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Bilder: Michel Gilgen
Freitag, 07. Juni 2019

Frau Obermüller, als Sie Mitte der sechziger Jahre in den Journalismus eingestiegen sind, hatten die Männer auf den Redaktionen das Sagen. Ein Problem für Sie?

Nein. Und ich habe mich den Männern auch nie unterlegen gefühlt.

Wie kommt das?

Ich glaube, es hat mit meiner Schulzeit zu tun. Die Höhere Töchterschule der Stadt Zürich, wie es damals noch hiess, war eine reine Mädchenschule. Wir wurden nie an den Buben gemessen. Das Einzige, was zählte, war die Leistung. Und dass wir zu den Besten des Landes gehörten, wurde uns von allem Anfang an beigebracht. Ja, und da war da auch noch meine Mutter, die zu mir sagte: Mädchen, mach was aus deinem Leben! Du kannst alles werden. Wir ermöglichen dir das. – Das prägt.

Dabei war Ihre Mutter, so schreiben Sie es in Ihrer Biografie, eine sogenannt einfache Hausfrau.

Meine Mutter war gefangen in der Zwischengeneration: Meine Grossmutter ging noch ganz in der Rolle der Mutter und Hausfrau auf, meine Mutter bereits nicht mehr. Sie hätte aufs Gymnasium gehen und Medizin studieren wollen. Doch ihr wurde früh signalisiert, dass sich das für ein Mädchen nicht schickt und sie ja später sowieso heiraten werde. Und genau so kam es: Sie wurde Krankenschwester statt Ärztin. Mit der Heirat gab sie den Beruf ganz auf. Dann blieb sie lange Jahre kinderlos. Erst als sie dreiunddreissig war, kam ich als Adoptivkind in ihr Leben. Vorher muss sie sich total leer gefühlt haben. Eine Zeitlang war sie in psychiatrischer Behandlung. So eine Biografie wollte sie mir um jeden Preis ersparen.

Sie sagten, dass Sie sich den Männern fachlich nie unterlegen fühlten. Haben Sie in dieser von Männern geprägten Arbeitswelt wirklich keine Abwertung erlebt?

Sagen wir es so: Es gab sie zweifellos, aber ich habe es damals noch nicht als solche empfunden. Was Gender-Fragen betrifft, war ich lange Zeit ziemlich blauäugig und habe erst sehr spät ein Sensorium für die sublimen Formen der Diskriminierung entwickelt.

Zum Beispiel?

Als ich auf die Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung kam, gab es dort mit mir zusammen gerade mal vier Frauen: eine im Feuilleton, zwei im Mode-und-Lifestyle-Ressort und eine in der Wochenend-Beilage. Überall sonst sassen Männer, und auch die Chefs waren selbstverständlich männlich. Erst im nachhinein realisierte ich, dass das kein Zufall war. Und letztlich hatte auch mein unsanfter Abgang von der Neuen Zürcher Zeitung etwas damit zu tun, dass ich eine Frau war.

Sie kündigten, weil Ihre Beziehung mit dem linken, DDR-freundlichen Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann nicht mit der politischen Linie der Neuen Zürcher Zeitung vereinbar schien.

Ja, der Chefredaktor ging davon aus, dass ich unter dem Einfluss meines Partners stünde und nicht mehr objektiv über Literatur schreiben könne. Ich bin mir sicher: Einem Mann wäre die Beziehung zu einer Frau nie zum Verhängnis geworden.

Was würden Sie heute anders machen?

Wenn überhaupt, würde ich vielleicht der Liebe – oder besser: den Männergeschichten – etwas weniger Bedeutung beimessen. Mir wurde erst spät bewusst, wie sehr ich meine Beziehungen zu Männern über meine Karriere gestellt hatte. Rückblickend frage ich mich: War es das wert, so viel Rücksicht auf Männer zu nehmen? Da hätte ich andere Prioritäten setzen können. Zum Beispiel wäre ich gerne Auslandkorrespondentin in Russland oder Israel oder wo auch immer geworden. Doch dafür eine Beziehung aufzugeben oder den Partner zu bitten, mir ins Ausland zu folgen, wäre für mich damals unvorstellbar gewesen.

Wollten Sie eigentlich schon immer Journalistin werden?

Nein, das geschah eher aus Verlegenheit. Ursprünglich wollte ich Ärztin werden, entschied mich aber in letzter Minute gegen das Medizinstudium. Schuld war der Roman La Peste von Albert Camus, den ich kurz vor der Matura las. Beim Lesen dieses Buches realisierte ich, wie wenig ein Arzt gegen das Leiden auf dieser Welt auszurichten vermag und wie ohnmächtig letztlich auch er dem Tod gegenüber ist. Diese Erkenntnis warf mich aus der Bahn und stürzte mich in eine existenzielle Krise. Wie sehr ich Camus missverstanden hatte, realisierte ich erst viel später. Für den Moment sah ich keine andere Möglichkeit, als mich dem Naheliegenden zuzuwenden: dem Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte.

Und warum begannen Sie zu schreiben?

Weil ich es gerne tat und einigermassen gut konnte. Und vielleicht auch, weil mir der Mut fehlte, etwas anderes in Angriff zu nehmen. Der Journalismus blieb für mich lange Zeit zweite Wahl. Ich schrieb Literatur- und Theaterkritiken fürs Du, für die Neue Zürcher Zeitung, die Frankfurter Allgemeine und später auch für Die Weltwoche, ich sass in der Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs und nahm ein paar Mal auch am Literarischen Quartett unter der Leitung von Marcel Reich-Ranicki teil. Doch gemessen an der Medizin schien mir das alles ziemlich sinnlos. Über Arbeiten anderer Leute zu urteilen, ohne es selbst zu können, hat letztlich etwas Eunuchenhaftes. Das konnte mich auf Dauer nicht befriedigen.

Sie kokettieren. Bei Marcel Reich-Ranicki im Fernsehen vor einem Millionenpublikum zu sitzen, das ist doch der Traum vieler Journalisten.

Natürlich hat es mir gefallen und auch geschmeichelt. Das Gefühl der Sinnlosigkeit aber blieb. Mehr als einmal war ich drauf und dran, alles hinzuschmeissen und doch noch Medizin oder wenigstens Psychologie zu studieren. Doch ich liess es bleiben – aus Mutlosigkeit, aus Angst vor dem Versagen? Ich weiss es nicht. Meine Bestimmung als Journalistin fand ich eigentlich erst, als ich in den achtziger Jahren bei der Weltwoche anfing, über gesellschaftliche und politische Themen zu schreiben. Da spürte ich zum erstenmal, dass meine Texte etwas bewirkten. Ich konnte Sprachrohr sein für andere Menschen, konnte denen eine Stimme geben, die keine hatten, konnte Stellung nehmen für oder gegen etwas. Das ergab Sinn. Als ich mich Mitte der neunziger Jahre für die Antirassismusstrafnorm engagierte, bekam ich ­einmal sogar eine Morddrohung. Das spornte mich an.

Morddrohungen als Ansporn?

Ja, weil es mir sagte, dass ich mit meinen Texten etwas ausrichten konnte, und ich auf der anderen Seite auch viel Anerkennung für meine Artikel bekam. Dieses anwaltschaftliche Schreiben ist zwar heutzutage etwas in Misskredit geraten, aber mir liegt es.

In der Schweiz erlangten Sie auch Bekanntheit, weil Sie sich als Journalistin über Jahrzehnte hinweg intensiv mit den Kirchen beschäftigten. Was reizte Sie daran?

Journalistisch gesehen, ist die Kirche ein dankbares Pflaster. Die heissen Themen gehen einem da nie aus. Ich fing Feuer für das Thema, als Ende der achtziger Jahre der umstrittene Wolfgang Haas zum Bischof des Bistums Chur ernannt wurde. Da nahm ich Partei und machte mich zum Sprachrohr seiner Gegner. Dafür bekam ich viel Anerkennung – und von der andern Seite natürlich auch massive Kritik.

Viele Journalisten scheuen das Thema Kirche. Wie haben Sie Zugang dazu gefunden?

Ich lernte on the job, arbeitete mich in die Materie ein und hatte darüber hinaus einen vierjährigen Theologiekurs für katholische Laien besucht. Das war ein Theologiestudium im Schnelldurchlauf, das von der Kirchengeschichte über die Dogmatik bis zur Fundamentaltheologie sämtliche Fächer eines Universitätsstudiums umfasst. Ich besuchte die Kurse zweimal die Woche heimlich neben meinem Fulltime-Job bei der Weltwoche und bereitete mich abends auf die Prüfungen vor.

Warum heimlich?

Religion war in den eher linken Kreisen, in denen ich verkehrte, nicht gerade angesagt. Die Kirche galt als reaktionär und überholt. Man hätte mich scheel angeschaut und gedacht, mit mir stimme etwas nicht. Hinzu kam, dass der eigentliche Grund für den Theologiekurs mein heutiger Mann, Kurt Studhalter, war. Als ich mit dem Kurs begann, war er noch Ordenspriester und niemand durfte von unserer Beziehung Wind bekommen. Ich vertiefte mich in die Theologie, weil ich verstehen wollte, aus welcher Welt er kam – und was ein allfälliger Austritt für ihn bedeuten würde.

Ihr Ehemann war Kapuzinerpater und legte für Sie das Zölibat nieder. Wie lernt man einen Ordensmann kennen?

Das ist eine ziemlich romantische Geschichte. Ich hatte in einer Radiosendung Horst-Eberhard Richters Buch Der Gotteskomplex besprochen. Darin beschreibt der Autor, wie die Säkularisierung dazu führte, dass der Mensch sich an die Stelle Gottes setzte und meinte, über alles verfügen zu können – auch über das, worauf er keinen Einfluss hat. Das Buch hatte mich tief berührt. Ich war vierzig und hatte eben meinen Mann, Walter Matthias Diggelmann, an Krebs verloren. Ein Jahr lange hatte ich ihn gepflegt und dabei ohnmächtig zuschauen müssen, wie ihn seine Kräfte verliessen und ich nichts dagegen tun konnte. Diese Betroffenheit muss in meiner Besprechung hörbar gewesen sein. Jedenfalls rief mich ein gewisser Kurt Studhalter an und dankte mir für den Beitrag.

Und dann?

Ich weiss nicht genau, was es war. Irgendetwas war in seiner Stimme, das mich dazu brachte, diesem mir fremden Menschen mein halbes Leben zu erzählen. Als ich ihn irgendwann fragte, wer er denn eigentlich sei, fiel mir fast der Hörer aus der Hand. Ein Kapuzinerpater aus Solothurn! Ich war total verlegen und wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Gleichzeitig aber war da diese Vertrautheit, die ich nicht erklären konnte. Ihn trieben die gleichen Fragen und Zweifel um wie mich, und auch er hatte keine einfachen Antworten. Aus diesem Telefonat sind mittlerweile bald vierzig Ehejahre geworden.

Wenn Sie von Ihrem Mann sprechen, klingen Sie auch heute noch fast ein bisschen verliebt.

Es ist einfach so, dass wir nach wie vor in einem sehr engen geistigen Austausch stehen. Das macht unsere Beziehung aus. Denn seien wir ehrlich: Sex ist ja schön, aber früher oder später verliert er an Bedeutung. Wenn du sonst keine Gemeinsamkeiten hast, stehst du irgendwann mit leeren Händen da. Ich könnte nie mit einem Menschen zusammen sein, mit dem ich nicht die wesentlichen Interessen teile, mit dem ich nicht diskutieren, mich nicht austauschen kann. Mit Kurt kann ich das. Wir schauen uns gemeinsam Filme an, lesen dieselben Bücher und Zeitungen, mögen die gleichen Leute, und wenn wir im Wallis wandern gehen, staunen wir gemeinsam über die Wunder der Natur.

Als Mensch in der Mitte des Lebens fragt man sich: Wie schafft man eine so langjährige Beziehung?

Indem man sich nahe ist und dem andern Raum lässt für sich selbst. Kurt und ich unternehmen viel gemeinsam, gehen aber auch oft getrennte Wege. Ich reise gerne, gehe gerne aus und habe gerne Leute um mich. Kurt ist da anders, er braucht nicht so viel Zerstreuung wie ich. So kommt es, dass ich oft alleine unterwegs bin. Und Kurt lässt mich gehen. Er ist ein unglaublich grosszügiger Mensch, der mir den nötigen Freiraum lässt. Ich hingegen musste das erst lernen. Am Anfang unserer Beziehung habe ich ihn wohl oft überfahren, weil ich dachte, was mir Spass macht, muss auch ihm gefallen. Er machte dann mir zuliebe mit, aber im Grunde war es ihm zu viel. Das zu realisieren hat eine Weile gedauert.

Mit Ihrem Mann trat ein Mensch in Ihr Leben, dessen Existenz von der Kirche geprägt worden war. Wie hatten Sie es damals mit der Kirche?

Sie war mir sehr fremd geworden. Ich bin reformiert aufgewachsen und habe mich auch noch konfirmieren lassen, bin dann aber mit Mitte zwanzig aus der Kirche ausgetreten.

Warum?

Seit der Schwelle zum Erwachsenwerden trieben mich die gros­sen Fragen um: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Und wozu sind wir auf dieser Welt? Darauf suchte ich eine Antwort und setzte deshalb grosse Erwartungen in den Konfirmandenunterricht. Doch er war eine einzige grosse Enttäuschung. Der Pfarrer, der in unserer Stadtzürcher Kirchgemeinde Buben und Mädchen aller Schulstufen zu unterweisen hatte, meinte sich nach unten orientieren zu müssen und liess die Anspruchsvolleren unter seinen Konfirmanden leer ausgehen. So kam es, dass ich der Kirche den Rücken kehrte und mich anderweitig, in der Philosophie zum Beispiel oder in der Politik, auf die Suche machte.

Trotzdem sind Sie noch immer auf der Suche nach etwas Unfassbarem, etwas Transzendentem?

Immer. Sonst hätte ich mich mit Kurt ja wohl auch nicht auf Anhieb so gut verstanden. Durch ihn habe ich meine spirituellen Bedürfnisse wieder entdeckt. Er war es, der mich mit dem Denken einer Dorothee Sölle oder eines Johann Baptist Metz vertraut machte und mir zeigte, dass es eine religiöse Sprache gibt, in der auch ich mich wiederfinden konnte: zutiefst religiös, ohne frömmlerisch zu sein, und gleichzeitig sehr politisch.

Ist Gott eine Erfindung des Menschen?

Nein, das glaube ich nicht. Aber die Bilder und die Art, wie wir über Gott reden, die sind Menschenwerk. Mir sagt Theologie nur dann etwas, wenn sie zum Ausdruck bringt, dass alles Reden von Gott lediglich ein Reden in Bildern und Analogien ist. Wenn jemand kommt und sagt: Gott ist, Gott will, Gott sagt, werde ich misstrauisch und frage mich: Woher weiss der das so genau? Ich halte es da lieber mit Dietrich Bonhoeffer, von dem der paradoxe Satz stammt: «Den Gott, den es gibt, gibt es nicht.»

Haben Sie nie überlegt, wieder in die Kirche einzutreten?

Nein. Von der Kirche als Institution bin ich schlicht zu weit weg. Aber es entspricht auch meinem Naturell, dass ich nirgends so richtig dazugehöre. Einer Partei habe ich nie angehört. Ich bin ein Adoptivkind. Nicht zu wissen, woher ich eigentlich komme und zu wem ich gehöre, ist ein Grundthema meines Lebens. Vielleicht habe ich gerade deshalb dieses Verlangen dazuzugehören. Heute ist mir allerdings klar, dass es nicht stillbar ist. So wie auch meine Sehnsucht nach etwas Göttlichem letztlich unerfüllbar bleiben wird.

Besuchen Sie noch Gottesdienste?

Nicht sehr oft. Manchmal begleite ich meinen Mann, weil ich weiss, dass für ihn die Kirche noch immer ein Stück Heimat ist. In unserem Wohnort Männedorf am Zürichsee haben wir eine sehr gut funktionierende Ökumene. Man feiert gemeinsam Abendmahl und fühlt sich bei der jeweils anderen Konfession willkommen. Auch an unserem Ferienort im Wallis besuchen wir ab und zu die Messe. Die Kirche besitzt einen kostbaren gotischen Flügelaltar, in dessen Darstellungen man sich versenken kann, wenn die Predigt einmal etwas gar dürftig ausfällt.

«Wenn die Predigt in einem Gottesdienst schlecht ist, bleibt bei den Reformierten wenig übrig.» Klara Obermüller

Wenn Sie die Wahl haben, einen katholischen oder einen reformierten Gottesdienst zu besuchen — für welchen entscheiden Sie sich?

Ehrlich gesagt: für den katholischen. Das klingt jetzt hart, aber wenn die Predigt schlecht ist, dann ist sie bei den Katholiken erstens schneller vorbei, und zweitens bleibt da noch immer das Sakramentale, es bleiben die traditionellen Formen und die schöne alte Sprache, das entschädigt für vieles. Bei den Reformierten hingegen bleibt wenig übrig, wenn die Predigt schlecht ist.

Können Sie der protestantischen Wortlastigkeit denn gar nichts abgewinnen?

Doch, natürlich. Ich bin ja schliesslich protestantisch sozialisiert worden. Das bringst du nicht einfach weg. Die Liebe zum Wort ist tief in mir drin. Vielleicht bin ich ja gerade deshalb so kritisch, was das Predigen angeht.

Was bringt Sie bei einer Predigt so richtig auf die Palme?

Was ich nicht ausstehen kann, ist dieser Hang zur Aktualisierung, der meint, das Bibelwort auf den Alltag der Gottesdienstbesucher herunterbrechen zu müssen, damit die Leute es auch ja verstehen. Wer dies tut, verkauft die Gläubigen für dumm und wird seinem Amt nicht gerecht. Neulich las ich im Pfarrblatt, dass es ökumenische Pizzagottesdienste gibt. Wenn ich das nur schon höre! Zu meinen, damit hole man die Abtrünnigen in die Kirche zurück, halte ich für einen fundamentalen Irrtum. In der Kirche erwarte ich das ganz Andere und nicht das, was ich tagtäglich um mich habe.

Wie gelingt eine Predigt?

Eine Predigt sollte intelligent sein und mich zum Mitdenken herausfordern. Ich möchte spüren, dass der Mensch da vorne Theologie studiert hat und weiss, dass das Bibelwort menschengemacht und interpretationsbedürftig ist. Darum stört es mich auch überhaupt nicht, wenn eine Pfarrerin oder ein Pfarrer zugibt, dass sie oder er Mühe hat mit einer bestimmten Bibelstelle. Ich habe sie auch. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass die Predigt mich existenziell anspricht und mehr ist als nur eine Paraphrase der Bibelstelle, die an dem oder jenem Sonntag gerade auf der liturgischen Tagesordnung steht. Warum nicht einmal von einer Erzählung von Franz Kafka ausgehen oder einem Gedicht von Kurt Marti? Das könnte doch spannender sein als diese nichtssagenden Wort-für-Wort-Auslegungen, die man gemeinhin zu hören bekommt. Wir sind schliesslich in einem Gottesdienst und nicht im Exegeseseminar!

Sie haben ein Problem mit der Banalisierung von Religion. Karl Barth und Dorothee Sölle sind aber schon lange tot. Ist das theologische Feuer eingeschlafen?

Sagen wir es so: Die Theologie war auch schon mal politischer, existenzieller und engagierter als heute. Als ich anfing, mich mit der Materie zu befassen, hatten die feministische Theologie und die Befreiungstheologie ihre grosse Zeit. Da war etwas am Aufbrechen, da ging es um etwas. Das scheint mir heute vorbei zu sein. Vielleicht hat sich der Wunsch nach theologischer Emanzipation auch einfach erschöpft. Das Kirchenvolk legt sich in Chur nicht mehr aus Protest vor den Eingang der Kathedrale. An Reform glauben heute nur noch wenige. Bei den Katholiken ist Ermüdung zu spüren, weil sich nie etwas ändert. Bei den Protestanten ist es wohl eher Gleichgültigkeit einer Institution gegenüber, die mir nichts mehr zu sagen hat.

Bereitet Ihnen diese Resignation Sorgen?

Ja, denn sie fördert den Durchmarsch von Reaktionären an die Spitzen der Kirchen. Die Leute sind verunsichert. Davon profitieren die Evangelikalen und die Rechtskatholiken, die eine klare, autoritäre Botschaft haben: Das ist richtig, das ist falsch, das will Gott, das will er nicht. Viele, die mit dem Kurs der Kirche nicht einverstanden sind, treten heute einfach aus. Jüngst haben zahlreiche Frauen aus Protest der katholischen Kirche den ­Rücken gekehrt. Das ist verständlich, aber schade.

«Älterwerden ist alles andere als toll. Ich bin allergisch auf dieses Schönreden des Alters. Meine Pensionierung war ein Schock und stellte mein Selbst­verständnis total in Frage.» Klara Obermüller

Ein anderes, unvermeidliches Thema: Hadern Sie mit dem Alter?

Natürlich. Älterwerden ist alles andere als toll. Ich bin allergisch auf dieses Schönreden des Alters. Meine Pensionierung war ein Schock, sie stellte mein Selbstverständnis total in Frage. Ich liebte meinen Beruf und hatte Panik, dass ich jetzt einfach abgeschrieben wäre. Wie sehr ich auf Bestätigung und Anerkennung angewiesen bin, merkte ich erst am Ende meines Berufslebens.

Sie schreiben bis heute und sind eine gefragte Referentin.

Ja, zum Glück habe ich bis jetzt keine nennenswerten geistigen Einbussen. Doch ich weiss nicht, wie lange es mit mir noch so weitergeht. Deshalb versuche ich jetzt schon, mich innerlich von solchen Abhängigkeiten zu lösen. Ich möchte vorbereitet sein, wenn der Tag kommt, da nichts mehr geht. Körperlich macht sich das Alter schon bemerkbar. Ich bin langsamer geworden und klettere auf keine Berggipfel mehr. Und auch in den Spiegel blicke ich nicht mehr gerne. Wenn ich heute Bilder von mir sehe, wende ich mich manchmal schaudernd ab. Doch ich bin ein pragmatischer Mensch und weiss: Es lässt sich nicht ändern.

Haben Sie Angst vor dem Sterben?

Vor dem Sterben ja, vor dem Tod nicht.

Was halten Sie von der Sterbehilfe, wie Sie von Organisationen wie Exit oder Dignitas angeboten wird?

Es gehört für mich zur freien Willensentscheidung jedes Einzelnen, wie er von dieser Welt gehen will.

Das klingt nach einem «Aber».

Aber für mich ist das keine Option. Und es macht mich wütend, dass diese Organisationen behaupten, nur ein selbstbestimmtes Sterben sei auch ein würdevolles Sterben. Schmerzen zu haben, pflegebedürftig, ja vielleicht sogar inkontinent zu sein ist nicht würdelos. Würdelos ist nur der Umgang damit. Entwürdigend ist es, wenn alte, sterbenskranke Menschen keine angemessene Betreuung erhalten. Wenn Demente grob behandelt oder Pa­tienten stundenlang in ihrem Dreck liegen gelassen werden, weil das Pflegepersonal überfordert oder schlecht ausgebildet ist. Das ist entwürdigend, aber doch nicht das Leiden oder die ­Gebrechlichkeit.

Woher kommt Ihre Wut?

Aus meiner tiefen Überzeugung, dass es Dinge im Leben gibt, über die wir nicht verfügen. Dazu gehören Geburt und Tod. Weder wurden wir gefragt, ob wir zur Welt kommen wollen, noch werden wir gefragt, wie wir von dieser Welt gehen wollen. Darum stosse ich mich an den Allmachtsphantasien, die in der Rede vom selbstbestimmten Sterben mitschwingen. Geprägt hat mich sicher auch meine letzte Zeit mit meinem verstorbenen Mann Walter Matthias Diggelmann.

Er starb an einem Hirntumor. Sie haben ihn bis zuletzt betreut.

Ja, und dabei – und das soll jetzt nicht zynisch klingen – sein Sterben als einen ganz wichtigen Prozess erlebt, für mich wie für ihn. Er war kein religiöser Mensch, und es gab Phasen in seinem Leben, in denen er suizidal war. Doch als es auf den Tod zuging, war es für ihn plötzlich kein Thema mehr, seinem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen. Ich pflegte ihn zuhause, über Monate hinweg. Unser Hausarzt und sein Sohn aus erster Ehe unterstützten mich dabei. Mein Mann schrieb in dieser letzten Zeit eine Art Sterbetagebuch. Es war ein bewusster Prozess des Loslassens und des Abschiednehmens. Wir hatten das, was wir gemeinsam hatten, zu Ende gelebt. Er wurde dreiundfünfzig, ich war neununddreissig, als er starb. Diese Erfahrung hat etwas mit mir gemacht.

Was genau?

Ich habe erlebt, wie ein Mensch im Sterben noch einmal ganz neu zu sich selber kommt und sein Leben sich wie ein Kreis schliesst. Seither weiss ich: So würde ich es mir auch einmal wünschen. Deshalb bin ich bis heute nicht Mitglied einer Sterbe­hilfeorganisation und habe auch nicht im Sinn, es zu werden.

Im nächsten Jahr werden Sie achtzig Jahre alt. Blicken Sie zufrieden auf Ihr Leben zurück?

Im Grossen und Ganzen ja. Als ich 2016 meine Biografie schrieb, setzte ich mich mit meinen grossen Lebensthemen noch einmal ganz bewusst auseinander: mit meinen Beziehungen zu Männern, mit dem Tod naher Menschen, mit meiner Geschichte als Adoptivkind. Erst im Alter ist so etwas möglich. Ich stellte dem Buch ein Zitat von Kierkegaard voran: «Nach vorne gerichtet müssen wir das Leben wagen – erst in der Rückschau können wir es erkennen.» Es ist schön, auf diese Weise noch einmal durch sein Leben gehen zu können.

Was bleibt noch zu tun?

Ich würde gerne noch weitere Reisen unternehmen. Zum Beispiel nach Algerien, in das Land, in dem Camus seine Romane schrieb. Er war der Autor, der mich in jungen Jahren total aus der Bahn warf. Hätte ich seine Bücher nicht gelesen, wäre mein Leben anders verlaufen. Ich würde gerne auf seinen Spuren zu den Ruinen von Tipasa fahren und mit ihm den Strand entlanggehen, der Schauplatz seines Romans L’Étranger ist.

«Camus war der Autor, der mich in jungen Jahren aus der Bahn warf. Gerne würde ich noch in Algerien zu den Ruinen von Tipasa fahren und mit ihm den Strand entlanggehen, der Schauplatz seines Romans L’Étranger ist.» Klara Obermüller

Wann geht es los?

Das weiss ich nicht. Es ist nicht ganz einfach, das politisch instabile Algerien zu bereisen. Doch Hauptsache ist, dass ich überhaupt noch Reisepläne schmieden kann. Der Gedanke, ins Unbekannte aufzubrechen, elektrisiert mich. Ich sage immer: Wenn ich mal schwerkrank darniederliege, soll jemand kommen und mir eine Reise vorschlagen. Wenn ich dann nicht mehr aufstehe, ist es höchste Zeit, den Pfarrer zu rufen.

Klara Obermüller: Spurensuche. Xanthippe, Zürich 2016; 206 Seiten; ca. 35 Franken.

Susanne Leuenberger ist bref-Redaktorin.
Oliver Demont ist Redaktionsleiter bei bref.
Der Fotograf Michel Gilgen lebt in Zürich.

Klara Obermüller wurde 1940 in St. Gallen geboren und wuchs in Zürich auf. Sie studierte Germanistik, Romanistik sowie Geschichte in Zürich, Hamburg und Paris. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über die Melancholie in der deutschen Barocklyrik. Mit fünfundzwanzig Jahren begann sie journalistisch zu schreiben. Sie arbeitete unter anderem bei der Kunst- und Kulturzeitschrift Du, bei der Neuen Zürcher Zeitung, der Weltwoche sowie für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Kurze Zeit war sie Mitglied des Literarischen Quartetts rund um Marcel Reich-Ranicki. Einem breiteren Publikum wurde Klara Obermüller als Moderatorin der Sendung Sternstunde Philosophie im Schweizer Fernsehen bekannt. Heute ist sie als freie Publizistin, Moderatorin und Referentin tätig. In ihrer 2016 erschienenen Biografie Spurensuche blickt sie auf ihre Karriere und wichtige Lebensstationen zurück.

2011 wurde im Zuge der «Plagiatsaffäre» publik, dass der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg in seiner Doktorarbeit ganze Passagen eines NZZ-am-Sonntag-Leitartikels von Klara Obermüller übernommen hatte, ohne sie als Zitat zu kennzeichnen.

Für ihre journalistische Arbeit im Bereich Kirche und Gesellschaft wurde Klara Obermüller von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich 2010 der Ehrendoktor verliehen. Im Mai 2019 erhielt sie für ihr Lebenswerk den Zürcher Journalistenpreis. Klara Obermüller lebt in Männedorf am Zürichsee. su