Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Bilder: Michel Gilgen
Freitag, 16. September 2022

Noch ist der Morgen kühl und frisch in Genua. Die aufgehende Sonne wirft einen Schatten auf das noble Castelletto-Quartier im Stadtzentrum. Sobald sie hoch am Himmel steht, wird es in der ligurischen Hafenstadt heiss und feucht.

Pfarrer William Jourdan steht in Jeans und Poloshirt an der befahrenen Via Assarotti vor einem Haus aus dem 19. Jahrhundert. Ein schweres Holztor, darüber die Inschrift: CHIESA EVANGELICA VALDESE. «Willkommen bei den Waldensern», sagt William Jourdan freundlich und weist den Weg ins Innere der Kirche. Das Gotteshaus ist gross, mit Erdgeschoss und Empore. Marmor und Holz dominieren die schlichte Einrichtung. In Zehnerreihen stehen die Bänke, und ganz vorne, hinter einem Kreuz, wurden die Worte DIO E AMORE – Gott ist Liebe – in Stein gemeisselt.

Noch vor 150 Jahren hätte diese Kirche nicht an solch zentraler Lage in Genua stehen dürfen. Den Waldensern waren von der Strasse zugängliche Kirchen verboten, sie wurden in die Obergeschosse und Hinterhäuser verbannt. Kein katholischer Passant sollte mit dem Glauben der Waldenser konfrontiert und womöglich angelockt werden.

Dieses Gesetz reiht sich ein in eine Geschichte der Diskriminierung und Verfolgung der Waldenser. Sie begann, als im 12. Jahrhundert Petrus Valdes, ein Kaufmann aus Lyon, beschloss, seinen Besitz zu verkaufen, fortan als Wanderprediger unterwegs zu sein und das Evangelium zu predigen. Etwas, das strikte dem Klerus vorbehalten war. Valdes und seine Anhänger lehnten zudem wichtige Pfeiler des Katholizismus ab. Sie waren etwa gegen die Heiligenverehrung und den Ablass.

Eine Winterreise

Mein Freund Samuel wuchs in der Gemeinschaft der Täufer auf – ...

März 2017
Susanne Leuenberger
Michel Gilgen

Diese Bewegung weckte den Zorn der katholischen Kirche. Die Waldenser wurden als Ketzer geächtet. 1231 setzte Papst Gregor IX. die Inquisition gegen sie ein. Es folgten Jahrhunderte der Verfolgung, in denen es wiederholt zu Fluchtwellen durch Europa kam. In einigen Regionen wurde die Glaubensgemeinschaft beinahe ausgelöscht. Eine grosse Anzahl Waldenser liess sich dagegen im Gebiet zwischen Italien und Frankreich nieder, das heute das Piemont ist – und das Zentrum der Waldenserkirche.

1532 schlossen sich die Waldenser der Reformation an. Nach weiteren Verfolgungen und Anfeindungen wurden sie 1848 den anderen italienischen Bürgern gleichgestellt, sie durften also etwa Grundstücke erwerben oder ihren Beruf frei wählen. Doch erst 1984 erreichten sie die volle Religionsfreiheit.

Ein Paar, zwei Kirchen

Damals war William Jourdan zwei Jahre alt. Er stammt aus einer Waldenserfamilie, die fest im Piemont verwurzelt ist. Sein Vater war zeitweise der Älteste der Kirchgemeinde, eine ehrenvolle Position. Seine Mutter organisierte viele Aktivitäten innerhalb der Chiesa valdese. «Der Glaube war mein fixer Horizont, der Raum, in dem ich gross geworden bin», erzählt William Jourdan. Er besuchte die Sonntagsschule. Machte mit in der Jugendgruppe.

Pfarrer William Jourdan

Vom Kindergarten bis ins Gymnasium besuchte er Einrichtungen seiner Glaubensgemeinschaft. Für das Studium der Theologie musste er die Heimat verlassen; die Waldenserfakultät liegt in Rom. Dieser Wechsel von den beschaulichen Tälern Norditaliens in die italienische Hauptstadt sei aufregend gewesen. «Ich hatte Rom vorher noch nie gesehen», sagt er. Da sei er nun in der ewigen Stadt gestanden, mit seinem Rucksack, und habe gestaunt über die vielen Menschen und breiten Strassen. Die Studienzeit sei intensiv gewesen, die vertiefte Beschäftigung mit dem Glauben beglückend. «Mir wurde klar, dass ich Pfarrer werden wollte.»

Heute, mit 40 Jahren, führt William Jourdan eine der beiden Waldenserkirchen in Genua. Die zweite Chiesa valdese in der ligurischen Hauptstadt steht in Sampierdarena, einem Arbeiterquartier, in dem viele Ausländerinnen und Ausländer wohnen. Die Pastorin der Kirche in Sampierdarena kennt William Jourdan gut, es ist seine Ehefrau: die gebürtige deutsche Methodistin Ulrike Jourdan.

Die beiden lernten sich während des Studiums in Rom kennen. Es folgten Studienaufenthalte in Heidelberg und Lausanne. Dann gründeten sie eine Familie, bekamen zwei Kinder. Die Jourdans arbeiteten einige Jahre im Veneto, vor fünf Jahren zogen sie nach Genua. Es gebe Gemeindemitglieder, die sich schon scherzhaft gesorgt hätten um den Sohn und die Tochter, die «zu bemitleiden seien, mit beiden Elternteilen als Pfarrer», sagt William Jourdan lachend.

Genau hier sieht die genuesische Waldenser­kirche ihre Aufgabe: den Vertriebenen, den Kranken und Armen in der Hafenstadt zu helfen.

Offensichtlich gibt es keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Als Jourdan in die Familienwohnung im Dachgeschoss des Hauses vorausgeht, tauchen neugierige Kinder im vorpubertären Alter auf, die freundlich grüssen. Die Wohnung ist gross, gemütlich, mit vollen Bücherregalen und Erinnerungen aus allen Ecken der Welt. Zur Wohnung gehört eine grosse Terrasse, die freien Blick über die Dächer von Genua bietet. «Einen echten Segen während des strengen Lockdowns» nennt Ulrike Jourdan die Aussicht. Und ihr Mann fügt schon fast entschuldigend an, er wisse, wie privilegiert die Familie wohne.

Während Ulrike Jourdan – ihr Mann nennt sie Uli – im Wohnzimmer Kaffee serviert, erzählt William Jourdan eine Anekdote über die Nachbarschaft der Via Assarotti. An der gleichen Strasse, in Sichtweite, steht die katholische Basilica Santa Maria Immacolata. Die Kirche, gebaut im Renaissancestil, war die erste in ganz Italien, die dem Dogma der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria gewidmet war. In Auftrag gegeben hatte sie im frühen 19. Jahrhundert der damalige Erzbischof von Genua, ein gewisser Andrea Charvaz. Dieser Charvaz war zuvor Bischof im Piemont gewesen und hatte dort die Waldenser und ihre religiösen Überzeugungen erbittert bekämpft, bevor er das Piemont Richtung Ligurien verliess. «Und dann kommen die Waldenser und setzen ihm ihre Kirche an derselben Strasse praktisch vor die Nase», erzählt William Jourdan, und um die Augen bilden sich kleine Lachfältchen.

Harte Hafenstadt

Vier Stockwerke weiter unten, in den Büros der Kirchgemeinde, sitzt Veronica Colleoni vor ihrem aufgeklappten Laptop. Anders als in der Pfarrerswohnung ist das Ambiente betont funktional; das zusammengewürfelte Mobiliar verdeutlicht: Hier wird ­gearbeitet. In einem Zimmer steht ein Klavier, an den Wänden hängen Erinnerungsfotos, Bilder und Weltkarten.

Colleoni ist Sozialarbeiterin und arbeitet für die wohltätigen Projekte der lokalen Waldenserkirchen. Darunter fallen die sogenannten humanitären Korridore. Seit 2016 holen die Waldenser zusammen mit der evangelischen Kirche und der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten nach Italien, wo ihnen ein neues Leben ermöglicht werden soll. Seit Beginn der humanitären Korridore wurden über 4000 Menschen auf diese Art und Weise in Italien aufgenommen.

In den Räumlichkeiten der Waldensergemeinde werden unter anderem Kleiderspenden für Bedürftige gesammelt.

In Genua wird für den nächsten Tag eine achtköpfige Familie aus Afghanistan erwartet, ein Kind der Familie leidet unter einer seltenen Krankheit und soll durch einen genuesischen Arzt behandelt werden. Veronica Colleoni überprüft die letzten Details vor der Ankunft. «Genua ist eine offene Stadt, wie es Hafenstädte sind», sagt sie. Gleichzeitig sei es eine harte Stadt, in der arme oder kranke Menschen schnell durch die Maschen fallen würden.

Genau hier sieht die genuesische Waldenserkirche ihre Aufgabe: den Vertriebenen, den Kranken und Armen in der Hafenstadt zu helfen. In zwei Sozialwohnungen finden Bedürftige für eine gewisse Zeit Unterschlupf, sollen wieder zu Kräften kommen können. Veronica Colleoni erzählt von einer ungewöhnlichen Lebensgemeinschaft in einer der beiden Sozialwohnungen: Seit einigen Monaten teilen sich diese zwei italienische Rentnerinnen und eine Familie aus Gambia.

In den Sozialwohnungen der Waldenser werden Menschen aufgenommen, die sonst nirgendwo hinkönnen – wie diese Familie aus Gambia.

Anfänglich sei es schwierig gewesen: «Da trafen zwei Kulturen aufeinander, die im italienischen Alltag kaum Berührungspunkte haben.» Mittlerweile hätten sich zwischen den Bewohnerinnen jedoch zarte Verbindungen ergeben. Die älteren Italienerinnen hüten als eine Art Ersatz-Nonnas die Kinder der gambischen Frauen, im Gegenzug erledigen die Migrantinnen die Einkäufe für die Rentnerinnen. Manchmal kochen und essen sie gemeinsam. «Zusammen sind sie weniger allein», sagt Veronica Colleoni.

Breite Unterstützung

Finanziert werden diese wohltätigen Projekte der italienischen Waldenserkirche mit den «8 per mille». Mit «8 per mille» sind 0,8 Prozent des steuerpflichtigen Einkommens jedes Italieners und jeder Italienerin gemeint.

In Italien gibt es keine eigentliche Kirchensteuer. Jedoch kann jeder Steuerzahler diese 0,8 Prozent einer religiösen Institution seiner Wahl zukommen lassen. Wer das nicht möchte, überlässt sie dem Staat.

Die Waldenser legen öffentlich Rechenschaft über diese Gelder ab. Online – www.ottopermillevaldese.org – ist einsehbar, dass sie im Jahr 2020 über 27 Millionen Euro durch die «8 per mille» eingenommen haben. Und kein Cent davon floss in den eigentlichen Kirchenbetrieb, weder in die Gehälter der Pfarrerinnen und Pfarrer noch in den Unterhalt der Kirchen. Mitgliederbeiträge und Spenden decken die Löhne.

Warum diese strikte Trennung der Finanzen? Das habe historische Gründe, erklärt Alessandra Trotta. Die 54jährige sizi­lianische Anwältin ist seit 2019 «moderadora», Präsidentin der Waldenserkirche. Unabhängigkeit gegenüber institutioneller Macht sei zentral für das Selbstverständnis vieler Waldenser. «Unsere Vorfahren haben gelernt, dem Staat, der einen verfolgen kann, zu misstrauen», sagt sie im Zoom-Interview. Das sei immer noch in den Köpfen.

Parterre-Verbot: In Genua kam die Empore vor einem Fenster zu liegen – was dazu führt, dass sich dieses kaum mehr öffnen lässt.

«Wir sind ja in der Tat eine verschwindend kleine Minderheit, in einem überwältigend katholischen Land», gibt sie zu bedenken. Und fügt lachend an, man leide nicht unter einem Minderwertigkeitskomplex. Im Gegenteil: Man sei sich seiner besonderen Geschichte bewusst – und stolz darauf.

Dass die Waldenser das Geld aus den Steuerbeträgen für wohltätige Zwecke verwenden, kommt offensichtlich an. Zwar zählt die Chiesa valdese heute nur noch 20 000 Mitglieder, jedoch haben ihnen im letzten ausgewiesenen Jahr 570 000 ­Italienerinnen und Italiener ihre «8 per mille» zugeschrieben.

Grosse Pläne für das Arbeiterquartier

Die Autofahrt von der Via Assarotti nach Sampierdarena dauert bei wenig Verkehr eine Viertelstunde. Pastorin Ulrike Jourdan beweist im Auto italienisches Temperament und Furchtlosigkeit, rasant fährt sie ihren Wagen durch die engen Gassen auf die Autobahn, während sie von der Arbeit in «ihrem» Quartier erzählt.

Lange Zeit sei Sampierdarena eine eigene Stadt gewesen, bis sie dann mit Genua zusammengewachsen sei. Noch immer würden ältere Einwohner Sampierdarenas sagen, sie würden «nach Genua fahren», wenn sie im Zentrum einkaufen gehen. In anderen Quartieren Genuas wiederum würde man über Sampierdarena nicht selten die Nase rümpfen. «Das Viertel hat ein Imageproblem», sagt Ulrike Jourdan. Im traditionellen Arbeiterquartier leben inzwischen viele Migrantinnen und Migranten aus Lateinamerika. Die Zeitungen berichten von Drogenhandel und Prostitution.

«Hier werden Menschen, die sich im Hafen die Hände schmutzig machen, die hart arbeiten, respektiert. Die sind jemand.» Ulrike Jourdan

Aber für sie sei Sampierdarena ein wunderbarer Ort, um als Pastorin zu arbeiten, sagt Jourdan. In ihrer Kirche beten Arbeiter. Während bei ihrem Mann an der Via Assarotti eher traditionell eingestellte, vermögendere Waldenser in die Kirche gehen und noch im Talar vom hohen Pult gepredigt wird, trage sie beim Gottesdienst einfach Hemd und Hose oder ein Kleid. Und man dürfe ein bisschen experimentieren bei der Wahl der Lieder.

Das Auto passiert die Gegend um den Hafen. Ulrike Jourdan zeigt mit dem Finger aus dem Autofenster auf Lastkräne und Container. Sie sei froh, sagt sie, dass ihre Kinder in Genua aufwachsen würden. «Hier werden Menschen, die sich im Hafen die Hände schmutzig machen, die hart arbeiten, respektiert. Die sind jemand.» Das seien wichtige Werte.

In Sampierdarena angekommen parkiert die Pastorin ihr Auto auf einem kleinen Platz. Man wähnt sich in einem Dorf: Vor einer Bar sitzen Leute und trinken Kaffee, ein paar Kinder spielen Fussball. Eine Kirche würde man hier nicht vermuten, wenn nicht ein weisses Schild über zwei geschlossenen Ladenlokalen hängen würde: Chiesa evangelica valdese steht darauf. Ulrike Jourdan steigt aus, schaut sich um und lächelt: «Als ich diesen Platz das erste Mal gesehen habe, wusste ich: hier möchte ich Pastorin werden.» Dann steckt sie einen Schlüssel in ein Schloss in der Hausfassade, worauf sich die automatischen Metallstoren langsam heben.

Pfarrerin Ulrike Jourdan

Im Innern der Kirche sieht nichts nach einem Gotteshaus aus, es ist eine Baustelle. Die Möbel stehen mitten im Raum, sind zugedeckt von schweren Plastikblachen. Auf dem Boden liegen Werkzeuge und Farbkessel. Staubpartikel tanzen durch die Luft, es riecht nach Chemie. «Eigentlich wollen wir die Kirche neu streichen», sagt Ulrike Jourdan. «Aber wir haben Ärger mit den Handwerkern», fügt sie entschuldigend an. Sie geht in den Raum nebenan, auch hier eine Baustelle. Hier entsteht das Community-Center der Gemeinde.

Die Pastorin zeichnet mit der Hand in die Leere, skizziert, wie der Raum aufgeteilt werden soll und wo die Küche und das Bad hinkommen. Migrantinnen sollen hier künftig Italienisch lernen, Kinder nach der Schule Hausaufgaben machen, Expertinnen über Erziehung oder Sexualität reden. «Ich denke, jedes Viertel braucht so einen Platz, einen Anlaufpunkt für seine Bewohnerinnen.» Ulrike Jourdan will das Zentrum mit einem Fest noch im Herbst eröffnen – sofern die Handwerker ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Chic und Schmutz: Blick von einer Aussichtsplattform über die Dächer Genuas bis hin zum Hafen.

Zurück im Castelletto-Quartier: Pfarrer William Jourdan arbeitet in seinem Büro. An einer Wand beim Eingang hängen mehrere Reihen schwarzweisser Fotos, es sind Portraits seiner Vorgänger hier in Genua. Einige von ihnen kannten bessere Zeiten, früher war die Kirche voll. Noch vor 30 Jahren, erzählt Jourdan, seien an gewissen Sonntagen über 400 Menschen gekommen und hätten der Predigt zugehört. Heute zählt seine Gemeinde noch 120 Gläubige, nicht alle besuchen den Gottesdienst.

Im Bemühen, ja nicht als missionarisch zu gelten, seien die Waldenser fast zu vorsichtig geworden, zu still. Es mache ihn nachdenklich, dass die sozialen Projekte seiner Kirche von so vielen Nicht-Waldensern unterstützt würden, die oft gar nicht wüssten, dass es sich bei den «Valdesi» um eine Glaubensrichtung handle. Er wolle nicht, dass seine Kirche als reine NGO wahrgenommen werde. Die Bibel, das Evangelium sei das Fundament von allem. «Evangelium heisst frohe Botschaft. Und eine frohe Botschaft dürfen wir ruhig verkünden.»

Vorbild für Schweizer Reformierte?

In dieser Hinsicht geht es der Chiesa valdese ähnlich wie den meisten Kirchen in Westeuropa. Ihre spirituelle Botschaft wird immer weniger gehört, die Mitgliederzahlen gehen zurück

Einer, der sich intensiv mit den Waldensern, ihrer Geschichte und den Herausforderungen der Gegenwart beschäftigt hat, ist Martin Hirzel. Er sagt: «Die Waldenser haben es nicht einfacher als andere Kirchen. Aber sie machen manche Dinge besser.» Der Kirchenhistoriker steht am Ufer des Bielersees auf einem Steg, der vom Hafen in den See führt. Auf dem Wasser kreuzen sich die Kursschiffe auf ihrem Weg von Biel nach Erlach, dazwischen wuseln kleine Segelboote. Und beim Strandbad neben dem Hafen schwimmen Schulkinder.

Plötzlich fährt ein mittelalterlich anmutendes Boot vorbei, mit einer Gruppe Jugendlicher darauf. Einer schlägt eine Trommel, der Wind trägt den Rhythmus über das Wasser. Ein unerwarteter Moment der Synchronizität. Gerade hatte Martin Hirzel angesetzt zu erzählen, wie die Waldenser hier, an den Ufern des Bielersees, vor über 300 Jahren auf solchen Weidlingen über das Wasser transportiert wurden. Wie so oft in der Geschichte hatten sie fliehen müssen, zu Fuss aus Norditalien, über Genf dem Jurasüdfuss entlang bis ins Berner Seeland. Und dann weiter Richtung Norden und Nordwesten Europas. Dabei trafen sie in Teilen auf die Hugenotten, die zur selben Zeit aus Frankreich flohen.

Kirchenhistoriker Martin Hirzel

Dass man heute so gut über ihre damaligen Fluchtwege durch die Schweiz Bescheid weiss, sei der intensiven Forschung in den 1970er und 1980er Jahren zu verdanken, sagt Martin Hirzel. «Da haben die Nachkommen der damals Geflüchteten viel Aufwand betrieben», sagt er. Sowohl persönlich wie finanziell setzten sie sich dafür ein, dass die Geschichte ihrer Vorfahren aufgearbeitet wurde. Heute werden die 1800 Kilometer langen Fluchtrouten durch ganz Europa mit Geld des Europarates ausgewiesen, das Projekt trägt den Namen «Auf den Spuren der Hugenotten und Waldenser». Aufmerksame Wanderer und Spaziergängerinnen entdecken entsprechende Hinweisschilder unter den üblichen gelben Wanderwegweisern.

Hirzel selber ist kein Waldenser, fühlt sich der Kirche jedoch «sehr verbunden», wie er sagt. Davon zeugt sein Lebenslauf. Der Zürcher, der heute bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn die Abteilung Personalentwicklung leitet, unterrichtete von 2002 bis 2006 an der Theologischen Fakultät der Waldenser in Rom. Er ist zudem Präsident der bernischen Waldenserhilfe.

«Zwingli feiern, ohne die Täufer einzubeziehen, ist seltsam»

Jürg Bräker ist der Generalsekretär der Täufer in der Schweiz ...

Februar 2019
Oliver Demont
Susanne Leuenberger
Marco Frauchiger

Die engen Beziehungen vieler Schweizer Reformierter mit der Chiesa valdese haben historische Gründe. Während ihrer Flucht vor Inquisition und Verfolgung liessen sich Waldenser in der Schweiz nieder. Später dann, ab dem frühen 20. Jahrhundert, als vermehrt italienische Migrantinnen in die Schweiz kamen, hätten sie hier ihre eigenen Kirchgemeinden gegründet und Pfarrer aus dem Heimatland angestellt. Heute gibt es in der ganzen Schweiz Waldensergemeinden. Meistens sind sie eingebettet in die reformierten Kirchen, wie zum Beispiel in Zürich.

Was machen die Waldenser denn besser als die reformierten Kirchen? Martin Hirzel lobt insbesondere die Art und Weise, wie die Chiesa valdese kommuniziert, sowohl gegen innen wie gegenüber der breiten Öffentlichkeit. «Das ist hochprofessionell», sagt er. Dass die Kirche sich zudem exponiert und Stellung bezieht bei relevanten politischen und gesellschaftlichen Fragen, mache sie greifbar und nah bei den Menschen. Und schliesslich hätten die Waldenser dank den vielen sozialen Projekten eine hohe Glaubwürdigkeit. Der Einsatz für geflüchtete Menschen sei bemerkenswert.

Hirzel schaut über das Wasser und sagt: «Die Waldenser wissen aus der eigenen Vergangenheit, was es heisst, verfolgt zu werden, flüchten zu müssen. Das prägt.» Der Weidling, der vor ein paar Minuten vorbeigefahren ist, hat inzwischen sicher das Ufer des Bielersees erreicht.