie hoch ihre Risiken sind? Ich bin der Meinung, dass Länder wie die Schweiz hier mit gutem Beispiel vorangehen sollten. Das würde die Entwicklung von erneuerbaren Energiequellen vorantreiben, was wiederum den ärmsten Ländern des Südens zugute käme. Solche Technologien scheinen mir dort ohnehin sinnvoller als die hochkomplexe und immens aufwendige Kernkraft.

Der Atomausstieg verursacht Kosten, die mit grosser Wahrscheinlichkeit von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Sehen Sie keine Gefahr, dass das vor allem die sozial Schwachen trifft?

In Deutschland gibt es tatsächlich eine grosse Debatte darüber, wer die Kosten des Umstiegs tragen soll. Für mich muss diese Frage aber ganz klar entlang der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger entschieden werden. Wenn man Investitionen in die Zukunft tätigt, die bestimmte Risiken minimieren, dann muss das solidarisch geschehen, damit nicht die Ärmsten den grössten Batzen zahlen.

Sie haben von drei theologischen Argumenten gesprochen. Was ist neben Gerechtigkeit und einem verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung das dritte Motiv?

Hier geht es um die Vorstellung eines guten Lebens. Das hängt für Christinnen eng mit der Rechtfertigung aus Gnade zusammen: Gott liebt uns, auch dann, wenn wir versagen und fehlgehen. Und gerade weil Gott uns für wertvoll hält, müssen wir unseren eigenen Wert nicht dauernd beweisen, indem wir andere durch Leistung oder Konsum zu deklassieren versuchen.

Und was hat das mit der Atomkraft zu tun?

Der Sinn des Lebens ist aus christlicher Sicht nicht der Zuwachs an Macht oder immer neuen Gütern, sondern der dankbare Umgang mit dem Nächsten und der Dienst an ihm. In der Nachhaltigkeitsdebatte würde man von Suffizienz sprechen. Das Versprechen der Kernenergie lautet dagegen, dass man immer mehr und immer mehr haben kann, ganz ohne Folgen, und das läuft jeglicher Suffizienzstrategie zuwider. Alle Effizienzmassnahmen im Energiebereich, die Umstellung unseres Lebensstils in Richtung 2000-Watt-Gesellschaft – die Atomkraft setzt dazu ein gegenteiliges Signal.

Das läuft auf einen Verzicht hinaus, was wohl die meisten Menschen zusammenschrecken lässt. Abstimmungen lassen sich damit erst recht nicht gewinnen.

Natürlich ist die Frage interessant, wer worauf wird verzichten müssen. Aus christlicher Perspektive ist aber klar, dass man nicht nur strategisch argumentieren kann – also wie man nun am besten eine Abstimmung gewinnt. Die christliche Perspektive ist nicht bigger, better, more, sondern Erfüllung, indem man dem Nächsten dient: das, was man tut, für andere zu tun. Natürlich gibt es Situationen, in denen das schwierig ist, aber meist kann man in seiner Arbeit, in der Familie, im Freundeskreis oder im Verein Gelegenheit dazu finden. Das mag kurzfristig nicht attraktiv klingen, macht das Leben aber nach meiner festen Überzeugung langfristig erst sinnvoll. Immer mehr zu haben ist dagegen nicht zukunftsfähig.

Der Westen muss also seinen Energieverbrauch senken.

Auf jeden Fall. Davon gehen übrigens auch die «Sustainable Development Goals» der Uno aus, die 2015 verabschiedet wurden. Während die «Millennium Development Goals» noch propagierten, dass die Länder des Südens in Sachen Entwicklung zu uns aufschliessen sollten, ist heute Konsens, dass wir uns ebenfalls bewegen müssen – und unseren Verbrauch beschränken müssen. Das leuchtet ja auch ein: Wie wollen wir den Menschen in Afrika oder Asien erklären, dass wir jetzt zweihundert Jahre lang bedenkenlos Ressourcen verbraucht haben, sie selber das nun aber nicht dürfen?

Halten Sie es für ein Problem, dass das Stimmvolk beim Thema Atomausstieg zu hundert Prozent abhängig ist von den Einschätzungen der Experten? Der Strommarkt ist hochkomplex, die Beurteilung der Sicherheit eines AKW sowieso, und wie Sie sagten, stehen hier Gutachten gegen Gutachten.

Das ist eine Schwierigkeit der direkten Demokratie, die sich auch bei anderen Abstimmungen zeigt – sie belastet die Bürger, die sich aufwendig informieren müssen. Aber ethische Entscheidungen geschehen oft unter Unsicherheitsbedingungen. Und wir haben ja die Gutachten, wir haben die ethischen Studien zur Kernkraft, zum Beispiel die Studie des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds zur Energieethik, die man einfach im Netz herunterladen kann. Man kann heute wissen, dass die Risiken sehr hoch sind, und man kann auch wissen, dass die Atomkraft Abfälle produziert, mit denen wir nicht umzugehen wissen. Aus meiner Sicht muss das für die Meinungsbildung ausreichen.

Von der Anti-Atomkraft-Bewegung der 80er Jahre, die stark christlich geprägt war, ist heute nur noch wenig zu spüren. Worauf führen Sie das zurück?

Nun, ich glaube, bei diesem Thema herrscht mittlerweile ein relativ breiter Konsens: Ein Ausstieg ist richtig, weil Atomenergie grundsätzlich problematisch ist. Auch der Bundesrat will ja nicht für immer mit dieser Technologie weiterfahren. Es geht ihm nur noch um die Frage, wie schnell die Schweiz aussteigt. Kernkraft ist also im deutschsprachigen Raum eine sterbende Grösse. Da haben vielleicht viele Menschen das Gefühl, dass sie sich auch nicht mehr über die Massen zu engagieren brauchen.

Am 27.November kommt die Volksinitiative «Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie», kurz Ausstiegsinitiative, zur Abstimmung. Sie verlangt, dass in der Schweiz keine neuen Atomkraftwerke (AKW) mehr gebaut werden dürfen und dass die Laufzeit der bestehenden Anlagen begrenzt wird. Demnach müssten drei von fünf Schweizer AKW – nämlich Beznau1 und 2 sowie Mühleberg – bereits nächstes Jahr vom Netz. Gösgen würde 2024 und Leibstadt 2029 abgeschaltet. Heute dürfen die AKW so lange laufen, wie sie sicher sind.

Neben dem Ausstieg verlangt die Initiative auch, dass der Bund seine Energiepolitik auf weniger Verbrauch, mehr Effizienz und die Förderung von erneuerbaren Energien konzentriert. Eingereicht wurde das Begehren von den Grünen, Unterstützung erhält es von der SP und den Grünliberalen. Die bürgerlichen Parteien sowie die grössten Wirtschaftsverbände sind dagegen, ebenso wie Bundesrat und Parlament.

Auch die Arbeitsgruppe Christen+Energie hat sich gegen die Initiative ausgesprochen. Die AG, deren Mitglieder vor allem in technischen Berufen sowie in der Politik tätig sind, argumentiert unter anderem mit dem CO2-Ausstoss. Dieser tendiere bei AKW gegen null. Die Anlagen spielten daher «eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die Klimaerwärmung», wie es in einem Positionspapier heisst. Ausserdem sei genügend Uran für die gesamte Menschheit vorhanden, man müsse «kein Raubbau auf Kosten künftiger Generationen» betreiben und hinterlasse diesen auch «keine unzumutbaren Folgen», da das Problem der Endlagerung technisch lösbar sei.

Ganz anderer Meinung ist der Verein öku Kirche und Umwelt. Die bisherigen Reaktorunfälle hätten gezeigt, dass die Menschheit nicht in der Lage sei, die Atom-Technologie vollständig zu beherrschen. Die Anlagen – der Schweizer AKW-Park ist der älteste der Welt – seien ein zunehmendes Sicherheitsrisiko, hielt der Verein im August in einer Medienmitteilung fest. Zudem bestehe noch immer keine Lösung für das Endlagerproblem, was der Generationengerechtigkeit diametral widerspreche. vbu

Torsten Meireis (52) ist Direktor des Berlin Institute for Public Theology und Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik und Hermeneutik an der Humboldt-Universität in Berlin. Während sechs Jahren und bis März 2016 lehrte er in Bern. Vor seiner akademischen Tätigkeit war er unter anderem als Schulpfarrer und Dozent für Religionspädagogik tätig. vbu