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Interview: Vanessa Buff
Bild: Niek Stam
Freitag, 10. Februar 2023

Frau Zorgdrager, seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Zehntausende Menschen wurden getötet ­oder verletzt, viele weitere sind traumatisiert und haben Angst. Was können die Kirchen im Land tun, um zu helfen?

Viele hohe Kirchenvertreter verurteilen die Kriegsverbrechen Russlands öffentlich und fordern Gerechtigkeit. Sie legen damit ein Zeugnis der Wahrheit ab, aber auch ein Zeugnis der Hoffnung gegenüber der Verzweiflung, ein Zeugnis, dass das Leben über den Tod triumphieren wird. Während der Raketenangriffe auf Kiew zu Beginn des Krieges hat der Patriarch der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, Swjatoslaw Schewtschuk, in einem Schutzraum ein Video aufgenommen. Er versuchte damit, die Menschen zu trösten und ihnen Mut zuzusprechen. Seither verbreitet er jede Woche eine solche Botschaft. Auf diese Weise wird er zum spirituellen Anführer. Es ist seine Art, den Kampf gegen Russland zu unterstützen.

Gleichzeitig entsenden die Kirchen Seelsorger an die Front. Welche Rolle spielen sie?

Ihre Hauptaufgabe ist es, den Soldaten zu helfen, menschlich zu bleiben – in einer Situation, die absolut unmenschlich ist. Nicht Hass zu predigen, aber auch nicht von Vergebung zu sprechen. Denn wenn ein Land angegriffen wird, wenn ein solch zerstörerischer Krieg geführt wird, dann ist dafür nicht der richtige Moment. Insgesamt würde ich die Rolle der Kirchen so zusammenfassen: Sie sind dort, wo die Menschen sind. Wenn sich die Menschen in den Schutzräumen befinden, suchen die Kirchen einen Weg, wie die Liturgie in die Bunker und Keller kommt. Und wenn die Menschen an der Front sind und kämpfen, sind die Kirchen dort, um mit ihnen zu beten.

«Die Menschen suchen Trost in den religiösen Ritualen, in der Liturgie und in Messen.»

Im Deutschen gibt es ein Sprichwort: Not lehrt beten. Wenden sich die Menschen in der Ukraine verstärkt der Religion zu, seit die russische Armee das Land angegriffen hat?

Die Ukrainerinnen waren schon vor Kriegsbeginn sehr religiös: Aus Umfragen wissen wir, dass für rund 70 Prozent der Bevölkerung die Kirchen eine wichtige Rolle spielen. Ich würde sagen, dass ihre Bedeutung in den letzten Monaten noch zugenommen hat. Die Menschen suchen Trost in den religiösen Ritualen, in der Liturgie und in Messen.

Die Ukraine gehörte bis 1991 zur Sowjetunion, deren Staatsdoktrin im Grunde atheistisch war. Eine Religion zu  praktizieren war schwierig oder teilweise sogar verboten. Wie erklären Sie sich, dass die Kirchen in der heutigen Ukraine eine derart wichtige Rolle spielen?

Die verhältnismässig immer sehr religiöse Westukraine wurde erst 1939 von der Sowjetunion besetzt. Kirchen wurden zwar verboten, liquidiert und zwangsvereinigt mit der russisch-­orthodoxen Kirche. Aber als Untergrundbewegung wurden sie zu einer Quelle des Widerstands und der Resilienz. Nach dem Fall der Sowjetunion gab es in der jetzt selbständigen Ukraine keine funktionierenden sozialen Institutionen mehr und überhaupt noch keine Zivilgesellschaft. Die Kirchen haben dieses Vakuum gefüllt – als moralische Stimme der Gesellschaft, aber eben auch ganz konkret mit ihrer diakonischen Arbeit. Sie halfen Menschen mit Drogen- und Alkoholproblemen oder Familien, deren Angehörige als Arbeitsmigranten nach Westeuropa gingen. Auch in der Aidshilfe waren sie aktiv. Zudem haben sie Initiativen für Dialog und Versöhnung lanciert oder unterstützt – ein wichtiger Aspekt in einem pluralistischen Staat wie der Ukraine, in der es verschiedene Religionen, Ethnien, Sprachen und Kulturen gibt.

Lassen Sie uns diese verschiedenen Religionen ein wenig genauer anschauen …

Gerne, aber ich muss Sie warnen: Das Bild ist kompliziert.

Versuchen wir es trotzdem.

Derzeit gibt es zwei grosse orthodoxe Kirchen in der Ukraine. Die eine – die orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) – ist komplett von der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) losgelöst. Sie ist entstanden aus zwei zuvor von der ROK getrennten Kirchen und wurde 2019 als selbständig anerkannt vom Patriarchen von Konstantinopel. Die andere – die ukrainisch-orthodoxe Kirche (UOK) – hat erst im Frühling 2022 ihre Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat erklärt. Es ist unklar, was der Schritt genau bedeutet und ob es Verbindungen gibt, die weiterhin bestehen. Beobachter vermuten, dass ein Teil der Bischöfe und Priester der ROK gegenüber loyal geblieben sind.

Heleen Zorgdrager ist Professorin für Systematische Theo­­­logie und Genderstudies an der Protestantischen theo­­lo­­gischen Universität in den Niederlanden. Zudem arbeitet sie als Gast­professorin am Ökumenischen Institut in Lwiw. Zorgdrager kennt die Stadt sowie die religiöse Landschaft der Ukraine schon seit bald 20 Jahren: Von 2005 bis 2010 arbeitete sie im Departement Mission und Ökumene der ­Pro­­­tes­tan­ti­schen Kirche in Niederlanden und war unter ­an­derem für den Auf­­­­bau eines ökumenischen Netzwerkes in Osteuropa zuständig. Während dieser Zeit verbrachte sie zweimal im Jahr je sechs Wochen in Lwiw, um an der ­dor­tigen Katholischen Universität zu unterrichten.

Zorgdrager studierte zudem ein Jahr in Wittenberg, das da­­­mals zur DDR gehörte. Nach dem Fall der Mauer und dem Zu­sammenbruch der Sowjetunion reiste sie in ­ver­schie­­­de­­ne Länder Osteuropas, um sich dort mit anderen ­Theo­l­ogen aus­zutauschen. «Die Rolle der Kirchen in den postsowjetischen Staaten interessierte mich sehr», sagt Zorgdrager heute.

Wie kommt das im ukrainischen Volk an?

Die UOK steht unter einer Art Generalverdacht. Im Dezember gab es Razzien in ihren Gebäuden – es wurde vermutet, dass dort Waffen versteckt sein könnten und dass die Kirche mit Russ­land kollaboriere. Darum gibt es Stimmen, welche die Kirche ­komplett verbieten wollen. Andere warnen davor, die Religionsfreiheit zu beschränken – ein Schritt, den man eher dem totalitären Russland zutraut. Klar ist, dass seit Kriegsbeginn mindestens hundert Gemeinden von der UOK zur OKU gewechselt haben. Wie viele Menschen das betrifft, ist aber nicht bekannt. Auch weil es keine offiziellen Statistiken über die Kirchenzugehörigkeit gibt.

Zu Beginn des Gesprächs haben Sie die ukrainische griechisch-katholische Kirche respektiv ihren Patriarchen Swjatoslaw Schewtschuk erwähnt.

Das ist die drittgrösste Kirche des Landes. Sie existiert seit dem späten 16. Jahrhundert, hat also eine lange Tradition in der Ukrai­ne, und ist vor allem im Westen verbreitet. Sie gehört zur ­weltweiten katholischen Kirche, anerkennt den Papst, feiert aber die orthodoxe Liturgie. Das «griechisch» ist missverständlich – ­es steht eher für östlich oder byzantinisch. Hinzu kommt ei­ne Reihe von protestantischen Minderheitskirchen, jüdische ­Gemeinden vor allem in den Grossstädten und natürlich auch Muslime – insbesondere die Krim-Tataren.

Im Dezember sorgte die Nachricht für Aufsehen, ­dass die OKU ihren Mitgliedern und Gemeinden erlaubt ­­hat, Weihnachten bereits am 25. Dezember zu feiern und nicht wie üblich am 7. Januar. Damit wollte sich die Kirche weiter von der russisch-orthodoxen Kirche abgrenzen, die offiziell den Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützt. Wie ist Ihre Wahrnehmung — haben das viele Menschen getan?

Ich denke, dass das vor allem Ukrainerinnen im Ausland gemacht haben. Vielleicht auch unter dem Eindruck der Traditionen, die in ihren Aufenthaltsländern vorherrschen. In den Niederlanden etwa haben viele Menschen zweimal gefeiert. Es ist aber schon so, dass es in der Ukraine seit längerem Diskussionen darüber gibt, wie das westliche und das östliche Christentum näher ­zusammenrücken könnten und ob es nicht ein gemeinsames ­Datum für Ostern sowie Weihnachten geben sollte. Gut möglich, dass der Krieg als Katalysator für diesen Prozess wirkt. Auch durch die Flüchtlinge, die jetzt in Westeuropa Zuflucht finden und hoffentlich irgendwann zurückkehren.

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Deuten Sie diesen Schritt der OKU als Signal — ­als Statement, dass sie sich eher westlich als östlich versteht?

Das würde mir zu weit gehen. Es stimmt zwar, dass alles, was in Verbindung steht zu Russland, mittlerweile als extrem negativ wahrgenommen wird. Selbst Freunde von mir, die sonst sehr moderat sind, können ihren Hass gegenüber Russland nicht mehr verbergen. Doch russisch ist nicht gleich östlich – der Begriff «östlich» umfasst mehr. So gibt es viele östliche Kirchen, viele orthodoxe Kirchen, die nichts mit Moskau zu tun haben und auch den Krieg nicht unterstützen. Denen fühlen sich die ukrainischen Kirchen verbunden. Sogar die Protestanten in der Ukraine sehen sich als östliche Christen, selbst wenn es starke westliche Einflüsse gibt. Das wird der entscheidende Punkt sein: Eine ukrainische Kultur und Religion aufzubauen, die zwar östlich, aber eben nicht russisch ist. Und ja, vielleicht heisst das, dass Weihnachten irgendwann am 25. Dezember gefeiert werden wird. Momentan ist das aber noch nicht weit verbreitet, habe ich den Eindruck.

Dennoch: Auf politischer Ebene versucht die Ukraine seit längerem, sich dem Westen anzunähern. Wie stehen die Kirchen dazu?

Auf einer politischen Ebene unterstützen sie diesen Prozess, ­von den Maidan-Protesten 2014 bis hin zum Gesuch der Ukraine ­­
um die EU-Mitgliedschaft Ende Februar 2022. Sie tun dies ­öffent­­lich, und sogar die UOK, der man ja eine Nähe zu Moskau ­nach­­sagt, hat sich nie dagegen ausgesprochen. Wenn wir jedoch von ­der religiösen oder kulturellen Ebene sprechen, wird die Sache komplizierter.

«Die Kluft zwischen religiös-konservativen und liberal-säkularen Gruppen wird kleiner.»

Erklären Sie das bitte.

Es geht um die Frage der Werte: Was sind europäische Werte, was sind ukrainische und was christliche Werte? Da gibt es alle möglichen Positionen. Ich würde sagen, die Kirchen teilen ­­Ideale wie Demokratie, Menschenwürde, Freiheit oder Solidarität, die sich auch Europa auf die Fahne geschrieben hat. Werte jedoch, die mit Familie zu tun haben, mit Gender oder Sexua­lität, sind etwas anderes. Dort gibt es eine starke Opposition von Seiten der Kirchen. Kurz: die Kirchen wollen Europa, aber ohne Gender. Allerdings hat sich in der jüngsten Vergangenheit gezeigt, dass diese Opposition abnimmt. Die Kluft zwischen religiös-konservativen und liberal-säkularen Gruppen wird kleiner.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Die Ukraine ratifizierte im Sommer 2022 die Istanbul-Konvention, ein Abkommen des Europarates zur Bekämpfung von ­häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen. Der Allukrainische Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften protestierte zwar ­gegen diesen Schritt, doch wirkte das nur halbherzig. Zuvor hatte der Rat, in dem alle grossen Kirchen und Religions­­gemein­schaften vertreten sind, die Ratifizierung über Jahre ­blockiert. Er l­obbyierte und wandte sich direkt an den Präsidenten. Heute dagegen scheinen die Kirchen verstanden zu ha­ben, dass die ­Ukraine andere Probleme hat. Das Land kämpft um ­seine Existenz.

Warum waren die Kirchen gegen die Ratifizierung der Istanbul-Konvention?

Die Konvention benützt den Genderbegriff, um klarzumachen, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist. Die Ungleichheit der Geschlechter sowie soziale und kulturelle Auffassungen über Frauen und Männer tragen dazu bei. Deshalb sollen diese Aspekte in Bildung und Politik thematisiert werden. Die Kirchen aber lehnen das Konzept «Gender» im Unterschied zum «natürlichen» Geschlecht vehement ab. Ihrer Ansicht nach wird so die geschaffene Dualität von Mann und Frau geleugnet und die Basis der traditionellen Familie untergraben. Kirchenführer sehen das Problem von Gewalt gegen Frauen eher als individuelle Sünde des Mannes. Der sollte lernen, seine Aggressionen zu beherrschen. Die Genderdebatte in der Ukraine ist aber heutzutage weniger heftig als früher. Auch hier hat sich der Krieg ausgewirkt.

«Zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine wird jetzt ­öffentlich über Vergewaltigung gesprochen. Sogar Patriarch ­Schewtschuk hat sich in einer Rede dazu geäussert. Das alles hat den Stellenwert von Frauen in der Gesellschaft verändert.»

Inwiefern?

Die Frauen sind in den letzten Monaten auf zweierlei Arten sichtbar geworden. Zum einen kämpfen sie als Soldatinnen an der Front, organisieren humanitäre Hilfe, unterstützen die Kampfhandlungen im medizinischen, logistischen oder administrativen Bereich. Sie zeigen sich handlungsfähig und krisen­kompetent, auch die vielen Frauen auf der Flucht. Zum anderen haben etwa die Greueltaten in Butscha gezeigt, dass die russische Armee sexuelle Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe ein­setzt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine wird jetzt ­öffentlich über Vergewaltigung gesprochen. Sogar Patriarch ­Schewtschuk hat sich in einer Rede dazu geäussert. Das alles hat den Stellenwert von Frauen in der Gesellschaft verändert. Wenn Frauenorganisationen nun sagen, dass die Istanbul-Konvention wichtig ist, um Frauenrechte zu schützen und zu verankern, dann hat das heute ein anderes Gewicht als noch vor dem Krieg.

Sie haben einen Artikel über dieses Thema verfasst. Darin schreiben Sie auch, der Krieg habe die Einstellung gegenüber der LGBT-Community verändert. Können Sie das ausführen?

Homophobie ist in der ukrainischen Gesellschaft weit verbreitet. Frühere Umfragen besagen, dass rund 60 Prozent der Menschen klar negativ eingestellt sind gegenüber Menschen aus der LGBT-Community. Diese Zahl ist jüngst auf rund 38 Prozent gesunken. Queere Menschen dienen in der Armee, sie zeigen sich als Soldaten und Soldatinnen in den sozialen Netzwerken, und die Regierung hat bekannte LGBT-Aktivisten für ihre Verdienste im Krieg ausgezeichnet. Gleichzeitig drängen queere Organisa­tionen auf vollständige rechtliche Anerkennung, so dass etwa ­Partner von gefallenen Militärangehörigen abgesichert sind oder im Falle einer Kriegsverletzung medizinische Entscheidungen ­treffen können. Präsident Selenski hat zugesichert, sich dieser ­Angelegenheit anzunehmen.

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Sie deuten das als Zeichen, dass die Kirchen ihre Opposition aufgeben oder zumindest abschwächen. Möglich wäre aber auch, dass sie an Einfluss verlieren — dass also der Liberalisierungsprozess, den Sie beschreiben, gegen den Willen der Kirchen stattfindet.

Wenn Sie mich fragen, ob die Kirchen selbst liberaler werden – das glaube ich tatsächlich nicht. Aber ich würde sagen, sie haben verstanden, dass die Unterstützung für ihre Positionen in der Gesellschaft nicht mehr so gross ist wie früher. Und dass sie in Kriegszeiten andere Prioritäten setzen müssen, dass sie bei den Menschen sein müssen, statt Interessenpolitik zu betreiben. Die Ukraine kann sich derzeit keine internen Querelen leisten, weil das die Gesellschaft schwächen würde. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch die Rolle von Kyrill I., dem Moskauer Patriarchen.

Wie meinen Sie das?

Kyrill I. unterstützt den Angriff auf die Ukraine offen. Er behauptet, die Menschen im Donbass würden zu Schwulen-Paraden gezwungen, er spricht von der traditionellen Familie und davon, dem Westen mit seinen LGBT-Rechten und Genderkonzepten etwas entgegenzusetzen. Russland befinde sich in einem metaphysischen Kampf gegen das Böse, so sagt er. Damit legitimiert er den Krieg ideologisch. Wenn die Kirchen in der Ukraine nun ins selbe Horn stossen und ebenfalls ihre Identität verknüpfen mit der Verteidigung sogenannt traditioneller Werte, dann laufen sie Gefahr, in Kyrills Fahrwasser zu geraten. Und das wollen sie auf keinen Fall.

«In der Argumentation der russischen Kriegstreiber verteidigt sich ihr Land gegen das Übel des degenerierten Westens.»

Vor diesem Hintergrund: Würden Sie den Angriff Russlands als religiösen Krieg beschreiben?

Ich würde sagen, es ist ein Krieg mit religiöser Dimension. In der Argumentation der russischen Kriegstreiber verteidigt sich ihr Land gegen das Übel des degenerierten Westens. Die russischen Soldaten, die auf dem Schlachtfeld sterben, werden so «ihre ­Sünden abwaschen», wie es Kyrill I. formulierte. Und Wladimir ­Putin erklärte den Krieg zu einer Schlacht, in der die christliche Zivilisation und die traditionellen christlichen Werte gegen den Satanismus verteidigt werden müssen.

Oft wird in diesem Zusammenhang vom Mythos der «Heiligen Rus» gesprochen. Was hat es damit auf sich?

Gemäss dieser Ideologie, der sich sowohl Kyrill I. als auch Putin verschrieben haben, gibt es eine geistige, kulturelle und politische Einheit zwischen allen slawisch-russischen Völkern. Sie teilen eine gemeinsame Sprache – Russisch – und eine Kirche – die russisch-orthodoxe Kirche. Moskau ist das Zentrum, Kiew dagegen die geistige Wiege. Nach dieser Logik darf die Ukraine keine eigene Identität als Volk, Land oder Staat besitzen. Als «Kleinrussland» gehört sie zur russischen Welt, zur sogenann­ten Russki Mir. Das ist meiner Meinung nach der eine Grund, warum das Putin-Regime den Krieg begonnen hat. Der andere ist pragmatischer.

Nämlich?

Russland ist mittlerweile ein totalitärer Staat. Die Ukraine dagegen ist demokratisch und pluralistisch, ein Land, in dem auch Minderheiten Rechte haben und verschiedene Gruppen miteinander um Kompromisse ringen. An diesem Beispiel können die Russinnen und Russen sehen, dass auch eine andere Entwicklung für einen postsowjetischen Staat möglich ist. Das kann ­Putin nicht akzeptieren.