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Autorin: Rita Jost
Freitag, 17. November 2017

Die Schweiz in den sechziger Jahren: Unverheiratete Paare dürfen nicht zusammen leben, gleichgeschlechtliche schon gar nicht. Frauen können weder wählen noch abstimmen; Politik, Armee und Kirche sind autoritär organisiert. Davon fühlt sich gerade die junge Generation zunehmend eingeengt – und beginnt zu rebellieren: Als in der westlichen Welt 1968 Jugendunruhen aufflammen, wird auch die Schweiz davon erfasst.

Im Zuge dieser Bewegung entwickelt sich in Bern ein aktivistisches Netzwerk. Teil davon sind auch zwei Kirchenfrauen, widerständig in ihrem Naturell und politisiert durch soziale Ungerechtigkeit und verkrustete Gesellschaftsstrukturen: Vreni Schneider, reformierte Theologin und erste Pfarrerin im Berner Jura, und Angelika Boesch, Katholikin und langjährige Geschäftsführerin der Buchhandlung Voirol in der Berner Altstadt. Für das Buch Revolte, Rausch und Razzien, das entlang von neunzehn Portraits der Berner 68er Bewegung nachspürt, blicken die beiden ein halbes Jahrhundert später zurück auf den Jurakonflikt, die Anfänge der Ökumene und die Männerdominanz der Aktivisten. bref veröffentlicht exklusiv das Interview in gekürzter Version.

Nach dem Theologiestudium war Vreni Schneider als erste reformierte Pfarrerin im Berner Jura tätig. Sie arbeitete neun Jahre in Delémont und zwölf Jahre in Moutier. Später war sie bei der Kooperation Evangelischer Kirchen und Missionen (KEM), der Vorgängerorganisation von Mission 21, für Südafrika zuständig. Sie engagierte sich unter anderem gegen das Apartheidregime und gegen seine Unterstützung aus der Schweiz. vbu

Frau Boesch, Frau Schneider, Sie beide haben um das Jahr 1968 die Kirchenwelt stark geprägt. Wie war damals die Stimmung gegenüber Frauen?

Boesch 1968 habe ich als rein männerzentrierte Sache erlebt. Frauen wurden nicht sehr ernst genommen – waren bestenfalls Gespielinnen. Man darf diese Jahre nicht verklären, sie waren zwar lustig und lustvoll, trugen jedoch kaum zur Frauenbefreiung bei. 1971 wurde das Frauenstimmrecht angenommen, aber nicht etwa, weil sich die 68er Männer dafür starkgemacht hätten. In der katholischen Kirche konntest du das Thema sowieso vergessen. Das hat sich ja bis heute nicht geändert. Es gab auch noch keine feministische Theologie. Die kam erst später.

Schneider Immerhin darf man sagen: Weil das Frauenthema von der katholischen Kirche vernachlässigt wurde, war die Ökumene unter Frauen von Beginn weg eine Selbstverständlichkeit.

Boesch Ja, das sehe ich auch so. Weil wir Katholikinnen gar keine Chance hatten, in die Ämter vorzudringen, suchten wir den Schulterschluss mit euch reformierten Kolleginnen. Wir konnten bei euch Mut tanken, euch aber auch unterstützen.

Worin hat sich die starke Ökumene konkret gezeigt?

Schneider Wir arbeiteten intensiv zusammen. Das Zweite Vatikanum, das grosse Reformkonzil der sechziger Jahre, war auch für mich als Reformierte ein herausragendes Ereignis. Vorher war in Delémont, wo ich damals arbeitete, die katholische Kirche total antireformiert. Das Vatikanum hat die Laien geweckt, plötzlich konnten wir gemeinsam Bibelarbeit betreiben. Und die katholischen Laien kamen scharenweise.

Boesch Das war wichtig für uns, weil es solche Bildungsangebote auf der katholischen Seite noch nicht gab.

Schneider An diesen Abenden haben viele Katholikinnen entdeckt, dass die Bibelstellen ja in einem historischen Zusammenhang stehen. Ihnen gingen die Augen auf. Wir haben ökumenische Gruppen ins Leben gerufen, zusammen gefeiert.

Das Aufmüpfige steckte immer in mir. Das wurde durch 1968 und die Folgen nur geweckt. Vreni Schneider

Wir haben auch bekannte Theologen aus Frankreich und Deutschland zu Tagungen eingeladen. Gute Leute. Das war spannend. Dieser ökumenische Aufbruch, das war einmalig.

Haben Sie auch verbotenerweise gemeinsam Abendmahl gefeiert?

Schneider Nein, die Gruppe wollte es schon, und wir sagten immer: einfach machen, gar nicht fragen. Als einige dann doch den Bischof fragten, kam natürlich ein Nein. Und damit fiel die ganze Sache zusammen. Später, in Moutier, haben wir mit der ökumenischen Arbeit weitergemacht. Der Jurakonflikt führte dazu, dass wir zusammenarbeiten mussten. Wenn die Separatisten demonstrierten, fuhr die Berner Polizei immer derart ein, dass wir Angst haben mussten. Deshalb gingen wir Reformierten und Katholiken gemeinsam zum probernischen Regierungsstatthalter und zum Maire, dem eher vermittelnden Stadtpräsidenten, und versuchten zu deeskalieren.

Die sechziger Jahre waren ja im Jura eine ausserordentlich wilde Zeit. Die Separatisten kämpften für die Unabhängigkeit vom Kanton Bern. Es kam zu blutigen Zusammenstössen mit der Berner Polizei. Welche Rolle spielte die Kirche in diesem Konflikt?

Schneider Wir standen dazwischen, vermittelten und wurden von jurassischer Seite respektiert. Im Nordjura hiess es später, wenn in Moutier die Pfarrer und Priester nicht gemeinsam für Entspannung gesorgt hätten, hätte es wohl Tote gegeben. Bei seinem Abschied von Moutier als Doyen und der Übernahme des Amtes als Bischofsvikar umarmte mich der katholische Kollege vor der ganzen Gemeinde und dankte mir für mein Engagement. Das war ein starkes Zeichen. Rückblickend kann man sagen: Die Ökumene war damals politisch und hat im Jurakonflikt auch politisch etwas bewirkt.

Angelika Boesch

Aufgewachsen im katholischen Luzern, machte Angelika Boesch eine Ausbildung als Buchhändlerin und führte in den siebziger und achtziger Jahren die katholische — heute ökumenische — Buchhandlung Voirol in Bern. Danach arbeitete sie für sechzehn Jahre als Redaktorin beim katholischen Berner Pfarrblatt. 2010 wurde sie pensioniert. Boesch steht der feministischen und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie nahe. vbu

Erinnern Sie sich noch, wann genau und wodurch bei Ihnen das politische Bewusstsein geweckt wurde?

Boesch Bei mir war es ein Vorfall in der Buchhändlerinnenschule. Wir hatten einen antisemitischen Lehrer, der einen jüdischen Mitschüler massiv schikanierte.

Man muss wieder für die Einsicht der Befreiungstheologie kämpfen; denn die Kirche ist apolitisch geworden. Das ist der Kern ihres Problems. Angelika Boesch

Daraufhin weigerte sich die ganze Schule einen Monat lang, seinen Unterricht zu besuchen. Das war keine Politdemonstration. Wir fanden einfach: Das geht nicht. Die Sache ging bis vor den Regierungsrat. Der drohte uns mit Schulausschluss. Später hat sich dieser Lehrer entschuldigt. Lehrer blieb er natürlich trotzdem.

Schneider Ich erinnere mich an einen ganz bestimmten Moment. Es muss 1968 gewesen sein. Ich war in Paris, kam aus der Metrostation und befand mich mitten in einer Demo. Alles Männer. Auf der Polizistenseite und auf der Seite der Demonstrierenden. Mich interessierte und faszinierte, dass die Demonstranten die Sorbonne – immerhin die Pariser Eliteuniversität! – besetzten und mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre diskutierten. Und schliesslich de Gaulle vertrieben – wie einst Louis XVI, den letzten König. Ich fand das einfach wahnsinnig toll, das war ein Zeichen, dass man philosophisch und politisch agierte.

Sie haben jetzt beide die Dominanz der Männer in diesen Jahren erwähnt. Haben die Frauen nie dagegen protestiert?

Boesch Ich habe die Geschlechterfrage hintangestellt. Es gab für mich Dringlicheres: der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika, der Protest gegen den Vietnamkrieg, die Faszination für den Prager Frühling. Das war mir wichtiger als meine persönliche Befindlichkeit als Frau. Und als Katholikin war ich es natürlich gewohnt, dass die Männer bestimmten. Schneider Ich habe das damals nicht als bedrohlich oder falsch empfunden. Es ging für mich irgendwie unter in der allgemeinen Euphorie, die ich darüber empfand, dass überhaupt Menschen gegen das Alte und Verknöcherte aufstehen. Wie hat denn dieser Zeitgeist, dieser Aufbruch die Kirchen geprägt?

Schneider Es wurde politischer in den Kirchen. Persönlich begann ich, anders zu predigen und Bibelarbeit zu machen. Nicht unbedingt wegen 68, sondern weil ich einfach fühlte, dass es so wie vorher nicht mehr weitergehen konnte. Ich hörte mir jeweils zum Schreiben der Predigt Lieder von Joan Baez oder Georges Brassens an. Und das neue Bewusstsein zog weitere Kreise. Wir gründeten die Antiapartheidbewegung, knüpften Beziehungen zu Südafrika, Mosambik und Angola. Wir wollten etwas gegen die Unterdrückung dort unternehmen. Und bekamen natürlich postwendend Krach mit allen. Mit dem jungen Christoph Blocher etwa, der das weisse Südafrika unterstützte. Auch mit der offiziellen Kirche, die in Sachen Apartheid sehr diplomatisch auftrat.

Wie hat denn dieser Zeitgeist, dieser Aufbruch die Kirchen geprägt?

Schneider Es wurde politischer in den Kirchen. Persönlich begann ich, anders zu predigen und Bibelarbeit zu machen. Nicht unbedingt wegen 68, sondern weil ich einfach fühlte, dass es so wie vorher nicht mehr weitergehen konnte. Ich hörte mir jeweils zum Schreiben der Predigt Lieder von Joan Baez oder Georges Brassens an. Und das neue Bewusstsein zog weitere Kreise. Wir gründeten die Antiapartheidbewegung, knüpften Beziehungen zu Südafrika, Mosambik und Angola. Wir wollten etwas gegen die Unterdrückung dort unternehmen. Und bekamen natürlich postwendend Krach mit allen. Mit dem jungen Christoph Blocher etwa, der das weisse Südafrika unterstützte. Auch mit der offiziellen Kirche, die in Sachen Apartheid sehr diplomatisch auftrat.

Aufmüpfig sein, sich unbeliebt machen, das war ja nicht gerade das, was Frauen gelernt hatten. Wo nahmen Sie den Mut dafür her?

Schneider Meine Mutter sagte immer: «Ich bin ja so froh, dass du 1968 schon dreissig warst und Kinder hattest, sonst wärst du sicher auf die Strasse gegangen.» Da hatte sie völlig recht. Das Aufmüpfige steckte immer in mir. Das wurde durch 1968 und die Folgen nur geweckt.

Boesch «Bös» zu sein war auch für mich nie ein Problem. Aber man wurde in diesen Jahren sicher ermutigt. Was ich 1968 vor allem gelernt habe und was mir auch danach immer wichtig war: Man muss die Revolution lustvoll angehen. Und man muss auch Niederlagen sportlich einstecken. Wenn man hinfällt, so what!? Dann steht man eben wieder auf. Und macht weiter.

Und was schaute konkret raus bei der lustvollen Revolte?

Boesch Schon einiges. Etwa die Entstehung des offenen Hauses La Prairie in Bern. Die katholische Kirche plante auf dem Areal der Dreifaltigkeitskirche eine Riesenüberbauung. Man beabsichtigte ja, den Bischofssitz nach Bern zu holen und dieses schöne alte Landhaus neben der Kirche abzureissen. Da gründeten wir ein Komitee mit dem Namen «Chile läbe statt boue», Kirche leben statt bauen. Wir waren bloss siebzehn Leute. Aber wir lobbyierten wie verrückt. Und gewannen schliesslich die Abstimmung. Unsere Kirchenverwaltung stand mit abgesägten Hosen da. Ein erfreuliches und nachhaltiges Resultat: Die Prairie steht heute noch, als autonom verwaltetes Gemeindehaus. Für mich allerdings hatte dieses Engagement existenzielle Folgen. Die katholische Kirchenverwaltung stornierte vorübergehend alle Buchbestellungen bei mir.

«Ohne Politik ist Theologie sinnlos»: ein Ausspruch von Ihnen, Angelika Boesch. Wie steht es damit heute in der Kirche?

Boesch Man muss wieder für diese Einsicht der Befreiungstheologie kämpfen; denn die Kirche ist apolitisch geworden. Das ist der Kern ihres Problems. Sie bietet Wellnessrituale an, die kein vernünftiger Mensch begreift. Mit Kerzen durch Tunnels oder Höhlen pilgern und dabei die Dunkelheit und das Licht erleben. Da bekomm’ ich Vögel.

Hat die Kirche in den vergangenen fünfzig Jahren ihre gesellschaftspolitische Bedeutung verloren?

Schneider Ja, sicher. Die reformierte Kirche verliert Geld und Mitglieder. Und jetzt kommt die Angst, jetzt will man sich auf «das Eigentliche» besinnen. Bei den Protestanten ist das der Sonntagsgottesdienst, der möglichst einheitlich sein soll. Daneben verkaufen sie die Kirchgemeindehäuser. Mich macht das rasend. Das Kirchgemeindehaus, der Ort, wo man sich trifft, und zwar alle, Junge und Alte, Fromme und Unfromme, und wo man Fremde aufnehmen kann – ausgerechnet diese Häuser will man abstossen. Die Kirchenleitung versucht, die Religion, die Konfession, zu retten. Und opfert dafür die politische, die solidarische Kirche.

Was müsste denn Ihrer Meinung nach geschehen?

Schneider Ich vermisse eine Kirche, die ernsthaft darauf beharrt, für das Wohl der Gesellschaft zu funktionieren. Stattdessen wird verkauft und organisiert.

Boesch Die Kirche hat ihre Verbündeten verloren. Ich komme nochmals zurück zur Prairie. Wir haben damals von der «Theologie der Gastfreundschaft» gesprochen. Später hat der Befreiungstheologe Leonardo Boff diesen Begriff übernommen – und gesagt: Wir brauchen eine Kirche, die nach Kaffee, nach Essen riecht. Doch: eine derartige Kirche baut man nur mit Lust, Leidenschaft, Offenheit, Hingabe. Eine solche Kirche wäre automatisch ökumenisch, solidarisch und politisch. Aber heute riecht es nicht gut in unseren Kirchen. Es mieft.

Schneider Mich sieht man nicht mehr in der Kirche. Ich bin dort nicht mehr zuhause. Heute ist mir alles Politische wichtiger als die Kirche. Aber leider bin ich nun zu alt, um auf die Strasse zu gehen – und für die Rechte der Frauen und für eine bessere, gerechtere Welt zu demonstrieren.

Dieser Text erschien erstmals im Buch «Revolte, Rausch und Razzien», das am 15.November Vernissage feierte. Das Buch spürt der Frage nach, wie Studenten und Künstler die politische, kulturelle und sexuelle Revolution von 1968 erlebten — und was von diesem Aufbruch heute noch spürbar ist.

Samuel Geiser, Bernhard Giger, Rita Jost, Heidi Kronenberg: Revolte, Rausch und Razzien. Neunzehn 68er blicken zurück. Stämpfli, Bern 2017; 128 Seiten; 29 Franken.

Rita Jost ist Journalistin und Moderatorin. Sie war unter anderem für das SRF-Regionaljournal sowie für saemann und reformiert. tätig.
Samuel Geiser ist Historiker und Journalist. Er arbeitete unter anderem sechzehn Jahre für saemann und reformiert.
Alexander Jaquemet ist Fotograf und lebt in Erlach.