Luzern, am Tag vor Neujahr: Den Ort des Geschehens zu finden ist kein Problem, es reicht, den Menschenströmen zu folgen. Die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt und ausgesprochen gut gelaunt.
Die Medienvertreter müssen einen Moment warten, dann kriegen auch sie das Eintrittsbändchen ums Handgelenk geschlungen, einen pinkfarbenen Badge um den Hals – und einen Begleiter, der sie den Tag über durch das Event lotsen soll. Etwas speziell, aber die Nordkorea-Assoziationen sind sicher vollkommen überzogen. Trotzdem sage ich dem netten jungen Mann nach einiger Zeit, dass ich es vorziehe, mich auf eigene Faust umzuschauen.
Selbst Katholiken feiern mit
Halle 1, laut Betreibern mit 6000 Plätzen die «grösste Location der Region», ist fast voll. «Happy to serve» steht auf den Ansteckern der über 600 Freiwilligen. Ein Paar legt Zeugnis ab. Es hat durch einen Alphalive-Kurs seine «ehebrecherische Beziehung» überwunden und geheiratet. Die Menge applaudiert.
Die gut landeskirchlich geeichte Reformierte hat da zwiespältige Gefühle. Muslime bekehren, muss das sein?
Danach spricht Dabrina Bet Tamraz. Die Iranerin und aramäische Christin lebt seit 2010 in der Schweiz, wo sie Asyl erhalten hat. Ihr «Verbrechen»: Die Missionierung von iranischen Muslimen.
Sie berichtet von einer wachsenden Gemeinde, die sich heimlich in Hauskreisen versammelt, von Heilungswundern im Spital, vom «Hunger nach Gottes Wort» der Menschen dort.
Die gut landeskirchlich geeichte Reformierte hat da zwiespältige Gefühle. Muslime bekehren, muss das sein? Andererseits: Vielleicht gibt das Christentum den Menschen dort ja wirklich Hoffnung? Der Bericht von Bekehrung, Verfolgung und Flucht dieser Frau ist jedenfalls bewegend.
Weniger inspirierend ist der Folgeredner Brian Houston, auch wenn er unzählige Gemeinden gegründet hat. Ja gut, Gott hat Aussergewöhnliches getan. Aber muss denn immer alles aussergewöhnlich sein? Auch bei Campus-für-Christus-Leiter und Explo-Initiant Andreas Boppart purzeln die Superlative nur so. Sein Lieblingswort ist «unglaublich». Dabei lautet das Motto der Veranstaltung doch «Fresh Faith».
Kein Zweifel: Das hier ist ein evangelikal-charismatischer Event. Die Besucher kommen zu drei Vierteln aus über 20 Freikirchen. Aber es sind auch etliche Reformierte da. Und rund 600 Katholiken. «Das wäre vor zwanzig Jahren nicht möglich gewesen, dass die so etwas zusammen veranstalten», sagt eine reformierte Besucherin.
Im Explo-Village in der Halle nebenan stehen über 50 Informationsstände. Alte Bekannte sind hier, die Evangelische Allianz, die Heilsarmee oder Life Channel. Soziale Organisationen, wie der aargauische Wendepunkt. Und dann gibt es noch vollkommen Neues für mich. Den Bergclub zum Beispiel, in dem man einen Schweizer Gipfel «adoptieren» kann, um für ihn (oder von ihm aus?) zu beten.
Verstörende Satanisten-Geschichten
Am befremdlichsten ist der Stand der Organisation «Care About Ritual Abuse» (Cara), die sich um Opfer von ritueller Gewalt kümmert. Es gebe verbreitet satanistische Gruppen, die Kinder missbrauchten und sogar Satan als Menschenopfer darbrächten. «Ich wurde mit 14 Jahren von meiner Mutter an diese Leute verkauft», erzählt mir eine Frau. Sie sei schwanger geworden und habe ihr Neugeborenes opfern müssen. Das ist schon ganz schön verstörend. Eine nachträglich unternommene Internetrecherche bestätigt die Existenz solcher Gruppen allerdings nicht. Polizeiliche Ermittlungen in Deutschland erbrachten keine Beweise für solche Fälle.
Krönender Abschluss meines Tages ist der charismatische Jugendpfarrer Mike Pilavachi aus England. Der Mann wäre eine Zierde für jedes Cabaret, witzig und selbstironisch ist sein Vortrag. Zum Beispiel wenn er erzählt, wie er prophetische Rede an seiner Katze übte. Pilavachi spricht von verblüffenden Begebenheiten, bei denen er richtiglag, ohne vorher eine Ahnung zu haben. Gibt es das wirklich?, fragt sich die Skeptikerin. Und wenn ja, warum machen wir «Liberalen» das nicht?
Am Ende bleiben viele Fragen. Aber auch Erinnerungen an gute Gespräche mit warmherzigen Menschen.
Marianne Weymann, Reporterin und Pfarrerin.