Ein Sonntagmorgen im Frühling, irgendwann zwischen zehn und elf Uhr, ein reformierter Gottesdienst mit Taufe in der Stadt Bern. Als der Pfarrer den Täufling zu sich bittet, treten keine Eltern mit Säugling vor, sondern ein junges Mädchen, gerade mal fünfzehn Jahre alt. Sichtlich nervös begibt es sich zum Taufbecken. Der Pfarrer spricht den Taufspruch nach Psalm 91,11: «Gott hat seinen Engeln befohlen, dich auf allen deinen Wegen zu behüten.» Das Mädchen hat ihn selbst gewählt – und mit dieser Wahl ist es nicht alleine: Der Psalm ist ein Klassiker bei Taufen und Konfirmationen. In einem früheren Gespräch, erzählt der Pfarrer weiter, habe das Mädchen ihm anvertraut, dass es Engel «megaschön» fände. Es sei ihm wichtig, von ihnen beschützt zu werden.
Was bei dem Mädchen an diesem Sonntagmorgen im reformierten Gottesdienst mit grosser Selbstverständlichkeit Ausdruck findet, hat in seiner Kirche einen schweren Stand: die Reformierten und die Engel, das ist keine Liebesbeziehung.
«Reines Geschwätz»
Der Rausschmiss der Engel begann mit der Reformation vor fünfhundert Jahren. Die Reformatoren distanzierten sich vehement von früheren Engelsvorstellungen und spekulativen Interpretationen. So war für den um 500 nach Christus wirkenden Theologen Dionysius Areopagita klar, dass es exakt neun Engelschöre gibt, die in einer klaren Hierarchie hin zu Gott stehen und so eine Himmelsleiter bilden. Und auch Thomas von Aquin hatte ähnliche Vorstellungen von Engeln und ihren Aufgaben. Johannes Calvin konnte mit alledem nichts mehr anfangen. Dionysius’ Konzept attestierte er zwar Scharfsinnigkeit, sein Urteil war dennoch vernichtend: Das meiste sei «reines Geschwätz», das jeglicher biblischen Grundlage entbehre. Mit seiner Engelsskepsis ist Calvin Kind der Neuzeit – die Mittlerwesen mussten mehr und mehr der Vernunft weichen.
Wichtiger als singende Engel im Himmel war den Reformatoren ohnehin Jesus Christus. Um die Menschen zu retten, benötigt er keine Hilfe. Und so lehnte Martin Luther entschieden die Vorstellung ab, dass, wer gute Beziehungen zu den Engeln pflegt, göttliche Pluspunkte ergattern könne.
Aber auch dass die Engel in der reformatorisch geprägten Kirchenmusik von Paul Gerhardt oder Johann Sebastian Bach ihre Auftritte hatten, nützte nichts: Im Gottesdienst mussten sie immer mehr dem übergrossen Gott und seinem allgegenwärtigen Geist weichen.
Ganz von ihren Aufgaben entbunden wurden die Engel allerdings auch von den Reformatoren nicht. Zwar waren sie fortan nicht mehr Heilsbringer, aber als Begleiter und Beschützer vor dem Bösen von Luther nach wie vor geschätzt: «Wo zwanzig Teufel sind, da sind auch hundert Engel.» Dennoch: In der reformierten Tradition fristeten die Engel irgendwann ein Dasein am Rande der Religiosität. Bis heute.
Gott im Rückstand
Seltsam eigentlich, hat sich doch die Kirche damit auch von einer Spiritualität verabschiedet, die vielen Menschen nahe ist. Denn die Zahlen sprechen für die Boten: Während der allmächtige, allgegenwärtige und dazu auch noch dreieinige Gott vielen immer fremder wird, sind die Engel im Aufwind. So ergab eine 2005 durchgeführte Forsa-Umfrage in Deutschland, dass 64 Prozent an Gott glauben und 66 Prozent an Engel. Ein hauchdünner Vorsprung, den sie seither stetig ausbauen. Zahlen für heute fehlen zwar. Vieles spricht aber dafür, dass Gott den Rückstand seit 2005 nicht wettmachen konnte.
Längst hat sich so etwas wie eine Engelszene entwickelt, inklusive einträglichen Geschäfts. Ein Beispiel dafür ist der seit zehn Jahren stattfindende Engelkongress in Hamburg, ein Stelldichein der Szene und seiner Stars. Dabei werden an Ständen Kerzen, Kartendecks, Pendel, Ratgeber oder Öle zu Geld gemacht, oder es wird für die Teilnahme an Workshops geworben. Im letzten Jahr gab es gar eine grosse «Engelparty». Der Eintritt für drei Kongresstage: Bis zu 300 Euro. Die Vielzahl an Medien vor Ort zeigt, dass es den Engelsglauben an sich nicht gibt. Sei es Isabelle von Fallois, Lora Byrne, Doreen Virtue oder wie sie alle heissen: Alle buhlen um die Gunst der Engelsgläubigen, und alle zimmern sie sich mit Bausteinen aus Judentum, Christentum, Buddhismus und Islam ihre Glaubensgrundlage. Lehrstreitigkeiten, wie man sie aus der christlichen Ökumene kennt? Fehlanzeige. Die Engelsgläubigen leben mit ihren zahlreichen Wahrheiten friedlich nebeneinander. Wer mag da schon quälende Widersprüche kennen, geschweige denn sich mit ihnen beschäftigen.
Bei allen unterschiedlichen Ansichten unter den Engelsgläubigen – ein Kanon ist allen gemein: dass Engel vorbehaltlos gute Absichten hegen. Als geflügelte Geister aus der Wunderlampe stehen sie stets im Dienst der Selbstfindung und Selbstheilung ihrer Schutzbefohlenen. Ein Teufel mitsamt seinen Schergen passt da nicht ins Konzept. Böse Kräfte werden konsequent ignoriert. Dabei würde es genügen, kurz ohne Weichzeichner auf die Welt zu blicken, um zu erkennen, dass die Menschen nicht einzig aus Licht und Liebe bestehen. Ganz zu schweigen von der quälenden Frage, wo eigentlich die Engel waren, als die Boote mit Flüchtlingen im Mittelmeer untergingen oder ein Mann kurz vor Weihnachten eine Familie ermordete. Eine Frage, die sich längst nicht nur Gott gefallen lassen muss, sondern auch der persönliche Schutzengel.
Weggefährten
Sich über die Spiritualität anderer lustig zu machen ist einfach, erst recht bei Engelsgläubigen. Die Szene bietet dafür ausreichend Stoff. Dabei geht aber vergessen, dass Engel sich vorzüglich als Schmiermittel moderner Religiosität eignen, ganz ohne Drall ins Esoterische. Engel geniessen eine hohe Glaubwürdigkeit. Kaum eine andere religiöse Figur blickt auf eine längere Geschichte zurück. Der Engelsglaube reicht weit in die Zeit vor Judentum, Christentum und Islam. Der Theologe Claus Westermann sagte dazu einmal den schönen Satz: «Engel sind älter als alle Religionen – und sie kommen auch noch zu den Menschen, die von Religion nichts mehr wissen wollen.»
Für das Mädchen am Taufbecken ist der Engel kein stets verfügbarer Geist aus der Wunderlampe, kein naiver Wunsch nach Selbstvervollkommnung. Vielmehr sind die Engel eigenständige Begleiter, «megaschöne» dazu, die das Mädchen im Hier und Jetzt beschützen. Mit dieser Deutung ist die Jugendliche gar nicht so weit von Luther weg, für den die Engel genau das waren: Weggefährten.
Logistische Frage
Doch was fasziniert die Menschen so sehr an diesen Engeln? Die Psychologen Sebastian Murken und Sussan Namini von der Universität Trier befassten sich aus religionspsychologischer Perspektive mit ihnen. Gemäss ihnen schaffen Engel Freiräume, um die eigene Spiritualität zu erkunden – jenseits von starren Glaubenssätzen. Hilfreich sei dabei auch die Tatsache, dass Engel keine Abstraktionskraft erfordern – ganz im Gegensatz zu Gott, von dem Christen sich kein Bild machen sollten. Wer einmal gelangweilt in einem katholischen Gottesdienst sitzt und dabei die putzigen Engel im Kirchenraum mustert, der weiss, dass sich das durchaus wohlig anfühlen kann. Ein Gefühl, das den Reformierten dank oft eher kahlen Kirchenräumen selten vergönnt ist. Am Ende steht aber auch eine simple logistische Frage: Wenn es nur einen Gott gibt, wie soll dieser zeitgleich überall sein? Eine Frage, die längst nicht nur Kinder beschäftigt.
Zum Glück gibt es da Engel, viele Engel. So wie in der Bibel. Wären die Rollen der Engel in einem Filmabspann aufgelistet, er würde einige Minuten dauern. Auch Gott höchstpersönlich tritt gerne mal als Engel in Erscheinung. Meist haben die Engel ihre Auftritte jedoch im Hofstaat Gottes oder als Boten bei den Menschen auf der Erde. Dabei verweisen sie immer auf das Göttliche. So informiert ein Engel über die Geburt des kleinen Jesus. Und als Jesu Mutter und Maria Magdalena nach dem Grab des Verstorbenen sehen wollen, setzt sich gerade einer auf den weggerollten Grabstein. Jesus sei nicht mehr hier, lässt er die anwesenden Frauen in Matthäus 28,6 wissen. Greift in der Bibel Gott ein, sind die Engel oft nicht weit.
Kein Kitsch
Waren die Engel in der Bibel Boten und Handlanger Gottes, machte die reformierte Tradition sie zu Randfiguren. Trotzdem sind sie da. Warum also ihnen im reformierten Gottesdienst nicht wieder ein wenig mehr Beachtung schenken? Ganz ohne meditative Klänge, pastellfarbene Seidentücher und den esoterischen Wunsch nach Selbstverwirklichung. Dafür gut reformiert von der Bibel her kommend. Im schlimmsten Fall bemerkt dabei ein Mädchen, dass der christliche Glaube ihr gar nicht so fremd ist.
Nach dem Gottesdienst steht das Mädchen vor der Kirche, ihre Erleichterung ist offensichtlich. Eine Frau sagt zu ihr: «Dein Schutzengel war heute an deiner Seite. Ich habe ihn gespürt!» Das Gesicht des Mädchens hellt sich auf. Von Kitsch keine Spur.
Der Journalist und Theologe Tobias Zehnder schreibt regelmässig für bref.