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Autorin: Corinne Holtz
Illustrationen: Sergiy Maidukov
Freitag, 06. Dezember 2019

Meine erste Schallplatte, abgespielt auf einem Lenco-Plattenspieler von Ex Libris, wehte die beiden Violinkonzerte von Bach in mein winziges Zimmer, das Hoheitsgebiet einer Achtjährigen. Ausgestattet mit Kajütenbett und Pult, in der Nische ein Büchergestell, dazwischen ein Notenständer und später mein erster Geigenkasten. Diese Platte war der Grund, warum ich Geige lernen wollte.

Endlich erlöst vom Blockflötenunterricht in einer von der Religionslehrerin gebändigten Truppe. Bach drang in mein Ohr und stürzte in mein Leben. Unbegreiflich für ein Kind, Bachs Musik. Obwohl mein Vater, Organist in einer katholischen Kirche, während meiner Taufe Bach gespielt haben soll. 1962 war das eine Kühnheit. Die Kirche sei kein Konzertsaal und Bach kein Katholik, entgegnete der Pfarrer. Mein Vater hielt an grosser Musik während der Gottesdienste trotzdem fest. Den letzten Sonntag seines Lebens verbrachte er auf der Orgelbank. Gut möglich, dass er noch einmal Bach spielte.

Bach als Person hatte viel mit meiner Herkunft gemein: Er war Organist wie mein Vater, wie er ernährte eine grosse Familie und erzog im Zusammenwirken mit einer resilienten Ehefrau seine Kinder. Noch mehr als Bachs Leben griff jedoch seine Musik nach mir und schuf einen Bund fürs Leben: heiss und kalt, klug und berührend. Wenn ich damals so etwas wie eine Ahnung dessen hatte, was Spiritualität sein könnte, dann durch Bach. Während ich als Kind fast jeden Sonntag in der Kirche war, dem Bachspiel meines Vaters lauschte, später für ihn die Noten umblätterte und auf Geheiss Register zog, reifte mein Überwältigtsein als Heranwachsende nach und nach zu einem Begreifen von Bachs Wirkungsmacht.

Es mag sein, dass nicht alle Musiker an Gott glauben, an Bach jedoch alle, sagte der Komponist Mauricio Kagel einmal. Hätte ich ein Credo, dann wäre es dieses. Bachs Musik erweckt in mir ein Gespür für Transzendenz, obwohl ich nicht religiös bin.

Himmelwärts

Die Nähe von Prophetie und musikalischem Genie ist alt. Die Suche nach Musikern, die als Götterboten gehandelt wurden, führt etwa in einen Bankettsaal in das katholische Mailand des 16. Jahrhunderts. Dort tritt der Lautenvirtuose Francesco da Milano auf, auch il divino – der Göttliche – genannt, wie später etwa auch der Komponist Claudio Monteverdi, und verwandelt sich vor seinem Publikum in ein «ekstatisches Werkzeug himmlischer Verzückung», so die Erinnerung eines Zeitzeugen.

Im protestantischen Norden verstrichen fast 200 Jahre, bis die Musik Johann Sebastian Bachs Richtung Himmel zu fahren begann. Seine Matthäuspassion erklang 1829, rund 80 Jahre nach seinem Tod, erstmals wieder vor Publikum: Der Komponist Felix Mendelssohn dirigierte die mit Spannung erwartete Wiederaufführung in Berlin und schob damit die Bachrenaissance an.

Bis heute arbeitet sich die Musikwissenschaft an Bach ab. Gelegentlich versucht sie seiner Musik mit den strengen Regeln der Physik beizukommen. Ihr Geheimnis sei Zeitlosigkeit bei gleichzeitiger Zeitgebundenheit, eingepasst in die Logik akkordischer Fortschreitung und Gipfel- und Endpunkt polyphoner Kunst. Will heissen: Bach greift alles auf, was kompositorisch hinter ihm liegt, und bringt in seiner mehrstimmigen Musik Intellekt und Emotion auf unverwechselbare Weise zusammen. Musik von Bach ist nach wenigen Sekunden als solche erkennbar. Sie entwickelt eine Wucht, die unmittelbar trifft.

«Selbst Friedrich Nietzsche, der Gott für tot erklärte, musste einräumen, dass mit Bach die seelenvolle Musik im Protestantismus ans Licht fand.»

Allerdings kann man mit Vernunft alleine dem Phänomen Bach nicht beikommen. Carl Friedrich Zelter, Kompositionslehrer Mendelssohns und Zeitgenosse der Aufklärung, hielt Bach für eine Erscheinung Gottes. «Klar, doch unerklärlich.» Und auch Friedrich Nietzsche, der Gott für tot erklärte, musste einräumen, dass mit Bach die seelenvolle Musik im Protestantismus ans Licht fand. Noch bis ins 20. Jahrhundert bezeichnen Bach­apologeten den Komponisten als «gotischen Dombaumeister» der Musik. Seine Musik strebt in die Höhe, übersteht auch mittelmässige Interpretationen und rettet Reste des Überirdischen in unsere säkulare Gegenwart.

Meine Zeit ist eine Zeit des Nicht-Glaubens. Als Kind beichtete ich ein einziges Mal. An die Untat, die ich zu gestehen hatte, erinnere ich mich nicht mehr. Aber an die schlechte Luft und an einen hinter dem Gitter sprechenden Mund eines Priesters. Vielleicht stiess mich diese unerwünschte Nähe ab. Jedenfalls erlöste mich meine Mutter von der Pflicht, in einem Beichtstuhl Sünden zu bekennen, und erteilte mir diesbezüglich die Absolution. Später schreckte mich die Verwandtschaft von Glauben und Aberglauben ab, schliesslich die Akkumulation von Herrschaft und Kapital in kirchlichen Strukturen, die Frauen ausschliessen. Lange vor den öffentlich gewordenen Übergriffen bin ich als junge Erwachsene aus der Kirche ausgetreten.

Anders Bach. Seine Kirchenkantaten unterzeichnete er wie viele andere Komponisten mit den Buchstaben SDG – Soli Deo Gloria, also Gott allein sei die Ehre. Als unzufriedener Angestellter des Kirchenrats der Mühlhauser Blasiuskirche in Thüringen, gerade einmal 23 Jahre alt, formulierte er 1708 erstmals eine Art Endzweck seines Schaffens: «eine regulierte Kirchenmusik zu Gottes Ehren». Statt mit mittelmässigen Musikern arbeiten zu müssen, die schlecht bezahlt und unmotiviert waren, wünschte er sich professionelle Verhältnisse und ein entsprechendes Budget für sein gottgefälliges Wirken.

Luthers geistiger Ziehsohn

Wer dem Schaffen von Bach, geboren 1685, auf die Spur kommen will, wird Luther, geboren 1483, begegnen. Beide sangen im Chor der städtischen Georgenschule Eisenach, beide waren als bedürftige Knaben der protestantischen Schule in der Kurrende. Das heisst, sie gingen im Chor von Tür zu Tür und trugen gegen Geld Choräle und Volkslieder vor.

Johann Sebastian war zehn, als seine Eltern kurz nacheinander starben. Daraufhin zog er als Vollwaise zu seinem ältesten Bruder Johann Christoph ins vierzig Kilometer entfernte Ohr­druf. Dieser war es vermutlich, der ihm das Spiel auf Clavichord, Cembalo, Orgel und das Komponieren näherbrachte.

Frühe Bachbiografen sehen allerdings in Luther den eigentlichen Erzieher des jungen Johann Sebastian. Der Dirigent und Bachspezialist John Eliot Gardiner nennt Luther den «wichtigsten Kanal, über den Bach Wissen über die Welt um ihn herum aufsog».

Bach umgab sich mit Luthers Schriften. Um die 100 theologische Bände, sechs Regalmeter umfassend, füllten die Bibliothek des Erwachsenen. Besonders häufig muss er in den fünfzehn Bänden des Reformators, den Schriften der lutherischen Orthodoxie und einer dreibändigen kommentierten Ausgabe des ­Luthertextes, der sogenannten Calov-Bibel, gelesen haben. Davon zeugen Bachs zahlreiche Notizen und Unterstreichungen.

So stiess er in den beiden Chronikbüchern auf die Tempel- und Sängerordnung und sah in ihnen das «Fundament aller gottgefälliger Kirchenmusik», wie er festhielt. Im fünften Kapitel des 2. Chronik-Buchs feierten die Versammelten in Gegenwart des Königs Salomon die Einweihung des Tempels fein angezogen, standen am Altar mit Zimbeln, Psaltern und Harfen, umgeben von 120 Priestern, die Trompete bliesen. Bach übersetzte diese Darstellung dem von einer Wolke erfüllten Raum und der Gegenwart Gottes in eigene Worte und legitimierte damit auch sein Wirken als Musiker: «Bei einer andächtigen Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.»

Bach könnte also Musizieren als Gotteserfahrung erlebt haben. Davon bin ich selbst weit entfernt. Und doch: Spiele ich Geige, dann gleicht das einem Gebet mit dem ganzen Körper. Täglich, wöchentlich, monatlich, über Jahre: den Bogen spannen, das Instrument stimmen, zu Ritualen des Einspielens finden, schwierige Stellen extrahieren, diese wiederum in sinnvolle Einheiten aufsplitten und in unterschiedlichen Rhythmisierungen und Tempi wiederholen, schliesslich das Stück als Ganzes aufführen.

«Übe ich Geige, dann hat das etwas vom Beten oder Summen eines Mantras. Ich vergesse die Zeit und ihre Drohungen. Der Wasserkocher pfeift, der Briefträger klingelt.»

Mein Üben hat etwas vom Beten des Rosenkranzes oder vom Summen eines buddhistischen Mantras. Ich vergesse die Zeit und ihre Drohungen. Der Wasserkocher pfeift, der Briefträger klingelt. Gegenwart ist allein das in Schwingung versetzte In­strument im Echoraum meiner selbst. Die Wiederholung bedeutet Versenkung und überführt mich in einen anderen Bewusstseinszustand. Dieser dauert je nach Befinden wenige Sekunden bis mehrere Minuten. Mystiker sprechen von einer Unio mystica, einem Einssein mit allem.

Wenn ich statt einer übernatürlichen Erklärung einen zugkräftigen Begriff aus der Psychologie ins Spiel bringen will, dann hätte nun der Flow seinen Auftritt: Bewegungen und Impulse entstehen fliessend, Handlung und Bewusstsein verschmelzen, das Spielgeschehen ist mühelos. Flow wird als mentale Hochleistung beschrieben, als Zustand erhöhter Kreativität und ­gesteigerter Lernfähigkeit. Flow ist Glück.

Dieses Fliessen war schon immer meine Droge. Flow statt Gras hiess die Losung meiner Jugendjahre. Die erste Zigarette, ein erstes Bier, das musste mit 14 Jahren sein. Andere wagten sich an Gras, das sie in der Provinzstadt, in der ich aufwuchs, mühsam beschaffen mussten. Bekiffte Schulkameraden fand ich bedauernswert, ich hätte nicht mit ihnen tauschen wollen. Das galt auch für diejenigen, die Jeans trugen. Diese Hose aus grobem Stoff war in unserer Familie verpönt. Stil hiess, auf Distinktion setzen, anders sein. So stieg ich mit Bügelfalten in den weiten Stoffhosen aufs Velo, trug Lederschuhe statt Turnschuhe, am Rücken den Geigenkasten, knapp dabei, den Zug nach Winterthur zu verpassen.

Der Ort war meine Rettung: Dort ging es um Musik, dort hatte ich wunderbare Lehrerinnen im Geigenunterricht, später einen charismatischen Chorleiter, den viele von uns verehrten. Ich mied Verehrung und Glauben und erforschte stattdessen die Musik auch als Mittel gegenseitiger Verführung. Glückhaftes Zusammenmusizieren kann eine ausgeprägt erotisierende Energie entwickeln. Sie ersetzte mir den Joint, den andere mit ihrer Angebeteten teilten. Auch deswegen fuhr ich acht Jahre lang jeweils am Samstag nach Zürich: zu den Proben des Schweizer Jugend-Sinfonie-Orchesters. Wenn es hinter dem Notenständer zu funken anfing, war das nie wegen der Musik allein.

Doch wie bringt Musik Spiritualität zum Klingen? Und wie schafft sie es, über Jahrtausende die Menschen auf dem Weg von aussen nach innen zu begleiten? Der Anfang unserer Suche nach dem Klang beginnt dort, wo alles beginnt: im Körper und in seiner Stimme. Das Brabbeln und Schreien ist der erste Ausdruck des Lebens überhaupt. Es beginnt noch vor der Sprache. Die Stimme unserer Mutter ist die erste Musik. Mütter singen zu ihren Neugeborenen mehr, als sie sprechen. Die Forschung hat herausgefunden, dass Menschen, die sich einem Baby zuwenden, melodiöser und um drei Halbtöne höher sprechen, als wenn sie sich an Erwachsene richten.

Stimmen können nicht lügen

Angeregt durch das, was früher Ammensprache hiess, finden wir im zweiten Lebensjahr zu den ersten Wörtern und etwas später zu den ersten Melodien. Die Grundlage dieser Klänge ist der Atem. «Gute Musik atmet» hat sich als Redewendung eingebürgert, wenn für einen kürzeren oder längeren Moment einer Performance alles stimmt. Die Herkunft des Wortes Atem verweist auf seine theologische Dimension. Ruach meint auf Hebräisch einerseits Atem und den göttlichen Hauch, der Leben spendet. Ruach steht aber auch für den Geist Gottes, der dem Winde gleich über dem Urmeer schwebt. Auch im Griechischen findet sich eine theologische Verknüpfung: pneuma bedeutet sowohl Luft, Hauch und Atem als auch Geist.

Noch vor jedem Instrument war es also die Stimme, die aus dem Inneren nach aussen dringt und andere erreicht. Singen ist Atmen innerhalb seiner selbst, ohne die Verlängerung des Atems nach aussen in ein Instrument. Musikalische Gestaltung heisst Phrasen eine Richtung geben, geleitet von der harmonischen Spannung und Entspannung. Ein Instrument schiebt sich zwischen den Atem und das Ich, während Singen die Persönlichkeit und das Intimste unverhüllt offenlegt. Stimmen können nicht lügen. Sing- und Sprechstimmen bewerten wir innerhalb weniger Sekunden als angenehm und gewinnend oder als abstossend und unsympathisch.

Ich sang bis 27, befreit von den Zwängen der Geige, dauerhaft in Chören. Vieles aus meiner Kindheit habe ich vergessen, nicht aber mein erstes Mitwirken an einer Aufführung der Matthäuspassion von Bach. Der Kinderchor durfte bei den Chorälen mitsingen. Wir hatten ausgiebig Zeit, die Instrumente zu bewundern und die Musiker zu beobachten. Um dann wieder einzutauchen in den Rausch der gemeinsam erzeugten Musik.

Magie aus Luft

Später sang ich in einer Kantorei, gegen Ende in einem Kammerchor mit mehrheitlich Erwachsenen. Wir waren jung, brachten Begeisterung und Selbstvergessenheit in den Kreis reifer Menschen. Die Werke waren anspruchsvoll, das Einstudieren hart. Viele Wochenenden vergruben wir uns im muffigen Saal eines Kirch­gemeindehauses, assen über Mittag belegte Brote, schälten ein Rüebli und tranken anschliessend klaglos den dünnen Kaffee aus den Thermosflaschen der Kirchgemeinde.

Das war der Preis für meine musikalischen Lehrjahre in einer wohlmeinenden, stressfreien Umgebung. Eine Gegenwelt zum Wettbewerb und Drill, den ich inzwischen im Geigenunterricht und unter Studienkollegen erfuhr. Im Chor begegnete ich grosser Musik ganz ohne Angst. Darunter war Die Sintflut von Willy Burkhard, eine harmonisch vertrackte Kantate, die uns an die Grenzen brachte. Anders gelagert die Herausforderungen bei der ebenfalls unbegleiteten Chormusik von Francis Poulenc. Sie verlangt geschmeidiges Französisch und Spürsinn für Klangfarben.

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Dazwischen machten wir immer wieder Halt bei Bach: In den Passionen war Durchhaltevermögen gefragt, in den Motetten chorische Virtuosität. Ungnädig etwa Lobe den Herrn: eine Motette mit vielen Koloraturen in hoher Lage, die uns zusetzte. Die Anspannung der Stimmbänder bei hohen Tönen muss balanciert sein, der Resonanzraum von Mund-, Nasen- und Rachenhöhle beweglich bleiben. Bach hiess uns unsere Begrenzung aushalten. Musik ist auch eine Mischung aus Masochismus und Magie. Allein erzeugt durch Luft, die in diesem Moment aus einer Kehle strömt.

Todesröcheln und Triumph

Musik ist nichts anderes als in Schwingung versetzte Luft, doch Schallpegel und Schalldruck verwandeln sich in Gefühle. Musik dehnt sich aus in Zeit und Raum und verschwindet wieder. Sie ist die vergänglichste der Künste und in ihrer flüchtigen Gestalt unverfügbar. So wie das Leben selbst. Sie ist Gegenwart und hallt nach, als Erinnerung. Sie ist flüchtig und gleichzeitig Struktur, Ordnung, Wiederholung. Sie entspringt einer Kulturtechnik und ist die Schwester des Kults.

Als Werkzeug kam sie zuallererst in Opferzeremonien zum Einsatz, in einem Ritual, das selbst grenzüberschreitenden Charakter hat. Menschen brachten Opfer zur Schlachtung, um damit göttliche Mächte zu besänftigen. Das blutige Ritual wurde von Musik und Musikinstrumenten begleitet, die Erregung im Zuge der Opferung von den Klängen befeuert oder abgefedert. Davon zeugen die frühesten Musikinstrumente: Sie sind fast ausnahmslos aus Schlachtopfern gefertigt. Es sind Flöten aus Knochen, Trommeln aus Fell, Hörner aus Horn und Saiten aus Darm.

Im Ablauf altgriechischer Opferriten kommt der Opferschrei (ololygé) der Frauen am Wendepunkt zum Einsatz. Er sollte das Todesröcheln des Tieropfers übertönen. Menschliche Stimmen und Instrumente mengten sich mit den letzten Atemzügen des sterbenden Tieres. Doch Opfertiere waren nur das Zweitkostbarste, um die Götter zu besänftigen. In vorchristlichen Rechtsordnungen zur Blutrache steht die Bemerkung, dass hundert Rinder einen Menschen aufwiegen und folglich eine Gottheit davon abzubringen sei, Menschenblut zu fordern. Am kostbarsten blieb also das Menschenopfer, bis sich im christlichen Verständnis Gott schliesslich selber opferte. Christus am Kreuz zeugt davon.

Bach im Bauch meiner Mutter

Vom Blutdurst der alten Götter ist nur etwas geblieben: der Opferschrei in Form des Jubels. Das hebräische halleluja ist mit dem griechischen ololygé verwandt. Einst bedeutete jubilat milvus den den Greifvögeln unterstellte Siegesschrei beim Erbeuten. Dieser wandelte sich in der späteren Kirchensprache zum Halleluja. Musikalischer Jubel ist der Bruder des Opferschreis: überhöhter Triumph, auch er weit entfernt von unschuldiger Freude.

Musik kommt vor der Sprache. Sie ist Erregung und Besänftigung, sie ist der Laut der Trauer und bringt den Triumph zum Beben. Sie trifft uns ohne Vorwarnung und löst unwägbare Emotionen aus. Wir alle kennen Gänsehautmomente, Chills genannt, die von der Emotionsforschung zwar vermessen, aber bisher nicht aufgeschlüsselt werden konnten.

«Die einen finden durch Musik zu Gott, andere zu sich selber, ich entfliehe für Momente den Zumutungen des Diesseits.»

Vorstellbar ist, das Chills Überreste eines uralten Warnsystems sind und uns rechtzeitig fliehen lassen. Heute dienen Gänsehautmomente meist anderen Zwecken: Die einen finden durch Musik zu Gott, andere zu sich selber, ich entfliehe für Momente den Zumutungen des Diesseits.Was würde ich also mitnehmen, müsste ich mein Land verlassen und mich an einem Ort mit unbekannter Sprache und Kultur durchschlagen?

Das Kochbuch mit den persönlichen Rezepten, weil essen für mich Lebenskunst ist und ich ausserdem als Migrantin lieber kochen statt putzen wollte. Und Bach ist auch im Gepäck. Die abgenutzten Noten der Sonaten und Partiten für Geige solo sollte ich dann noch spielen können. Wenn das nicht mehr geht, auch das Singen nicht, bleibt mir die Erinnerung. Sie behauptet, die Bindung an Bach habe spätestens mit meiner ersten Schallplatte begonnen. Bach drang allerdings schon früher an mein Ohr: als ich im Bauch meiner Mutter wuchs.