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Autor: Tom Kroll
Bilder: Daniel Comte
Freitag, 11. Februar 2022

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«Und was ist mit meinem Buch», mit dieser Frage löcherte Daniel Comte seinen Sohn Anatole und die beste Freundin Heike Rindfleisch. Die beiden brachten Daniel Comte in den vergangenen Jahren durch den Alltag. Der war bestimmt von einem Traum: Er will seine kurze Karriere als Fotograf mit einem Bildband beenden. «Stolen Moments» ist auch die Geschichte von Angehörigen, die erleben, wie eine Krankheit schleichend das Leben aller verändert.

Anatole Comte und Heike Rindfleisch sind über Video zugeschaltet. Sie werden in den kommenden zwei Stunden erzählen, wie es ihnen gelungen ist, den Wunsch des Vaters und Freunds zu erfüllen. Wo fängt man da bloss an zu erzählen? «Vielleicht», sagt Anatole Comte, «beginnen wir ganz von vorn.»

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Anatole

Mein Vater war ein gutaussehender Mann. Man erkannte ihn schon von weitem an seinen markanten Tom-Ford-Brillen und seinen Paul-Smith-Anzügen. Einmal kaufte er sich Schuhe, auf deren Sohlen das Londoner-U-Bahn-Netz abgebildet war. Über die freute er sich wie ein Kind.

Er wurde 1963 in Bern geboren. Nach der Schule machte er eine Ausbildung als Grafiker. Sein Witz und seine Kreativität trieben ihn schliesslich in die Werbebranche. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere leitete er Kampagnen für die grossen Konzerne der Schweiz, er flog um die Welt und umgab sich stets mit vielen Assistenten. Zu seinen Freunden und Arbeitsbekanntschaften gehörten Berühmtheiten wie der US-amerikanische Fotograf Richard Avedon. Mein Vater war ein Visionär, der Slogans und geniale Konzepte einfach so aus dem Ärmel schüttelte. Er erfüllte viele Klischees, die über Werber existieren. Aber eines war ihm fremd : Arroganz. Stattdessen hatte er ein warmes Wesen, er war wie ein Men­schenfänger, der bei Nachtessen seine Gäste mit Schlag­fertigkeit und blitzschnellen Gedanken begeisterte.

2010 begann seine schillernde Fassade zu bröckeln. Die Finanz­krise zwang auch die grössten Werbeagenturen dazu, Stellen zu streichen. Von meinem Vater wurde erwartet, selbst am Computer zu arbeiten. Das hatten vorher seine Art-Direktoren und Grafiker für ihn erledigt. Ich merkte, wie ihm seine Arbeit plötzlich schwerfiel, obwohl er erst Ende vierzig war. Er wirkte immer mehr wie jemand, der aus der Zeit gefallen war. Ein alternder Mann in einer neuen Welt. Zwei Jahre später, er war 49, gab mein Vater seinen Job als Werber auf. Seine Ärzte nehmen an, dass er zu diesem Zeitpunkt schon die ersten Symptome der Krankheit spürte. Das Ende seiner Karriere als Werber war aber kein Rück­zug. Mein Vater entschied, dass er von nun als Fotograf arbeiten wollte. Und das tat er. 

Heike

Ich kann mich gut an die Zeit erinnern, von der Anatole gerade gesprochen hat. Einmal, als ich mit Daniel im Tram sass, plauderten wir über anstehende Projekte. Auf einmal zog er sein Notizheft hervor und schrieb Details unserer Unterhaltung nieder. Immer mehr und mehr solcher Marotten schlichen sich in sein Leben ein. Er verwechselte Termine, verlegte Dinge und benötigte ungewöhnlich viel Zeit für Alltägliches. Sein Notizbuch war zu seiner grössten Stütze geworden. Mir kam all das komisch vor.

2014 sagte ich zu ihm : « Daniel, ich glaube, wir müssen mal zum Arzt. » Ich weiss noch, wie er einen Tag zu früh zu seinem Termin erschienen ist und mich irritiert anrief, weil er dachte, ich hätte ihn warten lassen. 

Es folgten Monate der Ungewissheit. Zunächst nahmen die Ärzte an, dass er an einem Burnout litt oder an einer De­pression. Niemand dachte an Alzheimer. Daniel war gerade 51 geworden, noch viel zu jung, um an einer Demenz zu erkranken.

Ich erinnere mich, wie er mir nach den Sitzungen beim Psychologen berichtete : All die Gespräche seien ja nett, aber helfen würden sie nicht. Sein Arzt kam irgendwann zum gleichen Schluss. Er überwies ihn an eine Neurologin.

Die Kunst, einen über­raschenden Ausschnitt zu wählen – « Gugus Kubus » nannte Daniel Comte dieses Bild.

Anatole

Es war im November 2014, als mich mein Vater anrief. Ich war 21, hatte gerade den Militärdienst absolviert und war in Zürich auf der Suche nach der ersten Wohnung. Wie er habe ich eine Ausbildung als Grafikdesigner abgeschlossen und begonnen, in der Werbebranche zu arbeiten.

Als Kind hatte er mir viele aufregende Geschichten erzählt, die alle mit seinem Beruf zu tun hatten. Die Werbebranche löste bei mir eine grosse Faszination aus. Ich wollte herausfinden, was es mit dieser Faszination auf sich hat. Natürlich ging ich in dieser Zeit auf Distanz zu ihm, dem legendären Daniel Comte, dem Kultwerber, den alle kannten. 

An diesem Novembertag also sagte mir mein Vater, dass er morgen die Ergebnisse der Untersuchungen von seiner Neurologin erhalten werde. Er bat mich, ihn zu begleiten. Mehr wusste ich nicht. Mit etwas Unbehagen sagte ich zu. Und dann sassen wir gemeinsam bei seiner Ärztin. Sie redete nicht um den heissen Brei herum : Daniel hat De­menz, sagte sie, Alzheimer. Die Worte der Neurologin hallten in meinem Kopf nach : Alzheimer. Wir beide waren sprach­los. Als 21jähriger hatte ich keine Ahnung, was auf mich zukommen sollte, ich wusste nur eines : Mein innerer Kampf um Abgrenzung musste warten, ich musste jetzt für ihn da sein.

Heike

Ich sehe ihn noch immer vor mir, wie dieser grosse Mann nach dem Artzbesuch in meiner Küche steht, zu mir herunter­schaut und sagt : « Heike, ich habe Alzheimer. » Ich fühlte mich hilflos. Und gleichzeitig wusste ich : wenn ich ihn jetzt be­mitleide, stürzt er in eine tiefe Krise. Ich antwortete : « Daniel, jetzt wissen wir endlich, was mit dir nicht stimmt, und nun mache ich dir etwas zu essen. » Er schaute mich erleichtert an, umarmte mich, dann assen wir.

Wir haben in der Zeit nach der Diagnose all seine Kontakte aus seinem Adressbuch angerufen. Daniel wusste bei vielen Einträgen nicht mehr, wer die Menschen sind und wieso er sie in seinem Büchlein hatte. Viele der Bekannten zogen sich zurück. Doch der engste Freundeskreis blieb und bildete ein Netz, das Daniel vor dem grossen Fallen bewahrte. Wir verbrachten viel Zeit mit ihm, redeten mit ihm, halfen, wo wir konnten. Daniel hatte wieder seine Assistenten zurück. Uns allen stand eine ungewisse Zukunft bevor. 

Mit einem einzigen Bild eine ganze Geschichte erzählen.

Anatole

Ich merkte, wie mein Vater sich nach der Diagnose in die Foto­grafie stürzte. Wenn ich mich bei Facebook einloggte, konnte ich sicher sein, dass auf meiner Timeline ein neues Foto von ihm auftauchte. Die Arbeiten, die ich dort sah, waren besser als die, die er als Hobbyfotograf geknipst hatte. Von Foto zu Foto steigerte er sich. Formal erreichten einige nun eine Qualität, die mit der von professionellen Fotografen mithalten konnte. 

Einmal erzählte er mir, dass er fünfzehn Minuten in der Nähe eines Brunnens gewartet hatte, bis jemand kam und sich darüberbeugte, um zu trinken. Er hatte den Bildausschnitt schon vor dem inneren Auge ausgewählt gehabt und wartete nur noch auf das passende Motiv. 

Er lief stundenlang durch Zürich auf der Suche nach einer guten Komposition, einer skurrilen Szene oder einer Ge­schichte, die es wert war, von ihm festgehalten zu werden. Immer wenn er auf seine Tour ging, meinte er, er gehe arbeiten. Es wirkte, als ob er eine ganze Fotografenkarriere in die kurze Zeit pressen wollte, die ihm noch blieb. Und was machen erfolgreiche Fotografen spätestens am Ende ihrer Kar­riere ? Sie veröffentlichen einen Bildband mit ihrem Gesamtwerk. Das war sein Ziel.

Ich hatte bereits mehrere Kunstbücher veröffentlicht. Stolz präsentierte ich ihm in dieser Zeit eines davon, das gerade erschienen war. Mein Vater blätterte darin und sagte bloss : «Du kannst also Bücher machen ?» Ab diesem Zeitpunkt war ich für ihn derjenige, der sein Buch konzipieren und herausgeben sollte.

Ich hatte allerdings ganz andere Sorgen, als an seinem Buch zu arbeiten. Ich musste auch noch meinen eigenen Alltag bewältigen. Hinzu kamen all die Ängste, die ich um ihn hatte. Steigt er in die richtige S-Bahn ein ? Findet er nach Hause ? Isst er genug ? Später fragte ich mich : Wo soll er leben, wenn sich sein Zustand weiter verschlechtert ? Dass er nur von seinem Buch sprach, nervte mich. Manchmal plagte mich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn immer wieder vertröstete. Insgeheim habe ich das Buch gehasst.

Eine Viertelstunde lang wartete Daniel Comte beim Bellevue, bis ein Flaneur am Brunnen Rast machte, um einen Schluck Wasser zu trinken.

Heike

Im Sommer 2017 kam eine Phase, in der sich Daniels Zustand schnell verschlechterte. Er wurde deshalb für fast sechs Monate in die Psychiatrie eingewiesen. Dort durfte er nicht fotografieren, weil die Ärzte befürchteten, dass er Per­sönlichkeitsrechte anderer Patienten und des Pflegepersonals verletzten könnte. Die Fotografie hatte zu diesem Zeit­punkt kaum noch Priorität in seinem Leben. Nur noch, was mit seinen Fotos passieren wird. In der Psy­chiatrie sahen Anatole und ich uns fast jeden Tag, unsere Be­kanntschaft sollte eine Freundschaft werden. Natürlich sprachen wir hin und wieder auch über Daniels grössten Wunsch : sein Buch. Ich merkte, wie schwer es Anatole im Magen lag.

Anatole

Am Ende von Daniels Aufenthalt gab es eine Besprechung mit seinen Ärzten. Sie teilten uns mit, dass es für meinen Va­ter das beste sei, in eine Einrichtung zu ziehen, die speziell für Menschen mit Demenz errichtet worden war. Er brauchte nun so viel Unterstützung, dass er nicht mehr in seiner Woh­nung leben konnte. Ich dachte, die Nachricht würde meinen Vater erschüttern. Doch sein Gesichtsausdruck blieb gelassen. Es gab diesen Moment der Stille am Ende der Besprechung. Mein Vater schlug seine Beine übereinander, verschränkte seine Arme und fragte den Oberarzt: «Und was ist eigentlich mit dem Buch?»

Heike

Als Daniel in ein Heim in die Nähe von Zürich zog, kehrte in meinem Leben wieder Ruhe ein. Und ich fand die Zeit, mich mit seinen Fotos zu beschäftigen und seinem grössten Wunsch: ein Bildband mit seinen Fotos. Ich nahm Kontakt zu einem Verlag auf. Der gab uns eine ernüchternde Nachricht: Ein weiteres Fotobuch? Kein Interesse! 20000 solcher Produkte würden Jahr für Jahr erscheinen. Falls wir es pro­bieren wollten, gaben sie uns den Tip, sollten wir nicht nur Daniels Bilder zeigen, sondern auch das Thema Alzheimer darin behandeln. 

Fast 700 Bilder hat Daniel Comte gemacht. Nachdem er in eine Einrichtung für Demenzkranke gezogen ist, beginnen seine beste Freundin und sein Sohn mit der Arbeit am Bildband « Stolen Moments ».

Anatole

Uns leuchtete der Gedanke ein. Schliesslich hatten Heike und ich uns mit Daniel auf eine Reise ins Ungewisse begeben. Wir waren Zeugen seines geistigen Abbaus, aber auch der Mo­mente, in denen sein altes Ich aufblitzte. Mich trieb die Vorstellung an, über die vergangenen Jahre zu reflektieren und nicht nur ein Buch mit seinen Fotos herauszubringen. Ich wollte dem Projekt etwas hinzufügen, das auch meine Handschrift trägt. 

Wir beugten uns über all die Fotos, die mein Vater zwischen dem Beginn seiner Krankheit und seinem Einzug ins Heim angefertigt hatte. Es waren fast 700 Bilder. Zunächst sortierten wir sie nach Qualität und Motiven. Wir standen vor der Herausforderung, ein Konzept zu erarbeiten, in dem Strassenfotografie, Alzheimer und die Geschichte meines Vaters zu einem Ganzen werden sollten. Uns war es wichtig, meinen Vater nicht als kranken Menschen in die Öffentlichkeit zu zerren, sondern wir wollten sein Wesen festhalten, das auch in seiner Erkrankung zum Teil stabil blieb. Seinen Humor hat er bis heute nicht verloren.

Heike und ich folgten einem Gefühl, das sich mit dem Satz zusammenfassen lässt: Hier stimmt etwas nicht. Ständig hatten wir diesen Satz im Kopf, wenn wir Zeit mit Daniel ver­brachten, als er noch keine Diagnose erhalten hatte. Menschen, die an Alzheimer erkrankt sind, sorgen ständig für Irritation, weil ihnen «Fehler» unterlaufen. Am Anfang sind sie so klein, dass sie fast übersehen werden, doch sie werden immer grösser und grotesker. Zum Beispiel, wenn man im Kühlschrank die Brille findet und im Backofen die Espres­sokanne. Diese Irritationen haben wir in das Buch übertragen: Darin gibt es leere Seiten, Seitenzahlen, die verkehrt herum gesetzt sind, links die ungeraden, rechts die geraden. Details in Fotos und Schrift verblassen, Bilder und Texte werden wiederholt. Beim Betrachter soll nach und nach das Gefühl entstehen, hier stimme etwas nicht.

In der Zeit, in der wir das Buch konzipierten, verlor Daniel die Fähigkeit zu sprechen. Es war hart mitanzusehen, wie sich der Charakter und seine Schlagfertigkeit aus seinem Leben schlichen. Als wir seine Notizbücher lasen, entdeckten wir, dass Daniel Notizen und Kommentare zu seinem Gesund­heitszustand niedergeschrieben hatte. Die nahmen wir in das Buch auf. Zudem hatte er seinen Fotos pointierte Titel ge­geben. Es ist tröstlich, dass wir auf diesem Weg seine Sprache festhalten können, seinen Witz und seinen Charme.

«Hier stimmt etwas nicht.» Die kleinen Irritationen, die Daniel Comtes beste Freundin und sein Sohn im Alltag mit dem Erkrankten erleben, setzen sie in «Stolen Moments» um.

Heike

Das Buch heisst « Stolen Moments ». Der Titel stammt von Daniel selbst. Finanziert wurde es von Stiftungen und Unterstützern. Daniel ist Teil des Teams. Er war dabei, als das Buch in den Druck ging, und an der ersten Vernissage in der Photobastei Zürich. Für mich war einer der schönsten Mo­mente des Projekts, als ich Daniel einen Entwurf des Buchs zeigen konnte. Wir sassen in dem Café der Einrichtung, in der er heute lebt. Er hatte einen lichten Moment in einer Zeit, in der es mit seinem Geisteszustand erneut bergab ging. Ich merkte, wie er seine Bilder betrachtete. Bei manchen Fotos lachte er auf, bei anderen begannen sich seine Augen zu wei­ten, beim nächsten wurde er nachdenklich. Als wir auf die letzte Seite blätterten, stand er auf, ging gedankenverloren einmal quer durch das Café, kehrte zu mir zurück, umarm­te mich und sagte voller Inbrunst: «Super.» Ich hatte das Gefühl, dass er begriff, dass sein grösster Wunsch in Erfüllung gehen würde.

Daniel Comte wurde 1963 in Bern geboren und studierte Grafikdesign an der Kunstgewerbeschule in Bern. In den 80er Jahren begann seine Karriere als Creative Director in den grossen Werbeagenturen der Schweiz. 1994 wurde er Creative Director und Mitglied der Geschäftsleitung bei Matter Leo Burnett . Comte erhielt für sein Schaffen insgesamt 300 nationale und internationale Auszeichnungen. Er lebt heute in einer Institution für Menschen, die an Alzheimer erkrankt sind. Daniel Comte hat drei Söhne.

Anatole Comte, 1993, ist der älteste Sohn von Daniel. Er trat beruflich in seine Fussstapfen und arbeitet als Grafiker in einer Werbeagentur. Für die Entstehung des Buchs und für die Ausstellungen haben sich auch seine Brüder Basile und Etienne engagiert. Sie sind Teil des Vereins Stolen Moments.

Heike Rindfleisch, 1962, ist eine der besten Freundinnen von Daniel Comte. Sie ist ebenfalls Werberin und war lange seine Arbeitskollegin.

 Anatole

Vor gut drei Jahren sass ich mit meinem Vater auf einer Bank im Park. Ich hielt lange Monologe, um ihm zu signalisieren : du bist nicht allein. Irgendwann gingen mir die Worte aus und ich begann wie er zu schweigen. Wir sassen so eine halbe Stunde stumm nebeneinander und schauten zu den Bäumen. Erst kam es mir komisch vor, doch dann begann ich den Moment zu geniessen. Den Vögeln zuzuhören, die Passanten zu betrachten und meinem Vater nah zu sein. Da schaute er plötzlich zu mir und lachte. Er hatte wahrscheinlich ver­gessen, dass ich neben ihm sass. Und als er mich erkannte, freute er sich, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Mein Vater hat mir auf der Bank die späte Lektion erteilt, wie wertvoll es ist, den Moment zu geniessen. Er muss sich in einem Zustand befinden, in dem er alles unmittelbar erlebt: Freude, Trauer, Wut, Neugier, Verzweiflung. Wenn ich ihn heute besuche und ihn zwischen all den Menschen mit Alzheimer betrachte, die im Moment leben, dann bin ich derjenige, der nicht dazu­gehört. Ich komme mit meinen Alltagssorgen ins Heim, grüble über die Vergangenheit nach und mache mir Sorgen um die Zukunft. Wenn ich dort bin, frage ich mich : Stimmt vielleicht mit mir etwas nicht?

Heike Rindfleisch, Daniel Comte und Anatole Comte in der Zürcher Photobastei, wo Comtes Bilder ausgestellt waren. Die Fotobände, platziert in der Abwaschmaschine, veranschaulichen, was Demenzkranke und ihre Angehörigen oft erleben: Lange gesuchte Dinge liegen dort, wo sie niemand vermutet hätte.

Titelbild: Daniel Comte, fotografiert von Richard Avedon, dem berühmten US-Fotografen.

Anatole Comte, Heike Rindfleisch : « Stolen Moments ». Zürich 2020, www.stolen-moments.ch, 254 Seiten, 90 Franken plus Versand.