Alles ist vorbereitet, als Noah Berge versucht, sein Leben zu beenden. Es ist der 5. Februar 2022, ein Samstagvormittag in Leipzig, draussen scheint die Sonne. In der kleinen Wohnung des jungen Mannes sind fünf Menschen zusammengekommen, um ihn in den Tod zu begleiten. Da ist seine Mutter Claudia, da sind zwei Tanten, Christin und Cathleen, und seine Assistentin Jule; ausserdem ist da eine Sterbehelferin, die er selbst engagiert hat. In ihrem Rucksack hat sie ein tödliches Medikament mitgebracht.
Noah Berge hat dem Verein Sterbehilfe Geld überwiesen, hat Formulare unterschrieben, eine Patientenverfügung, Vollmachten. Er hat Gutachtern des Vereins erklärt, dass er kaum noch Lebensfreude empfinde, seit er vor mehr als drei Jahren von einer Strassenbahn erfasst wurde. Noah ist vom Hals abwärts gelähmt; er spürt seinen Körper nicht, kann nicht allein essen oder auf die Toilette gehen, er muss Tag und Nacht betreut werden. Er hat lange gekämpft und versucht, sich mit der Situation abzufinden. Doch dann hat er sich entschieden, dass er so nicht leben möchte. Noah ist 23 Jahre alt.
Überforderte Behörden
In den Wochen zuvor hat er sich von seinen Freunden verabschiedet, hat gemeinsam mit seiner Familie seine eigene Beerdigung und auch die Trauerfeier organisiert. In Absprache mit dem Verein ist der Ablauf seiner letzten Stunden genau geplant. Die Sterbehelferin wird ihm erst ein Mittel zur Beruhigung des Magens geben, dann ein Medikament, das bewirkt, dass Noah langsam einschlafen und nicht mehr erwachen wird. Seine Familie hat die Ärztin eines Hospizes informiert, sie soll später den Totenschein ausfüllen. Das war ein Fehler.
Um kurz vor elf klingelt es an der Wohnungstür, und davor stehen zwei Polizisten in Uniform und zwei in Zivil. Man müsse prüfen, ob hier ein Suizid zu verhindern sei.
Polizist, einige Monate später: Wir mussten im Rahmen der Gefahrenabwehr handeln. Auch wenn es mir ziemlich unangenehm war. Uns war klar, dass wir in eine intime Situation eindringen.
Sterbehelferin Gabriele A.: Noahs Familie hätte nicht so viel über den Suizid sprechen dürfen. Der Verein hat klare Richtlinien: Je weniger Menschen davon wissen, desto besser.
Tante Cathleen: Die Sterbehelferin trug eine Stonewashed-Jeans mit glitzernden Blitzen und Herzen drauf. Das fand ich total unpassend.
Noah (in einem Ende Januar 2022 aufgenommenen Video): Das Einzige ist, dass ich gern Vater geworden wäre und einfach gern gefühlt hätte, mein eigenes Kind in meinen Armen zu halten.
Mutter Claudia Berge: Manchmal hilft es, zu spüren, dass andere die Trauer auch nicht einfach abschütteln können.
Vater Khamis Said: Ich bin gläubiger Muslim und finde Suizid eigentlich nicht in Ordnung.
Ex-Freundin Cassandra: Für eine Tochter hätten wir schon einen Namen gehabt.
Am 26. Februar 2020 urteilte das Deutsche Bundesverfassungsgericht, Paragraf 217 des Strafgesetzbuches verstosse gegen das Grundgesetz. Der Paragraf war 2015 vom Parlament eingeführt worden, um die «geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung», also die Beihilfe zum Suizid durch Menschen, die nicht zu den Angehörigen des Betroffenen zählen, zu verbieten. Er sollte verhindern, dass alte, kranke und behinderte Menschen zum Suizid gedrängt werden könnten.
Bis vor dem Urteil durften nur Angehörige das tödliche Mittel besorgen, was aber nicht einfach ist. Ärzte oder Sterbehelfer gingen ein Risiko ein, wenn sie Schwerkranken ein solches Mittel gaben. Deswegen reisten bis dahin viele Sterbewillige in die Schweiz, wo die Gesetze weniger strikt waren. (Lesen Sie dazu das Interview mit Ethiker Michael Coors unten)
Seit dem Urteil ist die Rechtslage in Deutschland sogar noch etwas liberaler als in der Schweiz: Das Recht zu sterben besteht «in jeder Phase menschlicher Existenz», auch ohne schwere oder unheilbare Krankheiten. Die Freiheit, sich selbst zu töten, ist also verfassungsrechtlich geschützt, solange man selbstbestimmt entscheidet und handelt. Derzeit arbeitet das Parlament an einer gesetzlichen Neuregelung des assistierten Suizids.
2021 halfen die drei deutschen Sterbehilfeorganisationen – die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, Dignitas Deutschland und der Verein Sterbehilfe – insgesamt 346 Menschen in Deutschland, ihr Leben zu beenden. Der Verein Sterbehilfe gibt einen Altersdurchschnitt von 75 Jahren an.
Die meisten Hilfesuchenden litten an Krebs oder einer anderen unheilbaren Krankheit. So jung mit fremder Hilfe aus dem Leben scheiden zu wollen wie Noah ist selten. Sein Fall ist besonders, zeigt aber, wie schwierig es wohl in jedem Fall für Familien und Freunde ist, mit einem solchen Wunsch zu leben. Und wie überfordert viele der Beteiligten sind – auch die Behörden.
Diese Rekonstruktion des Falls Noah Berge stützt sich auf Videos, die seine Familie aufgenommen hat, auf nachträgliche ausführliche Gespräche mit den Beteiligten und auf Auskünfte von Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Zitate von Noah stammen aus einem Video-Interview, das eine Verwandte zwei Wochen vor seinem Tod mit ihm führte, aufgenommen als Erinnerung für die Familie.
Ein Kampf gegen die Verzweiflung
Der Abend des 4. Oktober 2018 verändert Noahs Leben für immer. Er ist in Leipzig geboren und aufgewachsen, in Chemnitz hat er Abitur gemacht. Gerade ist er nach Jena gezogen, um dort Sport und Sozialkunde auf Lehramt zu studieren. Auf einer Erstsemester-Party hat er einiges getrunken und macht sich auf den Weg nach Hause. Warum er an der Stadtrodaer Strasse auf den Gleisen geht, an einer Stelle, an der die Strassenbahn mit voller Geschwindigkeit fährt, kann hinterher nicht geklärt werden; er selbst erinnert sich nicht.
Um 21. 56 Uhr erfasst ihn die Linie 1 von hinten und schleudert ihn auf den Hang rechts neben den Gleisen. Ein Krankenwagen bringt ihn in die Uni-Klinik, die Notoperation dauert mehrere Stunden. Sein Rückgrat ist gebrochen, am vierten und fünften Halswirbel. Noah ist von nun an querschnittgelähmt.
Noah ist leidenschaftlicher Basketballer, ein Jahr lang hat er für die Dresden Titans in der zweiten Bundesliga gespielt, trotz seiner Grösse von nur 1,78 Metern. Seine Freunde beschreiben ihn als Mann mit Humor und witzigen Sprüchen; er rappt auch, unter anderem über seine Familie und seine Freunde. Alle kennen ihn als selbstbewussten, umgänglichen jungen Mann. Als er im Krankenbett aufwacht, steckt in seiner Kehle ein Schlauch. Seine Mutter und seine Tante sind in diesem Moment bei ihm, sie bemerken, dass er zu schreien versucht, es geht nicht.
Zwei Wochen später wird er nach Halle verlegt, dort erklärt ihm ein Oberarzt, er werde wohl nie wieder selbständig atmen und sprechen können. Noah macht nun regelmässig Reha-Übungen, kämpft um jeden Rest Eigenständigkeit. Bei Querschnittlähmungen, sagen die Ärzte, gilt das Jahr nach dem Unfall als entscheidend: In dieser Zeit könne man noch auf deutliche Verbesserungen hoffen.

Claudia Berge, Noahs Mutter, auf einem Basketballplatz, auf dem ihr Sohn früher oft spielte.
Claudia Berge, Noahs Mutter, lebt in Leipzig, sie arbeitet als Sozialbetreuerin. Sie hat noch einen zweiten Sohn, den elfjährigen Janne, und ist alleinerziehend. Noahs Vater, Khamis Said, hat sie im Urlaub auf der tansanischen Insel Sansibar kennengelernt. Said ging mit ihr nach Deutschland, sieben Jahre lang waren sie zusammen. Seit 2004 lebt Said wieder in Tansania, er führt dort ein Gästehaus. Aus Tansania bringt Said seinem verunglückten Sohn nun Papierstücke mit heiligen Schriftzeichen mit; die Tinte löst er in Wasser auf, das er ihm als Heilmittel zu trinken gibt.
Noahs Freundin Cassandra, die ebenfalls auf Lehramt studiert, verbringt in diesen Wochen viel Zeit im Krankenhaus, an Noahs Bett, manchmal bestellen sie Sushi. Die beiden haben sich ein Jahr zuvor in Dresden kennengelernt und sind gerade in Jena zusammengezogen.
Nach sechs Monaten wird Noah ins Hamburger Querschnittgelähmten-Zentrum verlegt. Dort schafft er es, vom Beatmungsgerät loszukommen. Er kann nun wieder normal atmen, sprechen, mal im Rollstuhl an die frische Luft. Doch er spürt nicht, wenn Cassandra ihm die Hand streichelt. Seine Beine und Arme gehorchen ihm nicht; manchmal hat er Hitzewallungen und Muskelzuckungen. Er muss gefüttert und gewaschen werden. Seine Familie hofft, dass er damit zurechtkommt, dass er nicht verzweifelt.
«Ich will dieses Leben nicht, wäre ich doch besser gestorben!» Noah Berge
Ein knappes Jahr nach dem Unfall sind die Ärzte überzeugt, dass kaum mehr Verbesserung zu erwarten ist; Noah gilt als austherapiert. Als er kurz vor seiner Entlassung mit seiner Mutter im Rollstuhl eine Runde durchs Klinikgebäude dreht, will er in den «Raum der Stille». Vor einer Holzwand steht ein Tisch, darauf ein Kreuz. Sie sind allein, und Noah beginnt zu weinen. Er sagt sinngemäss: Ich will dieses Leben nicht, wäre ich doch besser gestorben! Seine Mutter sagt: «Aber du hast es ja noch gar nicht probiert!»
Noah probiert es. Er hat viel Unterstützung. Eine Bekannte hat auf der Website Go-Fund-Me eine Spendenaktion gestartet, die über 100 000 Euro einbrachte, nachdem Medien über sein Schicksal berichtet hatten. Das hilft, um Kosten zu decken, die die Krankenkasse nicht übernimmt – etwa für ein Mundstück, mit dem Noah Geräte wie seine Playstation durch Pusten oder Ansaugen bedienen kann. Noah zieht mit seiner Freundin nach Leipzig, in die Nähe seiner Familie; er bekommt einen modernen E-Rollstuhl, den er mit dem Kinn bedient. Er stellt mehrere Assistenten ein, die ihn abwechselnd rund um die Uhr betreuen. Sie geben ihm zu trinken, begleiten ihn überallhin und helfen ihm mit einem Katheter beim Wasserlassen.
Um sich abzulenken, hört Noah Musik per Sprachsteuerung. In seinem Lieblingsspiel auf der Playstation schiesst er Zombies ab. Seine Freundin Cassandra sagt, die Situation habe sie beide zunehmend überfordert. Sie hätten dann gemeinsam entschieden, sich zu trennen; Cassandra zieht aus. Sie hätten sich aber immer noch häufig gesehen, auf den Mund geküsst, «Ich liebe dich» gesagt.

«Das kannst du nicht machen»: Cassandra Klinner, Noah Berges frühere Partnerin.
Nach aussen ist Noah weiter Optimist. Sein Humor ist derb, er macht Witze über Behinderte und Schwarze, also vor allem über sich selbst. Ab Herbst 2020 studiert er online Psychologie und arbeitet bei seinem früheren Basketballverein USC Leipzig als Co-Trainer. Im Rollstuhl beobachtet er vom Spielfeldrand aus das Geschehen und gibt in den Pausen taktische Tips. Zuhause bekommt er viel Besuch von Freunden und seinen Basketball-Kollegen. Nur die engsten Angehörigen bemerken, dass es ihn oft innerlich zerreisst. Auf seine Tante Cathleen wirkt Noah anders als früher: abwesend, uninteressiert, müde. Im Video erklärt er, dass er sich zu dieser Zeit mit Sterbehilfe beschäftigt hat.
Noah: Ich wusste, dass es in der Schweiz halt erlaubt ist, und hab’ dann recherchiert und festgestellt, dass es seit Februar 2020 auch in Deutschland erlaubt ist, und hab’ das auch so ’n bisschen als Zeichen gesehen.
Die Mutter: Einmal habe ich ihn als Trainer erlebt, da liefen mir die Tränen: Der sass da und konnte nicht mal seine Leute abklatschen.
Der 10. Juli 2021, die Mutter ist bei ihrem Sohn zu Besuch, sie wollen Pizza bestellen. Da spürt sie, dass irgendwas ist. Erst mal essen, sagt er, sie füttert ihn. Sie ist die erste, der Noah es erzählt: Er werde sich beim Verein Sterbehilfe anmelden. Ihr sei kotzübel geworden, sagt sie.
Erst habe sie ihrem Sohn Egoismus vorgeworfen. Sie lässt ihn mehrfach versprechen, dass es ihm nur um eine Möglichkeit gehe, für alle Fälle. Daran klammert sie sich. Der Sterbehilfeverein werde es Noah nicht leicht machen, weil er so jung ist, denkt sie. Schweren Herzens verspricht sie, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen.
Und dann plötzlich Leichtigkeit
Noah regelt das meiste selbst. Er nimmt Kontakt zu dem Verein auf und überweist 500 Euro Mitgliedsbeitrag und später noch einmal 7000 Euro für den Antrag auf Suizidassistenz. Der Verein, gegründet von dem ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch, hat seinen Hauptsitz in Zürich und in Hamburg seine Deutschland-Zentrale. Die Sterbehelfer sind in der Regel freiberufliche Honorarkräfte. Leipzig liegt im Zuständigkeitsbereich von Gabriele A. Früher war A. Krankenschwester und ist jetzt im alternativmedizinischen Bereich tätig. Sie hat noch nicht allzu viel Erfahrung als Sterbehelferin. Das sei eine Nebentätigkeit, sagt sie, die ihr aber sehr am Herzen liege.
Bei ihrem Gespräch mit Noah am 2. Oktober 2021 hat sie einen Fragebogen und eine Kamera dabei. Das Gespräch wird auf Video aufgezeichnet, um die sogenannte Freiverantwortlichkeit nachweisen zu können. Die Entscheidung darf nicht auf einer temporären Krise beruhen oder durch Druck von aussen beeinflusst sein. Der deutsche Staat gibt den Sterbehilfevereinen keine konkreten Kriterien zur Prüfung des freien Willens vor, deswegen haben diese sich in Absprache mit ihren Anwälten eigene Regeln gesetzt. Daher die Fragebögen, Videos, Gutachten.
Die Sterbehelferin: Das Gespräch mit Noah war ganz normal und unspektakulär. Er war ruhig und klar und entschlossen.
Gabriele A. orientiert sich an den Fragen, die ihr vom Verein vorgegeben sind – nach Erkrankungen, Medikamenteneinnahme, den in den Sterbewunsch Eingeweihten –, und lässt Noah erzählen. Nach weniger als einer Stunde verabschiedet sie sich und fertigt ihren Bericht an; es folgt der Besuch eines Neurologen und einer Psychiaterin bei Noah, die sicherstellen sollen, dass er selbstbestimmt entscheidet. Noch im Oktober bekommt Noah das «grüne Licht», so nennen sie das beim Verein. Noah Berge hat seine Entscheidung getroffen.
Noah, im Video: Ich habe nicht den Glauben und die Hoffnung in Medizin und Technik, dass es was ändern würde, zumindest nicht in dem Zeitraum, zu dem ich sage: Okay, das halte ich noch aus.
Die Mutter: Er wollte es uns schonend beibringen. Als er mir seine endgültige Entscheidung mitteilte, war seine Psychologin dabei. Ich habe geheult, war so wütend auf sie. Die Psychologin sagte: Er hat keine Depression; er weiss einfach, was er will.
Die Ex-Freundin: Das kannst du nicht machen, habe ich zu ihm gesagt, wir hatten so viele schöne Momente. Aber er antwortete: Du weisst nicht, wie es sich anfühlt, wenn ich kleckere und jemanden bitten muss, mir Essensreste aus dem Bart zu wischen.
Die Tante: Ich fand das erst blöd und feige, Noah hatte doch nie aufgegeben. Ich brauchte Zeit, versprach aber, dass auch ich ihn begleite.
Der Vater: Ich kenne einen guten Medizinmann, der ihm vielleicht hätte helfen können. Ich wollte Noah umstimmen.
Es sind schwere Gespräche zwischen Noah und seinen Angehörigen in diesen Tagen im Oktober, November und Dezember 2021, mit vielen Tränen. Als einen der letzten weiht er seinen kleinen Bruder Janne ein. Der rastet aus. Er wirft sich auf den Boden, brüllt, rennt raus, donnert seinen Kopf gegen einen Laternenmast. Als alle Bescheid wissen, kommt plötzlich Noahs alte Leichtigkeit zurück.
Die Mutter: Er war wie ausgewechselt, hat den Moment genossen. Wir hatten seit langem wieder ein richtig schönes Weihnachtsfest.
Die Tante: Wenn du doch irgendwelche Zweifel hast, sagte ich zu Noah, sei bitte nicht zu stolz.
Einmal, erzählt Noah im Video, habe er einen Traum gehabt: Er habe gegrübelt, warum er sterben will. Er habe sich dabei am Kopf gekratzt, und sein Arm sei erschlafft. Da habe er es wieder gewusst.
Alles ist vorbereitet
Am 5. Februar 2022 soll es so weit sein, hat er entschieden. Er hat den Termin zweimal verschoben, unter anderem wegen der Sportschul-Aufnahmeprüfung seines Bruders, die will er ihm nicht ruinieren. In den letzten Wochen platzt Noahs Terminkalender fast, von allen will er sich verabschieden. Sein Vater kommt nach Deutschland. Khamis Said redet auf seinen Sohn ein: Tu es bitte nicht! Vergeblich. Said hat den Eindruck, Noah sei in seinem Innersten sehr traurig. Er sagt, er habe begonnen, seinen Sohn zu verstehen. Dabei sein will er allerdings nicht, wenn Noah stirbt, er würde es nicht ertragen. In dem vor seinem Tod aufgenommenen Video wirkt Noah entschieden. Er spricht klar und überlegt und scheint nicht bedrückt.
Am letzten Abend feiert Noah mit seinen besten Freunden vom Basketball. Ein letztes Mal zum Training, eine letzte Runde übers Spielfeld, dann Party mit einem Dutzend Leuten in Noahs Wohnung. Bis tief in die Nacht sitzen sie im Kreis, seine Freunde trinken Whisky, und alle erzählen Geschichten. Noah kommen vor Lachen die Tränen. Irgendwann gehen die Freunde, verabschieden sich wie immer mit einem Kuss auf die Stirn: Hab’ dich lieb.
Die Tante will die Tür zuschlagen, doch einer der Polizisten hat schon einen Fuss in der Tür.
Um elf Uhr soll am nächsten Morgen die Sterbehelferin kommen, Noah stellt den Wecker auf zehn Uhr. Morgens meldet er noch den Internetanschluss ab. Dann kommen seine Mutter und seine beiden Tanten. Die Assistentin Jule, die Noah seit zwei Jahren betreut, war schon die Nacht über da. Schaut, die Sonne scheint, und der Himmel ist stahlblau, sagt Noah. Er liegt in seinem Bett und strahlt.
Dann trifft die Sterbehelferin Gabriele A. ein. Kurz darauf klingelt die Polizei. Cathleen, die Tante, will die Tür zuschlagen, doch einer der Polizisten hat schon einen Fuss in der Tür. Noah ruft aus dem Nebenraum: Egal, Cathleen, lass. Alle müssen ihre Personalien angeben. Gabriele A. wird angewiesen, ihren Rucksack zu leeren, das Medikament ist in einem Päckchen aus braunem Karton.
Die Assistentin: Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich die Tür öffnete. Die Polizisten sagten, sie hätten sie sonst aufgebrochen.
Die Mutter: Noah hörte nicht auf zu grinsen und vertraute darauf, dass es schon wird.
Die Sterbehelferin: In der Einarbeitung war ich darauf hingewiesen worden, dass die Polizei kommen kann. Was dann passiert, ist nicht vorhersehbar. Ich rief Frau Hoffmanns an, die Leiterin Sterbebegleitung im Verein. Die hat mich beruhigt und gesagt: Alles gut, du kannst jetzt eh nichts machen; guck einfach, was die Polizei sagt.
Die Mutter: Der andere Kripo-Beamte sagte mir, es sei ihnen sehr unangenehm, privat könnten sie Noahs Sterbewunsch gut verstehen. Dem Hinweis der Hospizärztin aber müssten sie nachgehen.
Die Ärztin sollte die Leichenschau und das Ausstellen des Totenscheins übernehmen, damit der Suizid ruhig und nach Plan ablaufen kann und danach keine Obduktion nötig ist. Bei einem «nicht natürlichen Tod» muss die Polizei kommen, um etwa Mord auszuschliessen. Später wird die Ärztin sagen, sie habe den Tod gar nicht verhindern wollen. Eine Kollegin habe ihr geraten, die Polizei zu rufen.
Würde jemand Noah töten, wäre das strafbar – auch wenn er darum bittet. Die Polizisten stellen fest, dass Noah das Medikament mit einem Strohhalm trinken, den letzten Schritt also selber gehen will. Aber: Handelt er freiverantwortlich? Das können die Beamten nicht einschätzen.

Julia «Jule» Hiemann hat Noah Berge zwei Jahre lang als Krankenpflegerin betreut.
Ein von der Einsatzzentrale gerufener Notarzt kommt. Noah erklärt ihm, dass er sich seine Entscheidung gut überlegt habe. Der Notarzt tut sich mit Noahs Entscheidung zunächst schwer. Er erzählt, sein Sohn habe sich mit 23 das Leben genommen. Er bespricht sich mit den Polizisten, bittet Noahs Psychologin zu kommen, die bald daraufhin eintrifft, bespricht sich auch mit ihr.
«Es gibt m. E. keine medizinische Indikation, keine notärztliche Indikation, den psychisch gesunden Noah Berge in eine psychiatrische Klinik einzuweisen», schreibt der Notarzt ins Protokoll seines Einsatzes und verabschiedet sich. Noah hat ihn noch zu seiner Trauerfeier eingeladen. Auch die Psychologin geht wieder, nachdem sie versichert hat, dass Noah seinen Tod schon lange plant. Nun hängt alles von den Polizeibeamten ab.
Staatsanwaltschaft Leipzig: Der Richter hat mangels Straftatverdacht seine Zuständigkeit verneint. Die Polizei musste selbst entscheiden.
Bei der Kripo Leipzig heisst es zuerst, der telefonisch angefragte Bereitschaftsrichter habe die Beschlagnahme angeordnet, später korrigiert sie die Aussage. Offenbar haben die Polizisten eigenmächtig entschieden. Sie lassen die Sterbehelferin ein Formular zur freiwilligen Herausgabe unterschreiben und nehmen das Päckchen mit.
Die Mutter: Niemals hätten wir so etwas unterschrieben.
Der Polizist: Das war das mildeste Mittel, unserer Aufgabe gerecht zu werden. Wir sind mit einem guten Gefühl aus dem Einsatz gegangen.
Es ist kurz vor 13 Uhr. Noah ist immer stiller geworden. Gabriele A. schlägt einen Termin in sechs Tagen vor. Noah fleht sie an, noch einen Versuch zu starten, also eine weitere Packung des Medikaments zu besorgen. Auch die Familie redet auf Gabriele A. ein. Diese hat offenbar das Medikament zuhause, aber sie wohnt zweieinhalb Stunden entfernt, und die lange Fahrt zurück und wieder hierher ist ihr jetzt zu viel.
Die Sterbehelferin: Einerseits konnte ich die Familie verstehen. Aber ich fühlte mich unter Druck gesetzt von den vielen Nachfragen, warum ich jetzt nichts mehr tun könne.
Die Mutter: Wir boten an, sie zu fahren. A. wirkte vollkommen hilflos. Ich fand es zutiefst unmenschlich, Noah so zappeln zu lassen. Der wollte dann noch einen letzten Versuch starten, A. umzustimmen, und sprach allein mit ihr.
Die Sterbehelferin: Noah war der Fels in der Brandung innerhalb der ganzen Aufregung. Wir haben uns zum Abschied gedrückt, wir haben geweint, und ich habe ihm alles Liebe gewünscht für seinen weiteren Weg.
Die Mutter: Ich bin danach in Noahs Zimmer gegangen und habe ihn gefragt, was jetzt war. Er hat einfach nur die Augen verdreht.
Ein Ende mit Rap und Dancehall
Als Gabriele A. weg ist, will Noah allein sein. Er starrt stumm an die Decke, seine Miene ist versteinert; mittlerweile ist es etwa 15 Uhr. Dann bittet Noah seine Mutter zu sich und sagt, er wolle, dass das heute noch etwas wird. Er möchte vom Bett in den Rollstuhl gesetzt werden. Seine Mutter antwortet, er solle keinen Mist machen. Sie hat Angst, er wolle sich auf andere Weise etwas antun, und ruft den Geschäftsführer des Vereins Sterbehilfe an. Er habe schon von dem Fall gehört, sagt dieser, er wolle sich kümmern.
Keine zehn Minuten später klingelt das Handy. Es ist Meike Hoffmanns, die Leiterin Sterbebegleitung beim Verein, Gabriele A.s Vorgesetzte. Sowohl der Geschäftsführer als auch Hoffmanns halten der Familie vor, sie hätte zu viel über Noahs Plan gesprochen.
Claudia Berge erklärt Meike Hoffmanns, wie wichtig es ihrem Sohn ist, noch an diesem Tag zu sterben. Alles ist sorgfältig geplant. Sogar, dass in sein Grab keine Blumen kommen, hat er entschieden, sondern kleine Basketbälle. Beerdigt werden will er in seinen bordeauxroten Air-Jordan-12-Basketballschuhen und im Trikot mit der Nummer Fünf seines früheren Chemnitzer Basketballvereins. Der 5. Februar ist kein zufälliges Datum. Meike Hoffmanns verspricht, gegen 21 Uhr da zu sein.
Noah startet das Lied «Superheld» von Samy Deluxe und öffnet mit dem Kinn das Ventil.
Noah schickt alle nach Hause, sie sollen später wiederkommen. Nur die Assistentin Jule bleibt. Ihr vertraut er an, er habe sich in den letzten Stunden schrecklich gefühlt, er hätte heulen und schreien können. Nun will er zur Ablenkung einen Horrorfilm schauen, aber er merkt, das passt nicht, er probiert es mit einer Liebeskomödie.
Kurz vor 21 Uhr kommen Claudia Berge, ihre beiden Schwestern und Meike Hoffmanns. Hoffmanns hat einen Arzt mitgebracht. Er soll eine Infusion legen, das ist schneller und sicherer, als ein Mittel zu schlucken. Noah in seinem Bett wirkt gelöst. Der Arzt bereitet die Infusion vor, sucht eine Vene in Noahs Arm und legt einen Zugang. Mittlerweile sind weitere Besucher gekommen, die Ex-Freundin Cassandra, ein enger Basketball-Freund, die Grosseltern, der kleine Bruder. Es sollten nicht zu viele Leute im Raum sein, wenn Noah stirbt, sagt Meike Hoffmanns. Noah entscheidet sich für seine Mutter und die zwei Tanten. Die anderen verabschieden sich einzeln.
Die Assistentin: Beim Abschied hat mich Noah mit seinem durchdringenden Lächeln total angesteckt.
Hoffmanns installiert eine Kamera, um das Geschehen zu dokumentieren. Der Arzt bringt den Schlauch mit der Infusion und einem speziellen Ventil an. In der Infusion ist ein Narkosemittel, das in hoher Dosierung zum Tod führt. Noah unterschreibt ein Formular mit Hilfe eines Unterschriftenstempels, den jemand für ihn aufs Papier drückt: «Ich weiss, dass ich nach dem Öffnen des Ventils nicht mehr in der Lage sein werde, das Ventil wieder zu schliessen.» Noah sagt, er sei allen im Raum sehr dankbar, dass sie es an diesem Tag doch noch möglich gemacht haben. Es ist gegen Viertel nach elf. Er startet per Sprachsteuerung das Lied «Superheld» von Samy Deluxe und öffnet mit dem Kinn das Ventil.
Die Mutter und ihre beiden Schwestern sitzen neben Noahs Bett, als die Flüssigkeit in den Schlauch zu tropfen beginnt. Sie halten sich an den Händen, weinen und schauen Noah an. Der sieht friedlich aus, hat die Augen geschlossen und bewegt beinahe lautlos die Lippen zur Musik. Das Lied geht zu Ende, und Noah wählt «Mal es in die Wolken» von Genetikk. Als er danach «Dancehall Caballeros» von Seeed hören will, lallt er schon etwas.
Seine Mutter steht von der Bank auf, kniet sich neben ihn und streichelt seinen Kopf, seine Arme und seine Brust. Er beginnt zu schnarchen, dann zeigt sich zuerst auf seinen Fingern ein gelblicher Schimmer. Irgendwann, wohl kurz vor Mitternacht, ruft die Mutter: Jetzt ist es vorbei! Seine Ex-Freundin Cassandra legt sich zu ihm ins Bett und bleibt bei ihm bis spät in die Nacht, als ein Bestattungsunternehmen den Leichnam abholt.
Irgendwann geht Claudia Berge zum Rauchen nach unten. Da stehen plötzlich die Kripo-Beamten vom Vormittag. Der Fall habe sie beschäftigt, sagen sie, und sie wollten ihr Beileid aussprechen.

«Innerlich sind wir sehr gleich»: Janne Veil über seinen Bruder Noah Berge.
Anfang August 2022 schickt Claudia Berge einen Brief an den Verein Sterbehilfe, den sie mit Noahs Tanten verfasst hat. Einerseits dankt sie Meike Hoffmanns und dem Geschäftsführer, sie schreibt: «Schlussendlich hat dieser völlig entgleiste Tag noch das ersehnte Ende gefunden.» Jedoch sei ihnen und Noah zu Unrecht die Schuld für den Verlauf zugeschoben worden. Sie seien völlig ahnungslos gewesen, wie fragil das Ganze war und wie entscheidend es offenbar sei, die Polizei herauszuhalten.
«Ich möchte», schreibt Noahs Mutter, «damit kein weiterer Klient solch eine Tortur durchmachen muss, wie wir sie erlebten, noch ein paar Denkanstösse an Sie und Ihren Verein loswerden.» Noah selbst habe die Risiken nicht ausreichend gekannt. Es werde nicht klar kommuniziert, dass Ärzte oder Polizei unter Umständen einen assistierten Suizid verhindern. Der Verein müsse erklären, wie man sich gegenüber Behörden verhält. Die Sterbebegleiter müssten einen Plan B haben.
Der Geschäftsführer des Vereins Sterbehilfe antwortet Claudia Berge, man werde sich die Ratschläge zu Herzen nehmen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat noch nicht für alle Beteiligten Klarheit geschaffen. Klare rechtliche Rahmenbedingungen für Sterbehilfevereine, staatliche Stellen und Ärzte könnten eine Situation wie bei Noah verhindern. Eine staatliche Regulierung lehnen die Vereine jedoch ab.
Wenn Noahs Bruder Janne heute auf der Playstation das Fussballspiel «Fifa» zockt, hat der Trainer dunkle Haut, schwarze Rastas und heisst Noah Berge.
Der Bruder: Wir haben eine andere Hautfarbe und lieben unterschiedliche Sportarten, aber innerlich sind wir sehr gleich.
Die Mutter: Ich spüre, dass Noah da ist.
Der Vater: Noah ist auf jeden Fall weiter bei uns.
Noah, im Video: Ich glaube nicht, dass es unbedingt einen Gott gibt, glaube aber auf jeden Fall, dass ich nicht weg sein werde. Ich werde alles miterleben, nur nicht mehr physisch anwesend sein. Ich glaube, dass ich einfach meinen Frieden gefunden haben werde.
Dieser Text erschien zuerst im «ZEIT MAGAZIN 52/2022».
Eine Einschätzung des Falles aus rechtlicher und ethischer Perspektive lesen Sie hier.