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Autor: Lukas Fuhr
Bilder: Sonja Och
Freitag, 19. März 2021

Als Christiane Maag zurückkehrt, scheint es, als habe kaum jemand mehr auf sie gewartet. Die Heilig-Kreuz-Kirche in Coburg ist zum Sonntagsgottesdienst um 10 Uhr fast leer. Einerseits ist das gut, jede zweite Reihe ist sowieso gesperrt, Corona-Kordeln riegeln sie ab. Andererseits ist es schade, dass kaum jemand sieht, was hier gleich passiert: Christiane Maag, die im Streit aus der Kirche ausgetreten ist, wird an diesem Septembersonntag wieder zur Pfarrerin.

Maag ist 47 Jahre alt, aber ihre Vergangenheit betrachtet sie nicht in Lebensabschnitten, sondern gleich als mehrere ganze Leben. Das erste, die Kindheit in München, war nicht schön, zumindest nicht nur. Es fühlte sich an, so beschreibt sie es, wie im Matsch zu versinken. Genauer will Christiane Maag das gar nicht sagen.

Sie hat das erste Leben jedenfalls selbst beendet, ausgerechnet mit einem Bekenntnis zum ewigen Leben: Maag, die in einem konfessionslosen Elternhaus aufgewachsen war, liess sich evangelisch taufen. Da war sie gerade 20. «Vor meiner Taufe hatte ich den Eindruck, ich gehe auf meinem Lebensweg vorwärts und versinke mit jedem Schritt im Matsch und komme einfach nicht gescheit weiter. Nach der Taufe war der Matsch zwar auch noch da, aber es war ein fester Boden drunter.»

Last des Pfarramts

Im Theologiestudium wollte sie den Matsch trockenlegen, Boden gewinnen, und irgendwann dachte sie sich, dass sie den Glauben doch auch zu ihrem Beruf machen könnte. Christiane Maag wurde Pfarrerin, ihr drittes Leben begann am 14. März 2004, dem Tag ihrer Ordination.

Und jetzt, einige Wochen nach dem Gottesdienst, sitzt Maag am Küchentisch in ihrer Wohnung am Hang unterhalb der Coburger Veste, einer grossen Burg, die die Kirchen der Stadt weit überragt. Sie will erzählen, warum ihr Pfarrerinnenleben im ersten Versuch doch nicht gelang. Sie spricht ruhig und schüchterner als viele andere, die diesen öffentlichen Beruf gelernt haben.

Schnell habe sie gemerkt, dass Pfarrerin sein beides ist: schön und schrecklich. Das Kleinteilige, Nahe an der Kirche nahm Maag für ihren Beruf ein. Schön fand sie all die tiefsinnigen Gespräche. Sie mochte es, Menschen in besonderen Momenten helfen zu können: die Trauung festlich gestalten, das Kind behutsam taufen, den Ehepartner würdig beerdigen.

Der weniger gute Teil war das, was Maag «die öffentliche Rolle des Pfarramts» nennt: Käsekuchen essen bei runden Geburtstagen älterer Gemeindemitglieder, Personaldebatten und Protokolle mit dem Kirchenvorstand abstimmen. Das Pfarrhaus bewohnen und vorzeigbar halten. «Diese Rolle auszufüllen, das hat an mir genagt.»

Ihren Frust schrieb sie in ihrem Blog auf, sie twittert auch schon seit zehn Jahren. Im Internet fand sie die Mitchristen, die ihr vor Ort oft fehlten. «Wo sind die anderen ?» fragte sie ihre Follower und meinte alle, für die die Kirche nicht vorrangig Käsekuchen essen ist.

Sie war etwa zehn Jahre im Amt, als ihr endgültig klar wurde, dass es eine wie sie – Akademikerin, etwa 40, Single – in ihrer Gemeinde kein zweites Mal gab. «Dann hab ich mich gefragt, würde ich zu den Veranstaltungen meiner eigenen Gemeinde gehen?» Christiane Maag feierte trotzdem weiter Gottesdienste, hielt durch und ihre Müdigkeit für normal. Gibt es nicht in jedem Beruf Dinge, die man nur ungern macht? Aber dann ging es irgendwann nicht mehr.

Als kurz nacheinander beide Eltern starben, liess ihr der Pfarrberuf keine Zeit zu trauern. «Das hat mich dann in die Krise gestürzt.» Heute erzählt sie das beinahe nüchtern. Doch wenn man in ihrem Blog die Einträge aus dieser Zeit liest, erlebt man wie bei so vielen Trennungen einen Streit, der schnell grundsätzlich wurde:

«Die Kirchen haben aus der Botschaft eines (wahrscheinlich) ledigen Wanderpredigers, den seine eigene Familie für verrückt hielt, eine bürgerliche Religion gemacht, deren berufliche Vertreter ein gutes Beamtengehalt bekommen und mietfrei wohnen», donnerte Maag im Mai vor sechs Jahren. «Das Unbehauste, Ungewisse, die Wüste, der steinige Weg … sind weggefallen zugunsten eines oft lauen Mixes religiöser Allgemeinplätze, die keinem wehtun, aber auch niemanden wirklich heilen. Ich finde, ‹wir› sind einfach nicht besonders glaubwürdig.»

Dass dieser Beruf einen in eine Krise führen kann, wundert Tilmann Haberer nicht. Er kennt Maag schon lange. In den neunziger Jahren kam sie als Studentin zu ihm in seine damalige Münchner Gemeinde, engagierte sich bei der Thomas­messe. Während in normalen Gottesdiensten kaum jemand fragt, ob es Gott wirklich gibt, richtet sich diese Feier gerade an die Zweifler. «Es hat gepasst, dass Christiane da mitgemacht hat.»

Nicht weil sie zweifelte, sondern weil sie Zweifel verstehen kann. «Sie nimmt ihre Überzeugungen sehr ernst, und das gilt dann auch für die anderen. Und mir war schon da klar, dass sie in der Kirche mancherorts anecken könnte. Ihr ging es nie darum, jede Woche im Altenclub schön Kaffee zu trinken.» Auch durchs Telefon kann man hören, wie viel Sympathie Haberer für Maags Ringen hat. Wenn er ihr schreibt, nennt er sie «Schwesterherz».

Als freischaffende Seelsorgerin begann Christiane Maag, gegen Geld Menschen zu begraben. Irgendwann fragte sie sich: «Was mache ich hier eigentlich, ohne meine Kirche?»

Mühe um das eine Schaf

Maag wollte für diejenigen da sein, die existenzielle Fragen hatten, aber kam nicht einmal dazu, sich Veranstaltungen auszudenken, wie sie diese Menschen von ihrer Coburger Gemeinde aus erreichen könnte. Sie mühte sich um das eine Schaf, das mit dem schrumpfenden Angebot einer schrumpfenden Volkskirche glücklich war, und hatte keine Zeit für die 99 anderen, die nie im Gottesdienst auftauchten. Maag sah die Kirche wanken, aber es war ihr persönliches Einsinken in der Trauer um ihre Eltern, das aus dieser Diagnose über die Kirche den Plan machte, aus dem Pfarrhaus ihrer Coburger Gemeinde auszuziehen.

Wenn eine Pfarrerin in Deutschland nicht mehr will, kann sie sich beurlauben lassen. Die Kirche zahlt keinen Lohn mehr, aber die Pfarrerin behält alle Rechte, kann zum Beispiel ehrenamtlich weiter Gottesdienste leiten. Das hatte auch Christiane Maag vor. Als freiberufliche Seelsorgerin begann sie ausserdem, gegen Geld Menschen zu begraben, die nicht in der Kirche waren, und Paare zu trauen – ähnlich wie vorher, nur ab jetzt ohne den Talar. Maag wusste, dass die Kirche diese Konkurrenz nicht schätzt. Aber dass der zuständige Dekan ihr gleich ein kirchliches Disziplinarverfahren androhte, war zu viel.

Der Austritt

Sie vereinbarte einen Termin beim Standesamt. Es war im November 2015, ein sonniger Tag im Spätherbst, an dem Frau Christiane Maag einen Standesbeamten verdutzte. «Ich habe ihm gesagt, ich will aus der Kirche austreten. Dann fragte er nach meinem Beruf.» Maag sagte: «Pfarrerin.» Hinterher fühlte sie sich nicht erleichtert, sondern bloss leer und müde.

Die für Coburg zuständige Regionalbischöfin Dorothea Greiner sagt heute, damals hätten beide Seiten Fehler gemacht. «Es war ein Schmerz, dass Frau Maag aus der Kirche ausgetreten ist.» Als Geschiedene fühlte sich auch Christiane Maag. Auf einmal hatte sie Heiligabend frei, Karfreitag frei, jedes Jahr am 14. März erinnerte sie sich an den Tag ihrer Ordination. «Das war wie der Hochzeitstag mit dem Ex.»

Maag stürzte sich in neue Kirchenlieben, ging eine Zeit zu den Altkatholiken, überlegte, römisch-katholisch zu werden. An Fronleichnam schloss sie sich den Katholiken auf ihrer Prozession durch Coburg an. Auch darüber hat sie gebloggt, sie schreibt von der «Jesus-Demo mit Lautsprechern» – und von einem Geiger am Coburger Landestheater, der vor ihr in der Prozession «schlurfte». Christoph wurde erst ihr Freund, dann ihr Mann.

Nach Jahren des Alleinlebens ist Christiane Maag mit ihrem Mann zusammengezogen, hat ihre Katze und die Kratzbäume mit in die Wohnung gebracht, die viel kleiner ist als das Pfarrhaus, in dem sie gelebt hatte.

Christoph Maag hat Kaffee gemacht und sitzt mit am Esstisch, wo seine Frau für dieses Portrait erzählt, wie ihre Glaubensgeschichte weiterging. Denn eine Glaubensgeschichte war das die ganze Zeit, Christiane Maag hatte die Kirche verlassen, nicht Gott, dem sie immer noch dankbar ist, dass er den Matsch unter ihren Füssen passierbar hält. Und dass er Wunder wirkt.

Als solches sieht sie ihre Beziehung, erst recht, seit sie mit über 40 schwanger wurde. Als während der Schwangerschaft bei ihr Eierstockkrebs diagnostiziert wurde, war noch ein Wunder nötig. Maag hielt wieder einmal durch, blieb ruhig, überstand die Chemo, überstand die OP, wurde Mutter eines gesunden Jungen, Korbinian.

Durch ein Wunder kann man leben, aber davon leben kann man nicht. Maag arbeitete weiter, oft im nahen Thüringen, wo nur wenige der Kirche angehören. Viel Arbeit für eine freie Trauerrednerin. Bei den Beerdigungen hielt Maag immer eine kurze Grabrede auf den Verstorbenen und setzte dann eine Schweigeminute an – damit sich die Angehörigen sammeln konnten und sie Zeit hatte, still ein Vaterunser zu beten. Dass sie von Gott redete, wollten ihre Kunden nicht. Aber sie brauchte diese kurze Besinnung auf das, was sie selbst am meisten tröstete.

Pfarrerin Maag hat sich vorgenommen, dass es dieses Mal klappen soll mit ihr und der Kirche.

Im Frühjahr 2019 beerdigte Maag dann einen Mann auf einem Coburger Friedhof, am 14. März, sie erinnert sich genau. Der Jahrestag ihrer Ordination. «Da habe ich mich gefragt, was mache ich hier eigentlich, ohne Talar, ohne meine Kirche?» Ein paar Tage später sass sie mit Christoph und Korbinian im Auto, auf dem Weg in den Skiurlaub in Tirol. Draussen schien die Sonne, drinnen im Auto war ihr alles klar. «Bisschen kitschig», sagt sie am Esstisch. «Na ja.» Christiane Maag wollte zurück.

Familie vor Kirche

«Das kam für mich aus heiterem Himmel», erzählt die Regionalbischöfin Greiner am Telefon. An sie hatte Maag einen versöhnlichen Brief geschrieben. Greiner antwortete sofort, wie sehr sie sich freue. Gut ein Jahr dauerte es, bis alle Kirchengremien den Fall beraten hatten, dann stand fest, dass Greiner sich Gedanken über einen besonderen Gottesdienst machen musste.

Für diesen «Gottesdienst anlässlich des Wiederanvertrauens der Rechte aus der Ordination» im Herbst 2020 gab es keine Vorlage. «Niemand in der Landeskirche kann sich an so etwas erinnern.» Bischöfin Greiner beschloss, den Ritus an eine Ordinationsfeier anzulehnen. «Neu ordinieren wollten wir nicht, das ginge gar nicht. Frau Maag hatte ja nicht ihre Ordination verloren, auch nicht mit ihrem Austritt.»

An diesem Sonntag im September gibt es doch einen Teil der Heilig-Kreuz-Kirche, der gut gefüllt ist. Vorne links im Mittelschiff sitzt Christiane Maag, umringt von Talarträgern. Regionalbischöfin Greiner ist da, der Dekan, andere Pfarrer aus Coburg und Freunde. Auch Maag trägt wieder Schwarz mit weissem Beffchen, nach Jahren in einer Reisetasche im Keller kommt der Talar aus der Reinigung. Sie steigt die Stufen in den Chor hoch, zu den bunten Glasfenstern, die einst der bulgarische König gespendet hat, und feiert Gottesdienst. In der Predigt kommt sie auf einen Vers aus dem 2. Timotheusbrief: «Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.»

Am Ende segnet Pfarrerin Maag die Gemeinde, sie könnte die Formel einfach sprechen. Aber Maag singt, hat gleich den alten, den richtigen Ton. Ihr Mann, wie bei Katholiken üblich, bekreuzigt sich, als sie das Kreuz in die Luft schlägt. Seine Frau ist wieder Pfarrerin.

Christiane Maag hat sich vorgenommen, dass es dieses Mal klappen soll mit ihr und der Kirche. Um sich nicht zu überfordern, steigt sie zunächst als ehrenamtliche Pfarrerin ein, hält zum Beispiel Gottesdienste, wenn in der Gegend Bedarf ist. «Jetzt steht meine Familie an erster Stelle. Es tut mir gut, dass es für mich nicht mehr nur die Kirche gibt», sagt sie später an ihrem Esstisch.

Sie sorgt sich nun, ob Korbinian mit Schnupfen in die Kita darf, wandert viel in der Fränkischen Schweiz und schreibt wieder häufiger auf ihrem Blog (Käsekuchen mag sie immer noch nicht, aber sie blickt jetzt versöhnlich auf die Gemeindemitglieder, die ihn gerne im Beisein der Pfarrerin essen). Einige Wochen später hält sie den ersten eigenen Gottesdienst. Den Organisten kennt sie noch von früher. Allerdings startet die Feier ein bisschen ungewöhnlich. Bevor die normale Liturgie losgeht, nimmt die Pfarrerin einen jungen Familienvater nach seinem Austritt wieder in die Kirche auf. Lustig, findet Maag. Ein Rückkehrer. So wie sie.

Lukas Fuhr ist freier Journalist.
Die Fotografin Sonja Och lebt in München.