Frau Somalvico, in Ihrem Buch «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» ist Gott in ziemlich trüber Verfassung. Wie ist es so weit gekommen?
Es hat wohl damit zu tun, dass wir Gott als etwas Singuläres, Alleinstehendes denken: Ich konnte ihn mir schlicht nicht in einer grossen WG vorstellen oder in einer Beziehung zu einem anderen Gott oder einer Göttin. Die gibt es zwar in meiner Geschichte durchaus, aber irgendwie findet er den Zugang zu ihnen nicht. Gott ist älter geworden, etwas müde, etwas einsam. Vielleicht war er auch schon immer so. Er ist wie einer dieser Autoren, die in einer kurzen Schaffensphase drei gute Bücher publizieren. Mit siebzig schreiben sie zwar immer noch, aber es kommt nichts Schlaues mehr dabei heraus. Nur dass Gott statt Büchern die Erde erschaffen hat.
Ist Gott denn frustriert über seine Schöpfung?
Ich glaube, er ist eher frustriert über sich selbst. Dass er es offenbar nicht schafft, die Initiative zu ergreifen. Dass er so einen grossen Abstand hat zu dem, was ihm wichtig sein könnte.
Am Ende geht es Gott so schlecht, dass er zu sterben droht. Das erinnert ein wenig an die «Gott-ist-tot-Theologie».
Ich finde es verständlich, dass man sich angesichts dessen, was in der Welt geschieht, manchmal fragt, ob da überhaupt noch ein Gott sein kann. Als Analogie für meine Erzählung wäre mir das aber zu plump gewesen. Für mich war Gott eine Figur, und wie alle anderen Figuren habe ich ihn behandelt. Ich stellte ihre Bezeichnungen, die zugleich ihre Namen sind, in gewisse Zusammenhänge und sah zu, was passierte. Ich liess Schwein weinen, Dachs tüfteln. Und Gott Aprikosenhälften aus der Dose essen. Später wollte ich wissen, was mit Gott im Jenseits passiert. Wie ergeht es ihm, wenn er nicht zuhause ist?
Miserabel, wie sich herausstellt.
Ja. Für mich ist im Wort «Gott» schon eine gewisse Trägheit, vielleicht auch eine Traurigkeit enthalten. Oder eben sein eigener Tod. Wenn Gott das Hotel Jenseits geführt hätte, wenn er ein berühmter Hotelier mit einem begehrten Fünf-Sterne-Haus gewesen wäre – für mich wäre das mit diesem Begriff nicht gegangen.
Teile Ihres Buches sind schon vor einigen Jahren entstanden. Das gilt auch für die Figur Gott. Wie hat sich das ausgewirkt?
Tatsächlich würde ich heute keinen solchen Gott mehr erfinden. Wirklich nie, nie wieder!
Warum nicht?
Weil es ein männlicher Gott ist! Schon als Kind dachte ich: Halleluja, schaffe ich es irgendwann, mir einen anderen Gott vorzustellen? Einen weiblichen oder vielfältigeren Gott? Und ich war immer enttäuscht, weil es mir eben nicht gelungen ist. Immer landete ich bei diesem Typen mit dem langen, weissen Bart.
Zu Hause setzt Gott sich vors System. Er schaut zu, wie sich die Erde dreht. Er schaut zu, wie der Mond leuchtet. Dann setzt er die Fernbrille auf und guckt in eine Stadt. Guckt in ein Haus, in eine Wohnung, schaut einem Schwein zu, das mit geschlossenen Augen, genau wie er gestern, an einem Tisch, vor einem leer gegessenen Teller sitzt.
Man sollte die Erde keinem Melancholiker überlassen. Die Wesen, die darauf leben, werden nach seinem Ebenbild geschaffen sein. Man kann ja nicht anders. Man kommt ja nicht über die eigenen Gedanken, das eigene Bewusstsein hinaus, man steckt in sich selbst wie in einem dichtgerollten Teppich fest.
Das Schwein, sieht Gott, es weint.
Aus dem Buch «Ist das hier das Jenseits, fragt Schwein»

Das Problem ist ja auch ein semantisches: Sobald man von Gott spricht, ist er männlich konnotiert. Warum haben Sie nicht den Begriff Göttin verwendet?
Ich habe versucht, immer den gängigeren Begriff zu nehmen, weil dort die Fallhöhe am grössten ist: vom Bild, das durch das Wort erzeugt wird, zu dem, was dann tatsächlich geschieht. Ein anderes Beispiel: Statt Hirsch hätte ich Hirschkuh nehmen können, statt Schwein auch Sau. Aber die Konnotation wäre eine andere gewesen und der Bruch dieser Konnotation hätte nicht mehr geklappt. Dass Gott nun so ist, wie er ist, hat Sinn ergeben für dieses Buch; weiter bedienen möchte ich das Bild aber nicht.
In Ihrem Buch lassen sich viele religiöse Bezüge finde. Sie selbst haben aber nicht Theologie studiert …
Nein, aber ich würde gerne!
Warum?
Theologische und philosophische, aber auch gesellschaftspolitische Fragen interessieren mich sehr. Im Moment lese ich beispielsweise viel über Hannah Arendt. Mich fasziniert, welche Geschichten wir uns erzählen, und ich glaube, das hat sehr viel mit der christlichen Tradition zu tun. Deswegen würde ich gerne an diesen Wurzeln herumgraben – vielleicht das Alte und Verrottete ausbuddeln und an seine Stelle etwas Neues setzen. Auch unsere Sprache ist durchtränkt von christlichen Symbolen. Während des Schreibens musste ich mich davon teilweise abgrenzen: Bilder nicht übernehmen, weil sie zu aufgeladen gewesen wären.
Können Sie Beispiele nennen?
Der Fisch in der Badewanne von Gott – den könnte man natürlich bestens metaphorisch deuten. Allerdings wusste ich beim Schreiben nicht, dass der Fisch ein frühchristliches Symbol für die Anhängerinnen und Anhänger von Jesus ist. Ohnehin möchte ich während des Schreibens die metaphorische Ebene nicht bedienen, sondern einfach nahe bei den Figuren bleiben. In diesem Fall hat mir das Bild des Fisches, der zu gross ist für die Wanne, sehr gefallen. Erst nachher habe ich gemerkt, was da noch drinsteckt.
Welches Bild haben Sie als zu aufgeladen verworfen?
Die Kirche! Es kam eine Kirche vor, aber die musste raus. Einzig geblieben ist ein bisschen Glockengeläut in einer Szene.
Wurden Sie selbst religiös sozialisiert?
Ich wurde nicht getauft und war nur ein paar wenige Male in der Kirche. Als Kind wollte ich aber wissen, wie es ist, wenn man stirbt. Die grossen Lebensfragen haben mich immer umgetrieben. Heute empfinde ich mich in einem weitläufigen Sinn als gläubigen Menschen, wenn ich zum Beispiel vor einer Blume stehe oder mit einem Text zu tun habe. In beiden, der Blume und dem Text, liegt für mich die Möglichkeit eines tiefen Am-Leben-Seins. Bei beiden staune ich oder muss lachen, weil es mir so absurd vorkommt und zugleich überwältigend.
Würden Sie sagen, Sie glauben an Gott?
Nein. Kürzlich habe ich aber festgestellt, dass ich einige meiner wichtigsten Beziehungen zu Menschen hatte, die aus Pfarrersfamilien kommen. Gerade verbringe ich Zeit mit jemandem aus einem christlich-fundamentalistischen Umfeld, der sich früh aus diesen Kreisen lösen musste. Ich glaube, ich erfülle alle Kriterien eines religiösen Menschen, ausser dass ich zu keiner Kirche gehöre. Ich habe überhaupt kein Interesse an Ideologie und deshalb auch nicht an einer Religion im engeren Sinn, aber ich empfinde mich als spirituellen Menschen.
Noemi Somalvico (27) ist in Erlach am Bielersee als Tochter zweier Therapeuten aufgewachsen. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel und contemporary arts practice in Bern. Dazwischen arbeitete sie als Ideenentwicklerin beim Film und in einer Bar. «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» ist ihr Debütroman, ein weiteres Buch ist in Planung. Somalvico lebt in Bern.
In Ihrem Buch kommen neben Gott nur Tiere vor. Dabei ist doch die Fabel ziemlich aus der Mode gekommen.
Ich würde die Geschichte nicht als Fabel bezeichnen. Eine Fabel lebt von Stereotypen, vom schlauen Fuchs, vom langsamen Igel, und schliesslich auch von einer Moral. Mein Buch empfinde ich als modernen Text, in dem die Verschiebung von Mensch zu dem, was wir unter Tier verstehen, nur winzig ist. Bloss weil es eben Schwein ist, das beim Radio anruft … und nicht Tina oder Leonard. Aber es ist lustig, dass diese Verschiebung ausreicht, um ein Erstaunen auszulösen. Es wirkt so, als fänden die Leserinnen einen guten Zugang zu diesen Figuren, es scheint ihnen gut zu tun, in dieser Verschiebung von sich zu lesen.
Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
An meinem letzten Jahr am Literaturinstitut arbeitete ich an einer ziemlich tragischen Liebesgeschichte, aber irgendwie fand ich nicht den nötigen Abstand zu den Figuren. Weder mich noch andere Menschen hat dieser Text gepackt. Irgendwann dachte ich: Warum soll ich mich eigentlich auf herkömmliche Figuren beschränken, auf Ich und Du? Ich verwarf den alten Text und befreite mich mit den Tieren, von denen zumindest Schwein schon früher mal aufgetaucht war. Ich begann die Welt, in der Schwein wohnte, auszustatten. Bald schwappte das auf meine eigene Welt über: Ich lief durch die Strassen und sah eine Antilope in einem Café, ich fuhr Zug mit einer Giraffe. Ich merkte, dass das für mein Schreiben gut funktioniert.
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo man einen Text jemand anderem zeigen muss. Wie haben die Menschen auf Gott und die Tiere reagiert?
Die meisten fanden es vor allem witzig. Bei aller Traurigkeit des Textes waren sie sehr amüsiert von den Figuren. Sie waren meistens auch irgendwie erfreut, weil sie so etwas noch nie gelesen hatten. Zu Gott im speziellen wussten die wenigsten etwas zu sagen, so wie ich es ja auch schwierig finde, über ihn zu sprechen. Vielleicht ist er eben doch gelaufen – tot.
Aus Ihrem Text spricht eine gewisse Sprachverliebtheit. Was bedeutet Ihnen Sprache?
Ich habe eine grosse Faszination für das, was Sprache anrichten kann. Und manchmal auch Angst davor. Das, was ich lese, erweitert mein Bewusstsein, richtet mich neu aus und stellt mich auf den Kopf. Die Arbeit mit und an Sprache ist unmittelbar und greift in das Leben ein, so wie eine Gärtnerin in einen Garten – nur eben mit Worten. Diese Arbeit ist für mich eine innige Form des Denkens. Nirgendwo sonst treffen sich für mich Gefühl und Verstand, Aussen und Innen in einer solchen Schärfe. Obwohl, ich könnte auch sagen: in einer solchen Unschärfe. Denn je genauer ich hinschaue, desto schwieriger wird es, überhaupt etwas zu fassen zu kriegen und zu beschreiben.
Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
In erster Linie über Lyrik, die für mich die dichteste Form von Literatur ist. Ausserdem haben wir zuhause viel gesungen, oft waren das Taizélieder. Die Lyrik ist davon nicht weit entfernt. Ich erinnere mich, dass ich schon als Kind Gedichte gelesen habe und davon überrascht war, dass das für mich schon fast etwas Materielles war. Ich hatte das Gefühl, ein Gedicht einfach aufsaugen, trinken zu können. Später habe ich selbst angefangen, Gedichte zu schreiben, und mich auch in meiner Maturaarbeit damit beschäftigt. Ich wollte Schriftstellerin werden, dachte aber immer, dass das nicht geht – das kann man nicht werden.
Warum nicht?
Ich wollte einfach realistisch sein und dachte, gut, dann werde ich halt Blindenhundeführerin.
Stimmt, das ist sehr viel naheliegender. Sehr bodenständig. Und dennoch sind Sie jetzt Schriftstellerin.
Oder werde es – man muss ja nicht aufhören zu werden. Sonst ist man irgendwann etwas und weiss dann nicht mehr weiterzuwachsen.