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Freitag, 09. Dezember 2016

Elazar Benyoëtz wartet in der Lounge des Zürcher «Storchen»-Hotels, ein eleganter Herr mit weissem Vollbart und Baskenmütze. Der bald Achtzigjährige wirkt mit seinen markanten Gesichtszügen beinahe streng, wäre da nicht immer wieder dieses Lachen. «Sie wissen ja: Im Interview endet das Gespräch», scherzt er, als er sich im Sessel mit Blick auf die Limmat niederlässt. Der bekannte israelische Lyriker und Aphoristiker ist auf Lesetour in der Schweiz, die ihn nach Bern, Solothurn und eben Zürich führt. Zürich? Für Benyoëtz nicht irgendeine Stadt. Wie vielleicht keine andere ist sie unauflöslich mit seiner Lebensgeschichte verknüpft. Hier begann, vor über fünfzig Jahren, eine Reise, die aus dem hebräischen Dichter einen der grossen Wortkünstler deutscher Sprache machte.

Dabei hatte Benyoëtz dem Deutschen eigentlich abgeschworen. 1937 als Paul Koppel in Wiener Neustadt geboren, musste er im Jahr des Anschlusses an Nazideutschland aus Österreich fliehen. Die Familie gelangte über das damalige Pressburg, heute Bratislava, an die Küste Palästinas. Da war er noch nicht einmal zweijährig. Die ganzen Habseligkeiten waren in drei Rucksäcken verstaut, die einzige Kostbarkeit die Leica des Vaters. Es begannen schwierige und karge Jahre für die Familie. Der Vater, ein Kaufmann und frommer Jude, sprach kein Wort Hebräisch. «Das war sehr mühsam, als Kaufmann sein Brot zu verdienen, wenn man nur Deutsch sprach.» Der Vater verlegte sich daher auf das Herstellen von Krawatten. Die Verhältnisse in der kleinen Wohnung in Tel Aviv waren beengt. «Wir hatten nur zwei Zimmer», erinnert sich Benyoëtz. «Eines davon war die Werkstatt meines Vaters, da standen die Nähmaschinen und alles war voller Fransen. Und in dem anderen Zimmer spielte sich das ganze Leben ab.»

Als Sechsjähriger holte ihn ein neues Unglück ein: der Vater starb. Viele Jahre später wird er dazu schreiben: «Mit dem Wechseln meines Vaters vom Diesseits zum Jenseits fand auch Österreich bei mir sein Ende.» Österreich, das hiess vor allem auch die deutsche Sprache. «Solange mein Vater lebte, sprachen wir zuhause Deutsch. Das war allerdings ein Magerdeutsch, richtige Unterhaltungen waren damit nicht möglich», sagt er. Die Mutter, eine überzeugte Zionistin, bestand darauf, dass der Sohn Hebräisch sprach. «Ich wollte erst nicht und weigerte mich. Aber dann, in einem Moment des Zorns, brach plötzlich das Hebräisch bei mir durch. Und nachher wollte ich von Deutsch gar nichts mehr wissen.» Auch seinen deutschen Namen legte er ab. Er nannte sich nun Ben Yoetz – Sohn des Ratgebers.

Bald stieg in dem Jungen der Wunsch auf, Dichter zu werden. Als Zwanzigjähriger, mittlerweile Soldat in der israelischen Armee, verfasste er seinen ersten hebräischen Gedichtband. Fünf weitere folgten. «Mein ganzes Leben war die hebräische Poesie», sagt er. Nichts sprach dafür, dass er zur deutschen Sprache zurückkehren würde.

Zürich, Krönleinstrasse 2

Benyoëtz hat sein Leben schon oft erzählt, in seinen Büchern, in Lesungen und Gesprächen. Wieder und wieder kreist er in seinen Werken um das Biografische. Kann man damit überhaupt je fertig werden? «Ich erzähle Ihnen diese Geschichten, wie sich eben jeder sein Leben so zurechtlegt», sagt er an diesem Morgen im Hotel Storchen. Manches davon kann er sich im Rückblick nicht mehr recht erklären. «So erging es mir oft: Irgendetwas trat in mein Leben ein, und ich spürte, das war wichtig für mich. Auch wenn ich es vielleicht gar nicht verstehen konnte.»

So ähnlich war das auch mit Margarete Susman. Benyoëtz war Anfang zwanzig und inzwischen Bibliothekar am Rabbi-Kook-Institut in Jerusalem, als ihm ein Aufsatz der deutschen Schriftstellerin in die Hände kam. Sein Deutsch reichte kaum aus, um ihn zu lesen, er entzifferte ihn Wort für Wort. «Ich merkte, dass diese Frau an etwas rührt, und es wurde mir klar, dass ich alles über sie erfahren musste.» Was genau ihn berührte, kann er heute nicht mehr sagen. Vielleicht hätte er es auch damals nicht gekonnt. «Es kam einfach eine grosse Unruhe über mich», sagt er. Als er von Freunden erfuhr, dass Susman hochbetagt in der Schweiz lebte, stand sein Entschluss fest: Er wollte, das erste Mal seit der Vertreibung, nach Europa zurück. «Ich war so glücklich, als ich erfuhr, dass sie noch lebte, und es wurde mir klar: Ich muss jetzt nach Zürich.»

1962 kam Benyoëtz in die Schweiz, im Gepäck nicht viel mehr als ein paar Gedichte. Sein erster Gang war an die Krönleinstrasse 2 in Zürich. Dort lebte Margarete Susman. Die Begegnung war prägend, Susman wurde für den jungen Israeli zur Mentorin und zugleich zum Ersatz für die im KZ ermordete Grossmutter. Mehr noch: Sie wurde für ihn zur Mittlerin der verlorenen deutschen Sprache. Durch sie sei er legitimiert worden, zurückzukehren ins deutsch-jüdische Schattenreich und sein Erbe anzutreten, schreibt Benyoëtz später. Susman und der Schweizer Essayist Max Rychner führten ihn in die literarische Szene Zürichs ein. «Wir sassen damals oft im ‹Odeon›, und die Schweizer Kollegen hatten natürlich Freude an diesem komischen jungen Mann, der da herumstotterte und sich für alles interessierte», erinnert sich Benyoëtz.

Eine folgenschwere Entscheidung

In Gesprächen mit Susman und Rychner entstand auch die Idee, der vernichteten deutsch-jüdischen Literatur ein bibliografisches Denkmal zu setzen. «Ich stand damals unter dem Schock des Holocausts, und ich überlegte mir, was ich tun könnte», sagt er. Sein Plan: Die Schriften sämtlicher deutsch-jüdischer Autoren zu sammeln und in einer Bibliographia Judaica zu würdigen. Ein wahnwitziges Vorhaben, wie sich bald heraustellte. «Mir wurde rasch einmal klar: Das mussten Tausende Texte sein», sagt er. Trotzdem begann er, Material zu sammeln und Nachlässe zu sichten, zuerst in der Schweiz, dann in Wien. «Und dann stand ich an dem entscheidenden Punkt: Ich wusste, wenn ich mein Projekt wirklich realisieren wollte, musste ich nach Deutschland. Das wird mir nicht geschenkt. Und das war wirklich die härteste Entscheidung meines Lebens. Ja, und dann setzte ich mich in den Zug von Wien nach Köln.»

«Ich wollte immer in die Welt hinausschwimmen, am Ende sass ich im Zug und hörte das entsetzliche Rollen von Wien bis Köln – Züge, deutsche Atemzüge»

Es fällt Benyoëtz schwer, über diese Zeit zu sprechen. «Sehen Sie, was ich Ihnen heute erzähle, kommt mir selbst seltsam vor», sagt er. «Ich weiss gar nicht, wie ich Ihnen diese Geschichte plausibel machen kann. Die Leute fragen sich doch: Was macht sich’s der so schwer mit dieser Sache?»

Tatsache ist: Als Benyoëtz 1964 deutschen Boden betritt, gleicht das einem Tabubruch. Noch bestehen zwischen Israel und Deutschland keine diplomatischen Beziehungen. Ein Jude, der in das Land der Mörder zurückkehrt, gilt als Verräter. «Fast jeder meiner Generation, erst recht der älteren, hatte sich geschworen, deutschen Boden niemals zu betreten», schreibt Benyoëtz später in seinem Erinnerungsbuch Allerwegsdahin. Er tut es dennoch, aber der Preis dafür ist hoch.

Vier Jahre lang reist Benyoëtz durch Deutschland, wirbt für sein Projekt einer Bibliographia Judaica, knüpft Kontakte, sucht Zeitungsredaktionen auf. Ein Stipendium der Ford Foundation ermöglicht es ihm, die Zeit finanziell zu überbrücken. Auch kann er prominente Förderer für seine Idee gewinnen. Schliesslich bewilligt die Deutsche Forschungsgemeinschaft die nötigen Gelder. Ein Erfolg, könnte man meinen. Doch in Israel ist die Empörung gross. Dass sich ein Jude nach Deutschland wagt und obendrein für die dortige Sprache wirbt, wirbelt in der israelischen Presse Staub auf. Als Benyoëtz gleich darauf einen weiteren Gedichtband auf Hebräisch veröffentlicht, begegnet ihm in Israel nur noch eisiges Schweigen.

«Ja, und diese Geschichte war mein Ende – mein Ende als hebräischer Dichter», sagt Benyoëtz im Gespräch im «Storchen». Auf die Frage, ob er sich damals bewusst für die deutsche Sprache entschieden habe, winkt er ab. «Ich hatte auch damals nicht vor, Deutsch zu schreiben. Aber durch meine Arbeit an der Bibliographia kam ich nach und nach in die deutsche Sprache hinein.»

Ein Aphoristiker deutscher Sprache

Nach vier Jahren in Deutschland ging Benyoëtz 1968 zurück nach Israel. 1969 erschien sein erstes Buch auf Deutsch, etliche weitere folgten. «Als ich nach Israel zurückkehrte, reiste mir das Deutsche nach», sagt er. Seine Bücher sind Aphorismensammlungen, die immer wieder um das Thema Sprache kreisen, sie abtastend und hinterfragend. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich Benyoëtz ausgerechnet dieser sprachskeptischen literarischen Gattung zuwendet. «Der Dichter schützt den Sinn der Worte vor ihren Bedeutungen», lautet einer seiner Aphorismen fast programmatisch. Gerade weil ihm das Deutsche nicht zur Selbstverständlichkeit wurde, kann er ihm immer wieder überraschende Wendungen abgewinnen. «Das Wortspiel ist ein Auskundschafter der Sprache», heisst es einmal. Für seine Erkundungen der deutschen Sprache wurde Benyoëtz 2002 als erster Aphoristiker überhaupt mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet.

Es hat etwas seltsam Unbestimmtes, wenn Elazar Benyoëtz über all das spricht. «Die deutsche Sprache eingenommen – das Dritte Reich besiegt und überwunden» – ist das die Quintessenz seines Lebens? Ist er der Jude, der in das Land der Mörder zurückkehrte, um die deutsche Sprache wiederzugewinnen? Seine Bücher kreisen in endlosen Variationen um diese Fragen. «In keiner Literatur manifestierte sich eine so grosse Liebe zu den Deutschen wie in der jüdischen», heisst es einmal. Für Benyoëtz war es ein langer Weg, die Liebe zur deutschen Sprache zurückzugewinnen. Alles begann vor über fünfzig Jahren in der Wohnung von Margarete Susman in Zürich. Auf die Frage zum Schluss, ob er den Weg dorthin noch kenne, zögert er nicht. «Sie nehmen die Tram Nummer 6 Richtung Fluntern und steigen am Toblerplatz aus. Noch ein paar Minuten Fussmarsch und Sie kommen an die Krönleinstrasse 2.»

Sandkronen. Eine Lesung. Braumüller-Literaturverlag, Wien 2012

Vielzeitig. Briefe 1958–2007. Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum 2009

Scheinhellig. Variationen über ein verlorenes Thema. Braumüller-Literaturverlag, Wien 2009

Die Eselin Bileams und Kohelets Hund. Carl Hanser, München 2007

Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche. Arche-Verlag, Zürich/Hamburg 2001

Treffpunkt Scheideweg. Essays. Carl Hanser, München 1990