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Freitag, 07. Dezember 2018

Mein erster Bergmanfilm war Das siebente Siegel. 1967 war das, ich war 17 Jahre alt und Gymnasiast in Biel. Der Film aus dem Jahr 1957 lief im Sonderprogramm eines Stadtkinos, das ein filmbegeisterter Lehrer zusammen mit dem Kinobesitzer für uns Gymnasiasten und die Studentinnen und Studenten organisiert hatte. Später sah ich dann noch viele andere Filme von Bergman, aber diese erste Begegnung prägte mich für immer. Es war die Zeit vor der Maturität, und ich schwankte, ob ich Naturwissenschaften oder Theologie studieren sollte. Dass ich schliesslich Theologe wurde, hatte auch mit Bergman zu tun.

Ich sass also im Kino und sah den Film, den Bergman im Mittelalter angesiedelt hatte und der direkt Bezug auf das letzte Buch in der Bibel nahm: die Offenbarung des Johannes. Die Öffnung des siebenten Siegels löst auf der Erde allerlei Schrecken und Plagen aus, und so ist auch die Stimmung im Film apokalyptisch. Seuchen, Leiden und Peinigungen sind zu sehen. Bergman stellt einen an Gott zweifelnden Glaubensritter ins Zentrum, der eine Schachpartie mit dem Tod spielt und diese schliesslich verliert. Am Ende zieht der Tod alle Gestalten mit sich in einen Totentanz vor untergehender Sonne. Ein Film, der mir ein ganzes Universum öffnete: Was heisst es, an Gott zu glauben? Warum muss dieser Glaube immer dem Zweifel ausgesetzt werden? Und wie kann er dem Tod standhalten?

Die Fragen des Glaubensritters trieben mich als jungen Menschen um. Die Bilder, die er dafür fand, brannten sich mir regelrecht ein. Von da an blieb Bergman mein theologischer Wegbegleiter.

Während der Dreharbeiten zum Siebenten Siegel entstand ein Foto, das viel über den Regisseur aussagt: Dort, wo üblicherweise der Ritter am Schachbrett sitzt, hat sich Bergman in der Pause niedergelassen und spricht nun mit dem Schauspieler, der den Tod spielt. Auch ich habe schon an dieser Stelle gesessen, wie wohl auch jede Theologin und jeder Gläubige.

Das Ringen mit dem Vater

Bergmans Werk ist durchdrungen von seiner Biografie. Er wuchs als Pastorensohn auf. In vielen seiner Filme verarbeitete er den Protestantismus seines lutherischen Elternhauses. Die Erziehung, die er als Kind erlebt hatte, diese Verbindung von rigider Religion und strenger Moral, ist ein wiederkehrendes Motiv. Vor allem in Fanny und Alexander aus dem Jahr 1982 inszenierte er die Strafen, die er und seine Geschwister im Namen Gottes erleiden mussten. Im Film werden die Geschwister mit dem Rohrstock gezüchtigt und in einer Garderobe eingesperrt. Dabei spielt ein überaus distanzierter und kalter Vater die Schlüsselrolle. Bergman lässt offen, ob es sich nur um den realen Vater handelt oder ein Stück weit auch um den religiösen Übervater, dem Bergman in vielen seiner Filme ebenfalls den Kampf angesagt hat.

Sein persönliches Ringen mit der erzieherischen Glaubensstrenge setzt er filmisch mit grösster Konsequenz um. Um das Totsagen von Gott ging es ihm dabei aber nie. Eher schon wollte er Gott von dem befreien, was Erziehung und Kultur aus ihm gemacht hatten. Bergman setzte sich immer wieder mit traditionellen Gottesbildern auseinander, um sich von ihnen freizukämpfen. Sie sind ein cineastischer Versuch, Gott zu begegnen. Bergman zitierte öfter einen Satz des amerikanischen Schriftstellers Eugene O’Neill: «Jedes Drama, das nicht von der Gottesbeziehung der Menschen handelt, ist wertlos.»

Bergmans Fragen nach Gott fielen in eine Zeit, in der dieser meist schon für tot erklärt wurde. Zwischen 1961 und 1963 realisierte er drei Filme, die auch als seine «Glaubenstrilogie» bekannt wurden.

Das Zusammenspiel der Dramen hat er einmal folgendermassen beschrieben: «Diese drei Filme haben mit einer Regression zu tun. Wie in einem Spiegel: die eroberte Gewissheit. Licht im Winter: die entblösste Gewissheit. Das Schweigen – das Schweigen Gottes – die negative Prägung. Deshalb bilden sie eine Trilogie.»

Der Titel Wie in einem Spiegel des ersten Films ist eine Anspielung auf Paulus. Am Ende seines Liebeshymnus im 1. Brief an die Korinther schreibt er: «Denn jetzt sehen wir alles in einem Spiegel, in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht.» Bergman verfolgt im Film die Frage, ob es gelingt, in menschlicher Liebe etwas von göttlicher Liebe zu erfahren, wenn auch nur in getrübter Spiegelung. So handelt der Film von einer psychisch kranken jungen Frau, die mit dem Vater, dem Ehemann und ihrem Bruder die Ferien in einem einsamen Haus am Strand verbringt. Sie hört Stimmen, die ihr die Ankunft Gottes ankünden. Doch dann erfährt die Frau eine Schreckensvision, die in ihr eine heftige Krise auslöst. Gott erscheint ihr als eine riesige Spinne, die ihr über den Leib läuft.

Regisseur Bergman am Filmset im Gespräch mit dem Schauspieler, der den Tod verkörpert. Die Fotografie entstand 1957 in einer Drehpause zu "Das siebente Siegel".

Während sie in die Klinik zurückgeführt wird, spricht der Vater am Strand mit seinem Sohn, der ihn um einen Gottesbeweis bittet. Damit will der Bruder die angstvolle Vision seiner Schwester überwinden. Es gebe keinen Beweis, sondern nur die Hoffnung, dass es in dieser Welt Liebe gebe, antwortet der Vater seinem Sohn. Das sei dann sicher eine spezielle Art von Liebe, antwortet der Sohn, worauf der Vater dies verneint und sagt, es könne jede Form von Liebe sein: «Die höchste und die niedrigste, die armseligste und die reichste, die lächerlichste und die schönste. Die besessene oder die krasse.» Und auf die Frage des Sohnes, ob das der Beweis sei, antwortet der Vater: «Wir können nicht wissen, ob die Liebe Gottes Existenz beweist oder ob die Liebe Gott selbst ist.»

Mit welcher Kraft Bergman an dieser Stelle Paulus aufgreift, um die Liebe in ihrem Kampf mit Angst, Einsamkeit und Verlorenheit zu schildern, berührt mich bis heute. In aller Ungewissheit muss sich bei Bergman am Ende dieses Filmes so etwas wie eine Überzeugung durchgesetzt haben, dass sich in allen Schwächen menschlicher Liebe dennoch göttliche Liebe offenbaren kann. Eine für ihn mühsam «eroberte Gewissheit», wie er es nannte, – und eine, die bereits im darauffolgenden Film wieder radikal zur Disposition steht.

Gott schweigt

Ausgerechnet ein Pfarrer stellt sie in Licht im Winter in Frage. Der zweifelnde Gottesmann, der im Film natürlich nicht zufällig den Namen Thomas trägt, ist vollständig liebesunfähig. Er hadert mit sich selbst und seinem Gott. Schliesslich gerät er in eine Krise, als ein Ratsuchender sich das Leben nimmt. Dieser suchte ihn zuvor für ein seelsorgerliches Gespräch auf, doch Thomas vermochte nicht zuzuhören, sondern redete nur über seine eigenen Zweifel an Gott. Als er vom Tod des Hilfesuchenden vernimmt, schreit Thomas wie einst der Gekreuzigte: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Diesmal endet der Film mit dem Eindruck der existenziellen Einsamkeit. Er verdichtet sich in dem Bild der Kirche, die leer bleibt.

Das Gefühl der Verlassenheit steigert Bergman im dritten und letzten Teil seiner Trilogie ins Unerträgliche. In Das Schweigen ist Anna mit ihrem 10jährigen Sohn Johann und ihrer todkranken Schwester Ester unterwegs nach Hause. Ihre rätselhafte Reise führt sie durch ein fremdes Land im Kriegszustand, in dem es stickig heiss ist und dessen Sprache unverständlich bleibt. Untergebracht sind sie in einem gespenstischen Hotel mit unendlich langen Fluren. Die zwei Schwestern bringen einander nur noch Hass entgegen, gespeist von ihrer Selbstverachtung. Während sich die laszive Anna im fremden Land, in dem es nur Männer gibt, in Liebesaffären stürzt und die Schriftstellerin Ester sich verzweifelt an ihre Übersetzungsarbeit und ihre Disziplin klammert, entdeckt der Junge im Hotel allerlei seltsame Gestalten. Nun ist Gott kein Thema mehr: Im ganzen Film herrscht nur noch drückendes Schweigen. Einzig über Bachs Musik entsteht ein kleiner Kontakt zwischen Ester, Johann und einem alten Kellner. Am Ende bekommt Johann von Ester für die weitere Reise ein Blatt, auf dem seine zurückbleibende, sterbende Tante ein paar Wörter der fremden Sprache übersetzt hat, unter anderem «Hand» und «Gesicht».

Die Trilogie endet mit einer Kommunikation unter Menschen, die auf das Äusserste reduziert ist. Unweigerlich stellt sich die Frage: Kann aus dieser radikalen «Regression», wie Bergman es nannte, noch etwas hervorgehen, oder muss er am Schweigen scheitern? Mein Versuch einer Antwort: Sein Suchen ging unablässig weiter – mit immer neuen Bildern, in immer neuen Geschichten, in der Spiegelung vieler Gesichter. In vielen scheint sich das Anlitz von Jesus zu spiegeln.

Verfremdete Christusfiguren sind ein zentraler Topos in Bergmans Filmen. Sie sind meist weiblich. Im Film Schreie und Flüstern aus dem Jahr 1972 wird die an einer seltsamen Krankheit leidende Agnes in ihrer Agonie von einer Magd und ihren zwei Schwestern begleitet. Aber die beiden Geschwister haben grosse Mühe, ihr Sterben zu akzeptieren. In einer Schlüsselszene tritt wieder einmal ein Pfarrer auf. Nach dem Tod von Agnes kommt er zu Besuch, um Vorbereitungen für die Bestattung zu treffen. Zunächst liest er ein Totengebet vor. Doch dann schliesst er plötzlich das Buch, kniet vor der Toten nieder und spricht ein Gebet zu ihr, in dem sich sehr viel von Bergmans Sehnsucht nach Gott kondensiert:

Dass der zweifelnde Gottesmann im Film Licht im Winter aus dem Jahr 1962 Thomas heisst, ist natürlich kein Zufall. Kaum ein Bergmanfilm, der nicht die Frage nach Gott stellt.

Ingmar Bergman wurde 1918 im schwedischen Uppsala in eine lutherische Pfarrfamilie geboren. Er gilt als eine der prägendsten Figuren des europäischen Autorenkinos des 20.Jahrhunderts. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Wilde Erdbeeren, Fanny und Alexander, Das siebente Siegel und die ursprünglich als Fernsehproduktion realisierten Szenen einer Ehe. Bergmans Dramen sind autobiografisch geprägt. Die Kindheit als Pastorensohn, der Tod, die Suche nach Gott, die Einsamkeit des Menschen und das Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen sind wiederkehrende Themen im Bergmanschen Universum. Gemeinsam mit seinem langjährigen Kameramann Sven Kykvist entwickelte er eine Bildsprache, die von langen Nahaufnahmen und spezieller Licht- und Schattensetzung geprägt ist. Im Zentrum von Bergmans Filmen stehen oft Frauenfiguren. Einige seiner Darstellerinnen waren eine Zeitlang auch Lebensgefährtinnen von Bergman, so etwa Liv Ullmann und Bibi Andersson. Bergman war fünfmal verheiratet und hatte insgesamt neun Kinder. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er auf der abgeschiedenen Ostseeinsel Fårö, wo er 2007 im Alter von 89 Jahren verstarb. 1997 wurde Bergman in Cannes als «bester Filmregisseur aller Zeiten» geehrt. su

«Wenn du unser Leiden in deinem armen Körper vereint hast, wenn du es mit dir durch den Tod getragen hast, wenn du Gott dort in dem anderen Lande begegnest, wenn er sein Angesicht dir zuwendet, wenn du dort eine Sprache sprechen kannst, die dieser Gott versteht, wenn du dort sprechen kannst mit diesem Gott … Wenn es so ist – bitte für uns, Agnes, liebes Kindchen, höre, was ich dir jetzt sage. Bitte für uns, die wir hiergeblieben sind auf dieser dunklen, schmutzigen Erde unter einem leeren und grausamen Himmel. Lege deine Bürde des Leidens Gott zu Füssen und bitte ihn, uns zu begnadigen, bitte ihn, uns endlich zu befreien aus unserer Angst, unserem Überdruss und unserem tiefen Zweifel. Bitte ihn um einen Sinn für unser Leben, Agnes, die du so unfassbar und so lange gelitten hast, du musst würdig sein, für uns zu sprechen.»

In der darauffolgenden Nacht wacht die tote Agnes in einer traumartigen Szene wieder auf: Sie kann nicht sterben, es ist ihr kalt, sie bittet um Aufnahme und Zuwendung. Die zwei Schwestern schrecken zurück; allein die Magd öffnet sich dem Leiden und nimmt die Tote auf ihren Schoss, drückt sie an ihre Brust. Die Inszenierung erinnert an die Pietà-Bilder der Kunstgeschichte. In sinnlicher Weise wird die mütterliche Wärme der Magd dargestellt.

Es ist die radikale Menschlichkeit der Erlösung, mit der mich Bergman tief berührt. Sie vollzieht sich in der Gestalt menschlicher Zuwendung. Gott zeigt sich in menschlichen Beziehungen – und vielleicht nur dort. Womöglich ist das Bergmans Art, dem menschgewordenen Gott gerecht zu werden. Gott ist dann nicht eine ferne Transzendenz, sondern eine lebensnahe Präsenz. Oder mit Dietrich Bonhoeffer gesprochen: «mitten in unserm Leben».

Tanz mit dem Tod

Bergmans Filme handeln von Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung, Zuversicht und Angst, Freude und Leiden, Glaube und Ungewissheit. Seine zweifelnden Figuren erinnern an den Vater des epileptischen Kindes in Markus 9, der zu Gott fleht: «Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!». Diese paradoxe Spannung ist Bergmans Grundthema. Nichts ist als gesichert zu haben: Der Glaube kämpft mit dem Unglauben, Freude schimmert durch das Leiden hindurch, Zuversicht wird in Angst erprobt, Gewissheit bleibt angefochten.

Bergman mutete seinen Protagonisten, allen voran seinen wunderbaren Frauenfiguren viel zu, inszenierten sie doch auch immer das Drama des Filmers.

2007 verstarb Bergman. Eine Frage ist für mich bis heute geblieben: Konnte er auch so etwas erfahren, wie es sich der Pfarrer in Schreie und Flüstern von Agnes erhoffte? Also Begnadigung, Befreiung aus der Angst und dem Zweifel, Sinn für das Leben? In diesem Jahr ist von seiner Tochter, Linn Ullmann, die aus der Liebesbeziehung zur Schauspielerin Liv Ullmann hervorging, der autobiografische Roman Die Unruhigen erschienen. Geplant war ursprünglich ein gemeinsames Buch, in dem sie mit ihrem Vater über das Älterwerden schreibt. Dazu kam es aber nicht mehr. Nun verarbeitet sie im Roman die Gespräche mit ihrem Vater, die sie zuvor auf Tonband festhielt.

In einem der Gesprächsfetzen fragt Linn ihren Vater Ingmar nach dem Zweifel an Gott. Dieser distanziert sich davon und spricht von überwundenem Zweifel und von einem Glauben, der voll und ganz gelte, auch wenn er Gott nicht zu begreifen vermöge. «Ich kann hier draussen stehen, … umgeben vom Meer und den Wolken und mich überkommt ein Erlebnis von … Gegenwart.»

Vielleicht war es dieses Gegenwartserlebnis, das ihm erlaubte, seine geschiedene, einsame Tochter für den Heiligabend einzuladen und mit ihr in den Weihnachtsgottesdienst zu gehen. An diesem Abend besuchten sie ausgerechnet die Kirche, in der sein eigener Vater dreissig Jahre lang gepredigt hatte – und mit dem er Zeit seines Lebens gerungen hatte.

Am Ende ihres Buches erzählt Linn Ullmann von der Beerdigung Bergmans auf der Insel Fårö im Sommer 2007. Ihre Schilderungen erinnern an die Schlussszene im Siebenten Siegel: «Aus der Ferne mag es aussehen, als tanzten sie dahin. Die Sargträger gehen mit dem Sarg zwischen sich als erste, dann die Pfarrerin, dann die Familie, dann die Schauspieler, dann die Freunde, dann die Nachbarn und der Bekanntenkreis von der Insel und am Ende die drei Männer vom Beerdigungsinstitut, die Arme voller grosser, roter Rosen. […] Es mag aussehen, als würden die Menschen in dem Trauerzug sich an den Händen halten und einander in einer langen, langen Reihe vorwärtshelfen.»

Pierre Bühler ist emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität Zürich.