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Autorin: Martina Kamm
Donnerstag, 05. September 2024

Wenn wir an Migrantinnen denken, haben wir meist Flucht und Vertreibung im Kopf. Als Kulisse stellen wir uns vielleicht ein Zeltlager in Lampedusa vor. Oder eine Zivilschutzanlage in Obfelden. Auf jeden Fall ist die Umgebung freudlos, der Anblick der miserablen Lebensumstände deprimierend.

Überraschend fröhlich wirken die Bilder, die der Zürcher Fotograf Meinrad Schade von Menschen gemacht hat, die geflüchtet und neu in der Schweiz angekommen sind. Da ist eine Prinzessin zu sehen, ein König, eine Zauberin oder eine Dame, die einem Roman von Jane Austen entstammen könnte. Alle Bilder sind perfekt ausgeleuchtet, die Protagonisten sind in Szene gesetzt wie Fotomodelle. Glamour statt Tristesse. Traum statt Trauma.

«Wenn Träume wahr werden» heisst das Projekt, das Schade zusammen mit der Soziologin und Germanistin Martina Kamm umgesetzt hat. Die beiden fragten Migrantinnen aus Deutschkursen an. Wer mitmachen wollte, formulierte seinen Traum in gemeinsamen Workshops. Daraus wurden erst lange Texte, dann wenige Sätze. Daraufhin öffnete das Schauspielhaus Zürich seine Garderobe und die Teilnehmenden konnten ein dazu passendes Kostüm auswählen. Schade drückte ab, und so entstanden siebzehn Porträtfotos zu den Kurztexten der Migranten.

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Der Anblick überrascht und die Gedanken im Kopf drehen unweigerlich weiter: Was wollen mir die Bilder sagen? Was hat es mit den Träumen auf sich? Wo sind die Fluchtgeschichten? Vielleicht meldet sich auch die innere, kritische Stimme: Ist das nicht voyeuristisch? Oder gar zynisch, da die Träume von Migrantinnen eben allzu oft nicht in Erfüllung gehen?

Die künstlerische Irritation sei gewollt, sagt Martina Kamm im Gespräch. «Die Fotos sind emotionale Teaser. Sie regen uns zur Reflexion an.» Bewusst ausgelassen wird für einmal die oftmals belastete Vergangenheit der Migrantinnen. Der Grund: Für einmal soll der Mensch selbst im Zentrum stehen und nicht seine Rolle als Migrant oder Flüchtling. «Das lässt uns vorurteilsfreier über Migration diskutieren», sagt Kamm. Beispielsweise nicht darüber, ob jemand wirklich zu Recht als Flüchtling gilt und in der Schweiz bleiben darf. Sondern welche Bedürfnisse, Sehnsüchte oder eben Träume er als Mensch hat.

«Wenn Träume wahr werden» reiht sich ein in eine Reihe von Projekten, die zum Ziel haben, die Erkenntnisse aus der Migrationsforschung mit künstlerischen Mitteln an die Öffentlichkeit zu tragen. Zu diesem Zweck hat Martina Kamm im Jahr 2009 die Plattform «Face Migration» gegründet. «Worte nutzen sich ab. Künstlerische Performances dagegen ermöglichen, neue, durchaus kritische Perspektiven auf Migration zu entwickeln», sagt sie. Zuletzt hatten Geflüchtete zusammen mit dem Seefelder Kammerchor Johann Sebastian Bachs Kantate «Brich dem Hungrigen dein Brot» aufgeführt – ein Aufruf zur Nächstenliebe und Solidarität.

Das aktuelle Fotoprojekt ist für Kamm und Schade die Fortführung einer Arbeit, die vor sechzehn Jahren begonnen hat. Damals porträtierten sie Folter- und Kriegsopfer. Schade war früher zudem viel in Kriegsgebieten unterwegs. Die bedrückenden Bilder, die er schoss, hatten stets zum Zweck, für das Thema zu sensibilisieren.

Der Begriff Trauma ist heute in aller Munde. «Er wird fast schon inflationär gebraucht», sagt Kamm, die Mitglied im europäischen Forschungsnetzwerk für Migration und Integration IMISCOE ist und sich seit Jahren auch wissenschaftlich mit dem Thema Migration auseinandersetzt. «Die Forschung hat sich enorm weiterentwickelt hin zu den positiven Seiten beziehungsweise zu den Ressourcen der Menschen.» Anders gesagt: Wer über die schlimmen Folgen, die Kriegserfahrungen mit sich bringen, Bescheid weiss, kann eben auch über Wege aus der Misere nachdenken.

So habe das Projekt auch für die Teilnehmenden selbst positive Seiten gehabt. «Es brachte die Menschen dazu, sich mit ihrer Biografie auseinanderzusetzen», sagt Kamm. Ausserdem habe es im Austausch mit der Öffentlichkeit einen Beitrag zur Inklusion geleistet. Schade, der drei Tage lang mit Fotoshootings beschäftigt war, erzählt, dass die Frauen und Männer am Ende stolz gewesen seien auf das Resultat und die Ausstellung im Schauspielhaus. «Deutlich zu spüren war ausserdem diese Freude beim Verkleiden, wie sie sonst Kinder haben.»

Strahlende Zukunft der Menschheit

«Wenn ich eine Zauberin wäre, würde ich alle Kriege auf der Erde stoppen und die Menschen nur auf kreative Arbeiten lenken. Es gibt so viele fähige Leute auf der Welt im Bereich der Wissenschaft, Kunst und Architektur. Doch die Mächte des Bösen zerstören Städte, zerstören Kunstwerke. Sie töten Frauen mit Kindern, alte Menschen und Männer. Millionen Flüchtlinge verlassen wegen des Krieges ihre Heimatländer. Dadurch verlieren sie den Kontakt zu ihrem Land und ihrer nationalen Kultur. Ich würde gerne einen Zauberstab schwingen und alle dunklen Mächte auf der Erde zerstören.»

Nina Grygoryeva, 77, Ukraine

Hüter des Friedens

«Mein einziger Traum und Wunsch ist es, den Frieden in Afghanistan wieder herzustellen. Als Offizier der Armee hatte ich mir gewünscht, einen Tag ohne Kämpfe und ohne das Abfeuern einer Kugel zu verbringen. Erleben wir stattdessen lieber einen Tag mit Freude, Musik und Gesang. Ich glaube, dass es besser ist, Probleme zu bekämpfen, indem man ein Lied singt und sich frei ausdrückt, als sich gegenseitig zu bekriegen.»

Ahmad Hamed Merzazada, 29, Afghanistan

Die Meisterköchin

«Ich möchte eine Meisterköchin werden, weil Kochen mein Hobby ist und ich leckeres Essen liebe (meine Mutter kann sehr gut kochen!). Mein Lieblingsessen sind grüne Bananen und Gemüse mit viel Spinat, Auberginen und Tomaten. Irgendwann würde ich gerne ein Restaurant eröffnen, erst eines und dann mehrere. Daraus würde die Restaurantkette Fiona’s Restaurant entstehen …»

Fiona Ishimwe, 26, Burundi

Paradies

«Ich träume oft von Frieden in meinem Heimatland Kurdistan. Einmal träumte ich, dass sich unzählige Menschen in der Hauptstadt Amed versammelt hatten und wir Kurden das grösste Fest der Welt feierten. Ich war in dem Traum ein weisser Pfau. Das Weiss symbolisiert Frieden für die jesidischen Kurden. Unser Präsident Öcalan sprach vor uns und wir feierten Frieden und Freiheit. Wir waren unglaublich glücklich und tanzten um ein riesiges Feuer. Überall loderten grün-rot-gelbe Flammen – Symbol für das kurdische Volk. Auch ich war inmitten des Tanzkreises.»

Mîrze Sîbaru, 35 Jahre alt, Kurdistan

Das Vorbild

«Ich träume davon, ein Vorbild für viele zu sein und einen Landwirtschaftsbetrieb zu gründen. Meine Familie, das sind Bauern, wir haben grosse Felder und viele Tiere: Schafe, Kühe, Ziegen, Hühner und Hasen. Auf unseren Feldern pflanzen wir Erdnüsse, Hirse, Wassermelone und Gemüse an. Das möchte ich weiterführen. Ich glaube, die Landwirtschaft ist der Schlüssel für ein freies Afrika, weil wer dich ernährt, zeigt dir, wohin es geht. Zusammen können wir den Hunger durch Landwirtschaft bekämpfen.»

Yaya Baldeh, 30, Gambia

Die Gräfin

«Mein Traum ist es, Gräfin oder Mitglied einer königlichen Familie zu sein. Es hat mich schon immer interessiert, alte Filme mit wunderschönen antiken Kostümen und Schlössern zu sehen. Ich habe mir vorgestellt, wie das königliche Alltagsleben ablief und was sie gemacht haben. Dieser Luxus der grossen Säle, in denen die Bälle stattfanden, fasziniert mich, wenn ich reise und einen Ausflug zu einer Burg mache. Beim Betrachten alter Filme oder Porträts suche ich insgeheim nach Merkmalen meiner Verwandten.»

Jelena Rodovich, 32, Ukraine

Fotos und Kurztexte aller Teilnehmenden des Projekts «Wenn Träume wahr werden» sind bis am 28. September 2024 im Zürcher Buchladen Never Stop Reading an der Spiegelgasse 18 zu sehen.