Als Achim Wollmershäuser den Polizeitrupp herbeistürmen sieht, überlegt er noch kurz, zu verschwinden. Eine Zigarette rauchen draussen vor der Empfangshalle des Flughafens Kloten. So tun, als hätte er nichts mit der Sache zu tun. Doch er bleibt stehen. Warum, kann er heute nicht mehr genau sagen. Klar ist: Es ist die letzte in einer Reihe von Entscheidungen, die dazu führen, dass Pfarrer Wollmershäuser nur wenige Sekunden später in Handschellen abgeführt wird. Zusammen mit dem Mann aus São Paulo, den er vom Flughafen hätte abholen sollen und in dessen Koffer beinahe drei Kilogramm Kokain versteckt liegen.
Als Wollmershäuser etwas später im Verhörzimmer des Flughafengefängnisses sitzt, denkt er an die Menschen, die ihm nahestehen. Er denkt an Subingen, den beschaulichen Ort im Solothurner Wasseramt, und dass die Dorfbewohner ihn nun als Kriminellen sehen werden. «Ich bin Pfarrer!» sagt er zur Staatsanwältin, die nicht damit aufhören will, unbequeme Fragen zu stellen. Er hofft, dass man ihn schonen wird. Er hat doch eigentlich gar nichts getan. So sieht er das damals.
Das Pfarrhaus in Subingen wird noch am selben Abend von einem Polizeitrupp auseinandergenommen. Und Wollmershäuser für zwei Monate in Untersuchungshaft gesteckt. Die Anklage: Drogenschmuggel und Geldwäscherei. Die Solothurner Zeitung berichtet. Der Blick gibt ihm bald den Titel «Koks-Pfarrer». Doch wie schuldig ist Wollmershäuser wirklich?
Nervös lächelnd sitzt der 47jährige im Café Cuba in Biel. Hier hat die Geschichte vor über drei Jahren ihren Anfang genommen, in dieser Latinokneipe, in der der Pfarrer Ruhe von seinem Amt fand. Wollmershäuser, schlaksig, mit federndem Gang und weichen Gesichtszügen, antwortet aufmerksam und deutlich. Im Hintergrund trällern Sambaschlager. Die Geschichte beurteilt er heute anders. Klar, er sei naiv gewesen. Klar, er hätte mehr Nein sagen sollen. Obwohl, irgendwie auch wieder nicht, er sei ja schliesslich Christ. Eine schnelle Erklärung, so viel wird rasch klar, gibt es für diese Geschichte nicht. Beginnen wir von vorne. Wollmershäuser deutet auf ein Tischchen in der Ecke des Fumoirs. Hier sass er, als ihn jene Frau ansprach, die ihn, wie er sagt, in diese Sache hineingezogen habe. Sie hiess Ivana und schrieb ihm, als er bereits auf dem Weg zum Flughafen war, noch eine SMS: «Du darfst die Sache heute auf keinen Fall vergessen.» Er war nervös damals, wollte das alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Wie so vieles andere in seinem Leben auch. Er hörte die Anbetungslieder der Vineyard Church zur Beruhigung. Lord forgive me, Lord I need to meet you there.
Wollmershäuser mochte Ivanas Gesellschaft, war er doch nach der Trennung von seiner Frau oft alleine. Sie trafen sich wieder und sprachen dabei auch über Gott. Sie war ebenfalls gläubige Christin. Es dauerte nicht lange, da verliebte er sich in sie. Sie entgegnete ihm, sie sei in einer Beziehung mit einem Mann, der in Brasilien im Gefängnis sitze. Später sprach sie von ihren Depressionen und davon, dass sie kaum arbeiten könne. «Sie wirkte verzweifelt», sagt Wollmershäuser. «Ihr nicht zu helfen hätte gegen das Gebot der Nächstenliebe verstossen.» Gemeinsam besuchten sie Gottesdienste einer charismatischen Freikirche in Biel. Dann kam die Zeit, in der sie ihn um Geld bat. Zuerst fürs Handy, um nach Brasilien telefonieren zu können, ein paar Wochen später für Flüge nach São Paulo, wo sie ihren Freund heiraten wollte. Wollmershäuser überwies ihr 10 000 Franken. Ivana kehrte unverheiratet zurück. In Kontakt blieben sie trotzdem.
Wollmershäuser macht dem Gegenüber den Umgang leicht. Antwortet bereitwillig, nimmt Fragen sogar oftmals vorweg. Glaubt man seiner Version der Geschichte, fragt man sich unweigerlich: Kann einer wirklich so naiv sein? Oder ist das alles nur Fassade?
Die Zahlen jedenfalls sind deutlich: 29 347.80 Franken listet die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift auf. Es ist die Summe, die Wollmershäuser Ivana innerhalb nur eines Jahres für Flüge bezahlt hatte. Den Grossteil des Geldes zahlte sie zwar zurück, doch Wollmershäuser ahnte, dass etwas mit der Sache nicht stimmte. Er bezahlte weiterhin. Geldwäscherei, lautet deshalb einer der beiden Hauptanklagepunkte.
Den Kaffee vor sich auf dem Tisch hat Wollmershäuser noch nicht angerührt. Für Momente wirkt er aufgewühlt, dann wieder seltsam gefasst. Immer freundlich. Mit seinem Schicksal hadere er nicht. «Du musst radikal unsicher sein in der Welt», zitiert er Dietrich Bonhoeffer. Als der Absturz kam, sei es für ihn auch irgendwie eine Erleichterung gewesen, die ganzen Geschichten mit dem Geld, mit der Liebe, die nicht richtig funktionieren wollte. Schwer zu verstehen, auch für ihn selber.
Der Arbeitersohn im Patrizier-Pfarrhaus
Dass Achim Wollmershäuser Pfarrer wurde, war nicht vorgesehen. Der Vater war Maurer und die Mutter Maschinenführerin in einer Textilfabrik; die vierköpfige Familie lebte in einer ländlichen Gemeinde im Norden Baden-Württembergs. Gläubig war die Familie nicht. Zum ersten Mal in Kontakt mit Religion kam Wollmershäuser durch die Zeugen Jehovas. Er las ihre Büchlein und war begeistert von den Bildern. Als Arbeiter wünschten die Eltern, er würde einen handwerklichen Beruf lernen, wie sie. Nur die Lehrerin am Gymnasium, das er als Einziger seiner Familie besuchte, war anderer Meinung. Weil er an Religionsunterricht interessiert war und weil das berühmte Stift in Tübingen den Theologiestudenten ein Stipendium sowie Kost und Logis garantierte, entschied er sich, Pfarrer zu werden.
Das Studium schloss er blendend ab. Die akademische Welt war aber weit weg von jener seiner Eltern. Auch zwischen ihm und seinen Mitstudenten taten sich Gräben auf. Ihr bürgerlicher Hintergrund fehlte ihm: Zuerst fühlte er sich von ihrem Habitus angezogen, später opponierte er dagegen. Unbewusst, wie er sagt. Er blieb in einer Art Dazwischen stecken, genau wie bei der Wahl seiner Kirche. Als er nach Bern zog, fand er als Theologe im Trance-artigen Stil der Vineyard Church, im Singen und im Tanzen, im Lobpreisen, eine Form, die ihm zusagte. «Die Liebe dort war förmlich spürbar», sagt er. Bei Vineyard fand er auch seine erste Freundin, eine ehemalige Heroinabhängige, die in der Freikirche Halt fand. Ihr Selbstbewusstein beeindruckte ihn, ebenso ihr bürgerlicher Hintergrund. Wohl auch, weil er ihm selber fehlte. Sie heirateten.
Der Einzug ins stolze Pfarrhaus in Subingen drei Jahre später war für Wollmershäuser eine Art Ankunft. Er, der Arbeitersohn aus Schwäbisch Hall, bewohnte nun dieses alte Patrizierhaus mit von Bäumen gesäumter Kiesauffahrt und gestutzter Hecke vor gemähtem Rasen.
Monatlich 6000 Franken für die Drogen der Ehefrau, einige 10 000 Franken für ihre Entzüge. Nein sagte Pfarrer Wollmershäuser nie.
Im Dorf war er beliebt. «Er gehörte dazu», sagt Thomas Kopp, der Kirchgemeindepräsident, der ihn nach seiner Verhaftung entlassen musste. «In der Beiz setzte er sich an den Stammtisch. Das ist nicht selbstverständlich.» Doch Wollmershäuser kämpfte zu der Zeit längst an zwei Fronten.
Während er im Andachtsraum im Parterre des Pfarrhauses predigte, spritzte sich seine Frau im ersten Stock Heroin. In Stein gemeisselt in der kleinen Kirche, neben Calvins Konterfei: «Man muss Gott erlauben, etwas zu tun, dessen Grund nicht vor aller Augen liegt.» Der Spruch habe ihm geholfen, seine Situation weiterhin zu ertragen. Auch die Liebe zu ihr, seine Pflicht, einen Menschen in Not zu unterstützen, halfen dabei. Und so zahlte er über mehrere Jahre monatlich 6000 Franken für Drogen und einige 10 000 Franken für Entzüge. Dazu kamen Zahlungen an Bittsteller, die bei ihm an der Pfarrhaustüre um Geld baten. Nein sagte Wollmershäuser nie. Dafür dies: «Wichtig ist nicht, dass man einen angesehenen Beruf hat, sondern dass man dort ist, wo Not herrscht.»
Wollmershäuser betete oft. Es möge doch irgendwie gehen. Doch es ging nicht. Nach fünf Jahren liess er sich scheiden, er hatte zu der Zeit bei der Migros Bank bereits 80 000 Franken Schulden. Es war die Zeit, als Wollmershäuser zum ersten Mal im Café Cuba in Biel verkehrte.
Sein Anwalt habe ihm geraten, auf den Punkt mit der drogenabhängigen Exfrau während der Gerichtsverhandlung nicht allzu deutlich einzugehen. Das Gericht könnte ihm die Tatsache, dass er hautnah erlebt hatte, welchen Einfluss Drogen auf Menschen haben, zu seinem Nachteil auslegen. «Damit hat er natürlich recht», sagt Wollmershäuser und lächelt gezwungen.
Letzte Hoffnung: Nachsicht
Ein paar Monate, nachdem er Ivana kennengelernt hatte, dann die Anfrage: Sie bat ihn, am Flughafen einen Bekannten abzuholen und ihn nach Basel zu fahren. Zusätzlich gab sie ihm eine Telefonnummer, die er anrufen könne, sobald er in der Stadt angekommen sei.
Nach zwei Monaten Untersuchungshaft wurde Wollmershäuser im Sommer 2015 in Bülach nahe dem Zürcher Flughafen der Prozess gemacht. Staatsanwaltschaft und Verteidigung einigten sich auf eine bedingte Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Dem Gericht war das allerdings zu milde: Es wies den Fall zurück und verurteilte den Pfarrer im Frühling 2016 zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 27 Monaten. Wollmershäuser legte Berufung ein. Das definitive Urteil steht daher noch aus. Leise sagt er: «Sollte man jemanden, der nicht Nein sagen kann, nicht mit Nachsicht behandeln?» Nach einer kurzen Pause fügt er an: «Es wäre mir aber peinlich, diesen Umstand zu sehr herauszustreichen.»
Was jetzt genau stimmt und wie viel Wollmershäuser wirklich wusste, als er Ivana immer wieder Geld überwies, mit dieser Frage beschäftigt sich derzeit das Zürcher Obergericht. Die Staatsanwältin schreibt auf Anfrage: «Aufgrund der namhaften Beträge musste dem Beschuldigten zumindest bewusst sein, dass es beim Erlös aus den Drogengeschäften um grössere Mengen ging, die im Bereich des Verbrechens liegen.»
Ein zweites Treffen mit Wollmershäuser findet in Subingen statt. Ein beschauliches Dorf, zehn Autominuten von Solothurn entfernt: Mitte-Links-Regierung, ein wenig Kleingewerbe, viel Landwirtschaft. In seiner ehemaligen Wirkungsstätte grüssen ihn die Spaziergänger noch immer. Ihre Herzlichkeit wirkt echt. Seine auch. Die Besitzerin des «Storchens» an der Hauptstrasse sagt: «Wollmershäuser hat das nicht böswillig gemacht. Er ist da reingerutscht.» Ihre Kinder wären liebend gerne zu ihm in den Konfirmationsunterricht gegangen, beteuert sie. Auch der Kirchgemeindepräsident Thomas Kopp bestätigt die freundliche Stimmung im Dorf gegenüber seinem früheren Pfarrer: «Es wurde damals nicht geredet. Die meisten fragten sich einfach, wie der Pfarrer da hat reingeraten können.»
Callcenter, 21 Franken die Stunde
Auf dem Weg ins alte Pfarrhaus erzählt Wollmershäuser von seiner jetzigen Situation. Er lebt heute in einem möblierten Zimmer in einem Gasthof, in direkter Nachbarschaft zu Maurern, wie sein Vater einer war. Der Arbeitersohn, dieser Schluss liegt nahe, ist wieder dort, wo er hergekommen ist. Sein Geld verdient er in einem Callcenter, mit einem Stundenlohn von 21 Franken. Die Arbeitsbewilligung als Pfarrer hat Wollmershäuser zwar nicht verloren, doch seine Bewerbungen liefen bisher ins Leere. Er versuchte es mit Offenheit, legte seine Geschichte in den Gesprächen dar. Einfach wird es für ihn nicht, das weiss er. Sich selber sieht er als Suchenden, und als solcher finde er Trost bei Gott.
Eine abschliessende Frage sei erlaubt: Hat nicht er, der so viel gegeben hat, nun ein Anrecht auf eine zweite Chance? Sind nicht die Armen selig, und gehört nicht ihnen die Erde? Werden nicht jene, die verloren gehen, irgendwann wiedergefunden?
Wollmershäuser zündet sich eine Zigarette an.
Er möchte jetzt warten, bis der Prozess vorbei ist. Abzüglich seiner zwei Monate U-Haft drohen ihm fünf Monate Gefängnis. Was er noch sagen wolle: Gott sei für ihn wichtiger denn je geworden. «Jetzt, wo ich alles verloren habe, ist der Glaube das Einzige, was mir niemand nehmen kann.»
David Sarasin ist Redaktor beim Tages-Anzeiger und freier Autor. Er lebt in Zürich.
Der Fotograf Roshan Adhihetty lebt in Zürich.