Als der ukrainische stellvertretende Militärkommandant Hennadii Hurin den Befehl seines Vorgesetzten hört, traut er seinen Ohren nicht. Er soll seine Truppe zum Yoga schicken? Hier im Frontgebiet, wo russische Raketen einschlagen, wo Mäuse nachts über die schlammbedeckten Militäruniformen huschen, wo Kameraden ihre Gliedmassen weggesprengt kriegen? Ausgerechnet hier sollen seine Soldaten in der Lotusposition sitzen und Om singen? Doch Befehl ist Befehl. Und so besucht Hennadii mit 54 Jahren zum ersten Mal in seinem Leben eine Yogaklasse. Zuvor las er, dass Yoga Leben verändern könne. Er musste lachen.
Olesia Stoianova unterrichtet seit 15 Jahren Yoga in Kiew. Üblicherweise in einem Studio, wie man es sich vorstellt: Warmes Licht, Zimmerpflanzen, Buddhastatue. Im September 2023 rollt die damals 40-Jährige ihre Matte in einem halb zerstörten Gebäude aus, 20 Kilometer von der Frontlinie im ostukrainischen Oblast Charkiw. Die kaputten Fenster sind mit Holzbrettern verschlagen, Wind zieht durch die Ritzen. Auf dem kalten Boden liegt ein alter Teppich.
Ein Dutzend Männer in Militärhosen und T-Shirts sitzen auf den Isomatten, auf denen sie sonst die wenigen Stunden Schlaf verbringen, die sie dem Krieg abringen können. In schnellen Stössen, schnaubend, atmen sie aus, ziehen dabei ihre Bauchdecke nach innen und lassen sie bei der Einatmung wieder los. Wieder und wieder, im immer gleichen Rhythmus. Die Ausatmung anheizen, die Einatmung geschehen lassen. «Kapalabhati», «Feueratem» heisst die Übung. Sie leert den Kopf und unterbricht den Fluss der Gedanken. In der Ferne sind Explosionen zu hören.
Hier, in diesem unwirtlichen Raum, haben sich Hennadii und Olesia zum ersten Mal getroffen.
Heute schnaufen sie gemeinsam im Rhythmus des Feueratems – auf einem weissen Flauschteppich in ihrem Einfamilienhaus mit Garten und Gemüsebeet, etwas ausserhalb von Kiew. Nicht nur das Yoga hat Einzug in Hennadiis Leben gefunden. Auch die Yogalehrerin. Seit zwei Jahren sind er und Olesia ein Paar, vor einem Jahr haben sie geheiratet.

Yoga hat sie zusammengebracht: Der stellvertretende Militärkommandant Hennadii Hurin und die Yogalehrerin Olesia Stoianova sind seit zwei Jahren ein Paar.
Noch immer sind sie frisch verliebt, suchen die Nähe des anderen, berühren sich. Hennadii legt seine muskulösen Arme um Olesia, sie schmiegt ihren schlanken Körper an seinen. Sie wirken wie ein Klischee: Hier der starke Soldat mit Kurzhaarfrisur, dort die Yogalehrerin mit dem langen, gewellten Haar und der sanften Stimme.
Doch wenn Hennadii vom Krieg erzählt, und vom Yoga, verändert sich in seinen Augen etwas. Auch seine Stimme klingt anders, weicher, als er mir eine Gebetskette um den Hals legt und erklärt, dass sie im Kundalini-Yoga, das er praktiziert, für Mantra-Meditationen genutzt wird.
Hinter Olesia verbirgt sich eine Stärke, die man nicht sofort sieht. Als ich sie frage, was ihr am meisten Sorgen bereitet habe, so nahe an der Front zu unterrichten, sagt sie trocken: «Nur die Mäuse.» Bei den Soldaten habe sie sich sicher gefühlt. Während sie erzählt, schaut Hennadii sie an, in seinem Blick liegt Bewunderung: «Nicht viele freiwillige zivile Helfer trauen sich zu uns an die Front», sagt er. «Die Unerschrockenheit dieser Frau hat mich überrascht.»
Plötzlich Soldaten
Hennadiis Militäreinheit ist mittlerweile gewachsen, er wurde deshalb nach Kiew zurückbeordert. Sein Kommandant braucht ihn in der Hauptstadt für logistische Aufgaben: Ausrüstung besorgen, Fahrzeuge und Treibstoff in den Osten liefern, neue Leute rekrutieren. Trotz der vielen Arbeit nimmt er sich fast jeden Morgen Zeit, im Yogaraum, den das Paar eigens dafür eingerichtet hat, zusammen mit Olesia Atem- und Mediationsübungen zu machen.
Die Yogapraxis und die Begegnung mit Olesia haben Hennadiis Leben verändert. Es ist für ihn die zweite Wende in kurzer Zeit. Die erste erlebt er, als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angreift und er eingezogen wird. «So ging es vielen», sagt Hennadii, «gestern normale Typen, heute plötzlich Soldaten.»
Er schliesst die Augen, atmet lange aus, als sei er von einer Last erlöst worden, und sagt: «Ich bin so froh, Olesia begegnet zu sein.» Während er spricht, massiert er ihren Fuss, den sie in seinen Schoss gelegt hat.
«Es gibt dieses seltsame Phänomen, dass Soldaten, die nachhause zurückgekehrt sind, wieder zurück an die Front wollen. Sie können ihr Nervensystem, das an der Front ständig in Alarmbereitschaft ist, nicht einfach wieder auf Zivilmodus umschalten. Sie haben eine Art Adrenalinsucht entwickelt. Dank Olesia und unserer Praxis hatte ich das nicht.»
Das Yoga habe ihm geholfen, sein Nervensystem schneller runterzufahren und seine emotionalen Schwankungen besser zu kontrollieren. So fand er sich im zivilen Leben schneller wieder zurecht. Auch Schlafprobleme plagen ihn seit der regulären Praxis kaum mehr. Hinzu kommt «die Kraft der Liebe», wie er es ausdrückt.
Dass Yoga an der Front unterrichtet wird, ist nicht üblich. Wie kam Hennadiis Vorgesetzter auf die Idee, seinen Kommandanten samt Truppe ins Yoga zu schicken? Hennadii beschreibt ihn als sehr fortschrittlich und offen für Ansätze, die den emotionalen Zustand seiner Soldaten verbessern können. Die treibende Kraft jedoch war die Partnerin von Hennadiis Vorgesetztem. Sie praktiziert selbst Kundalini-Yoga und weiss, wie wirksam es sein kann. Also schlug sie ihm vor, es mit seinen Soldaten auszuprobieren.
In Ländern wie Indien ist Yoga schon länger Teil der Militärausbildung. Auch in Schweden bietet der Kapitän der Marine, Militärwissenschaftler und Kundalini-Yogalehrer Michael Gustafson, Yoga als Mental-Training für Soldaten an. Er schreibt in seinem Kursbuch, körperliche Kräftigung allein reiche nicht aus, um Soldaten widerstandsfähig zu machen. Sie bräuchten auch psychologische Resilienz und mentale Stärke. Dabei könne Yoga helfen.
Zu seiner ersten Yogaklasse wird Hennadii befohlen. Zur zweiten Stunde geht er freiwillig. «Die erste Stunde hat mich beeindruckt. Ich konnte plötzlich loslassen, die Kontrolle abgeben und meine innere Spannung abbauen. Ich bin sogar eingeschlafen. Dass mir das passiert, so nahe an der Front, hätte ich nicht erwartet.» Hennadii beginnt fast jeden Tag ein paar der Übungen zu machen, die ihm Olesia gezeigt hat. Die Erinnerung an die starke Wirkung der ersten Stunde motiviert ihn, weiterzumachen.

Diesen Zettel trägt Hennadii Hurin immer bei sich. Er hat darauf die Worte eines alten Gebets notiert, sie sind sein Schutzmantra.
Besonders hat es ihm ein Schutzmantra aus dem Kundalini-Yoga angetan. Die Worte des alten Gebets auf Punjabi, gesprochen in Teilen Pakistans und Nordwestindiens, hat er auf einen kleinen Zettel geschrieben, den er immer bei sich trägt. Regelmässig spielt er das Mantra auf seinem Handy ab oder murmelt die Worte leise vor sich hin. Besonders in Situationen, in denen es brenzlig wird. «Es gab Momente an der Front, da vertraute ich diesem Mantra mehr als meiner kugelsicheren Weste.»
Zum Beispiel damals, als seine Einheit beschossen wird und sie in einen Schützengraben flüchten müssen. Die Soldaten wissen: Wird er getroffen, sind sie alle tot. Hennadii beginnt, sein Schutzgebet auf dem Handy leise abzuspielen. «Was ist das», fragen die anderen. «Ein Schutzmantra», antwortet er. «Spiel es lauter ab», bitten seine Kameraden. Sie sitzen stundenlang im Graben. Und überleben. «Alles um uns herum wurde getroffen, nur wir nicht. Bis heute sind wir überzeugt: Das Mantra hat uns beschützt.»
Yoga und Krieg – für Lehrerin Olesia sind das keine Gegensätze. Als ich sie frage, ob Töten nicht Ahimsa, dem Prinzip der Friedfertigkeit in der Yogaphilosophie, widerspreche, macht sie eine wegwischende Handbewegung, zwischen ihren Augenbrauen zeigt sich eine Falte. Das sei eine Interpretation des Westens, sagt sie, man könne das Prinzip auch anders verstehen: «Es geht darum, dass du den Frieden in dir selbst spürst. Und wenn nötig auch, während du deine Feinde tötest.»
Tatsächlich werden Yoga und seine Prinzipien je nach Denkströmung anders interpretiert. Das sagt etwa der renommierte Yoga-Historiker James Mallinson der Journalistin Julia Wadhawan in einem «Spiegel»-Interview. Darin erklärt er, Yoga werde in den meisten alten Texten als Methode gesehen, um die eigenen Ziele zu erreichen – egal, welche es seien.
Ein ähnlicher Konflikt wird auch in der Bhagavad Gita angesprochen, eine der heiligsten Schriften im Hinduismus und wichtigsten Texte des traditionellen Yogas. Darin wird die Schlacht um einen Thron beschrieben. Protagonist ist der Krieger Arjuna, der beim Anblick seiner Gegner verzweifelt, da er seine eigenen Verwandten töten soll. Er will die Waffen niederlegen. Doch sein Gefährte Krishna fordert ihn auf, seiner Pflicht nachzukommen und zu kämpfen. Im übertragenen Sinne kann man dies als inneren Kampf mit Schmerz und Leid sehen, der überwunden werden muss.
Lehrerin Olesia sieht ihren Kundalini-Yogastil vor allem als körperliche Praxis. Sie sei schon vor 500 Jahren genutzt worden, um die Sikhs, eine indische Glaubensgemeinschaft, auf den Kampf gegen ihre Unterdrücker vorzubereiten.
Die Sikhs wurden im 16. Jahrhundert aufgrund ihres Glaubens verfolgt und begannen, sich für ihre Verteidigung zu bewaffnen. Seitdem werden sie oft als «Gotteskrieger» bezeichnet. Ob das Kundalini-Yoga dabei eine Rolle spielte, ist historisch nicht belegt. Der Yoga-Forscher Mark Singleton zeichnet in seinem Buch «Yoga Body» nach, wie das moderne körperliche Yoga, das in seiner traditionellen Form eine rein meditative und geistige Praxis war, erst im 19. Jahrhundert entstand – unter anderem als indische Form von Kampftraining; es sollte die Bevölkerung befähigen, sich gegen die koloniale Unterdrückung zu wehren.
Überlebenswichtig und gefragt
Für Olesia und Hennadii ist Kundalini-Yoga eine Möglichkeit, die ukrainischen Soldaten in ihrem Kampf gegen den russischen Aggressor zu stärken. Kundalini-Yoga fördere intuitives Denken, sagt Olesia, das sei überlebenswichtig im Kampf. «Du darfst nicht lange studieren, darfst dich nicht ablenken lassen, darfst auch nicht in Panik verfallen, sondern musst in Sekundenschnelle reagieren.»
Hennadii nickt zustimmend, er sagt: «Yoga lehrt dich, all deine Energien auf die eine Aufgabe zu konzentrieren, die du in diesem Moment ausführen willst. Das gibt dir enorme Kraft und du kannst plötzlich Dinge, die du nicht für möglich gehalten hättest.» Er erzählt, wie er mit seinem Team einen Schützengraben im Serebrjansky-Wald in Luhansk bauen musste. «Die Situation war heikel: Wir mussten Bäume fällen und dabei sichergehen, dass uns keine Drohnen entdecken.» Obwohl es eine Aufgabe von drei bis vier Tagen sein sollte, sagte Hennadii zu seinem Team: «Wir gehen dahin und erledigen das in einem Tag. Niemand glaubte daran, aber wir schafften es.»
Mehrere Yoga-Lehrerinnen, mit denen ich in der Ukraine sprach, sagten mir, das Wissen um den Nutzen von Yoga verbreite sich allmählich in ukrainischen Militärkreisen. 2021 startete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ein Programm namens «Healthy Ukraine», mit dem verschiedene sportliche und mentale Praktiken gefördert wurden.
Zum Regierungsprogramm gehörte auch das Projekt «Active Parks». In öffentlichen Parkanlagen boten Yogalehrerinnen und -lehrer kostenlos Stunden an. Elena Siderska, verantwortlich für die Förderung des Projekts, sagte im Sommer 2024 gegenüber der englischsprachigen indischen Tageszeitung «Deccan Herald»: «Die Resonanz auf Yoga war überwältigend. Active Parks unterstützt nun Studios und Clubs, die sich mit Traumata, posttraumatischer Belastungsstörung und der Rehabilitation von Soldaten befassen.»
Die spirituelle Praxis des Yoga dient also nicht primär der Kriegsführung. Sondern jenen, die sich davon erholen müssen.
In einer Rehaklinik
Ich verlasse Hennadiis und Olesias Zuhause und fahre zurück zum Hotel im Zentrum von Kiew. Am nächsten Tag holt mich ein Taxifahrer ab – er wird mich zur Rehabilitationsklinik fahren, in der Olesia Yoga unterrichtet. Wir fahren an Cafés, Geschäften und Restaurants vorbei. Sie sind gut besucht. An den öV-Haltestellen warten Menschen auf Busse, auf Parkbänken küssen sich Paare. Zum Zeitpunkt meines Besuchs sehe ich weder eingestürzte Gebäude noch Schusslöcher in den Fassaden. Die Spuren des Krieges werden für mich in den Gesprächen mit den Menschen sichtbar.
Als wir den Verkehr und die hohen Häuser der Stadt hinter uns gelassen haben, biegt der Taxifahrer in eine Auffahrt ein. Wir landen auf einem Gelände mit mehreren Gebäuden. Es ist von Bäumen mit dichten, grünen Kronen umgeben und menschenleer, was dem Ort eine angenehme Ruhe verschafft. Das Licht fällt hier nicht ungefiltert auf den Asphalt, sondern zeichnet durch die belaubten Äste hindurch Schattenmuster auf den Boden.
Die Klinik befindet sich in einem Betongebäude mit kleinen Fenstern. Grelles Licht beleuchtet die langen Flure. An den Wänden hängen Flaggen und Logos von Militäreinheiten.
Grüppchen von Soldaten stehen in den Gängen zusammen. Manche tragen selbst als Patienten Camouflage. Vielen ist die Erschöpfung anzusehen, sie lassen die Schultern hängen oder haben dunkle Ringe unter den Augen. Ein Soldat sagt: «Ich gehe heute nicht zum Yoga, sondern meditiere in meinem Bett.» Er faltet dabei die Hände wie zum Gebet. Seine Kameraden lachen. Dann machen sie sich auf zum Erdgeschoss, wo gleich der Yogakurs beginnt, sie wollen den Unterricht nicht verpassen.
In der Ukraine gibt es spezielle Rehabilitationszentren für Soldaten und Veteranen. Manche sind auf die Behandlung von physischen Verletzungen spezialisiert, andere auf mentale Gesundheit. Eine dieser Militärkliniken, in denen psychische Traumata behandelt werden, befindet sich im Grossraum Kiew. Aus Sicherheitsgründen dürfen weder der Name noch der genaue Ort genannt werden.
Hier unterrichtet Olesia zweimal pro Woche ehrenamtlich Kundalini-Yoga. Es soll den Soldaten helfen, sich von den traumatischen Erfahrungen des Krieges zu erholen. Dafür setzt Olesia auf eine spezielle Technik: traumasensibles Yoga.
Personen, die Traumata erleben, sind enormem Stress ausgesetzt. Die stete Anspannung, die sie spüren, lässt ihre Muskeln verhärten. Hier setzt traumasensibles Yoga an. Im Unterschied zu herkömmlichen Yogastilen «läuft alles sanfter und langsamer ab», sagt Olesia. «Es geht vor allem darum, das Nervensystem zu beruhigen und den Körper zu entspannen.»
Die Positionen, die eingenommen werden, sollen nicht primär fit machen, wie es in westlichen Interpretationen von Yoga üblich ist. Traumasensibles Yoga soll erden. Betroffene, die im Krieg ihren Halt verloren haben und sich im eigenen Körper nicht mehr sicher fühlen, können lernen, sich wieder zu spüren.

In der Rehaklinik besuchen Soldaten die Kundalini-Yoga-Stunde von Olesia Stoianova.
Der Fitnessraum, in dem Olesia ihre Kundalini-Stunde abhält, füllt sich langsam. 15 Patienten sind heute da. Manche wechseln ein paar Worte mit Olesia, andere positionieren sich auf ihren Matten im Schneidersitz. Über den Soldaten hängen Boxsäcke. Es riecht nach Gummi, der Geruch kommt von den Fliesen, die den Boden bedecken, und nach dem Metall der Sportgeräte, die in einer Ecke stehen. Hennadii ist auch hier. Er nimmt Yogastellung um Yogastellung ein, zeigt den anderen, wie sie die Übungen richtig machen können, schliesslich ist er geübter darin als viele der Anwesenden.
Knapp eine Stunde später liegen die Soldaten rücklings auf ihren Matten, ihre Beine fallen auseinander, die Arme sind längs vom Körper. Sie haben die Augen geschlossen, atmen ruhig und tief. Sie sind in der Endentspannung. Keiner öffnet die Augen, keiner lacht, keiner hustet. Einzig ein paar laute Schnarcher durchbrechen Olesias einlullende Stimme – viele der Soldaten sind eingeschlafen.

Seit Stanislav Martynenko an der Front war, ist Schlaf für ihn zu einem Kampf geworden. In den Yogastunden findet sein Geist jeweils einen Moment lang Ruhe.
Einer der lautesten Schnarcher kommt von einem jüngeren Mann in kurzer Hose und blauem T-Shirt. Er ist nicht besonders gross, dafür breit gebaut, hat einen tätowierten Arm und Vollbart. Sein Name ist Stanislav Martynenko. Für den 37-Jährigen ist das Nickerchen am Ende der Stunde ein Luxus-Moment, die ganze Woche freut er sich darauf. Schlaf ist für den Soldaten Stanislav zum Kampf geworden.
Seit 12 Jahren führt er ukrainische Truppen an, 39 Monate davon verbrachte er an der Front. Stanislav nimmt starke Schlafmedikamente – keines hilft so richtig. Oft liegt er die halbe Nacht wach. Beim Yoga, wenn sich nach den Übungen und Atemrunden alle auf die Matte legen und die Augen schliessen, fällt sein Geist in die lang ersehnte Ruhe.
Schlaflosigkeit ist ein typisches Symptom von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Viele der Soldaten im Reha-Zentrum leiden darunter, bestätigt die Psychotherapeutin Anna Pavlenko, die dort arbeitet. Yoga könne ihnen helfen, zu entspannen und so besser Schlaf zu finden.
In seinen 12 Jahren als Berufssoldat hat Stanislav mehrere Bandscheibenvorfälle erlitten. Woher diese Kriegsverletzungen stammen, erzählt er, Beine überkreuzt, Hände ineinander verschränkt, auf einem Stuhl im Fitnessraum: «Unter Beschuss müssen wir aus Baumstämmen schnell einen Unterstand bauen. Die Stämme werden normalerweise von Maschinen bewegt. Nun aber machen wir das, in voller Montur, mit einem 30 Kilogramm schweren Gewehr auf den Schultern. Hinzu kommen Essen, Wasser, Schlafsäcke, die wir mit uns herumschleppen.» Die Einschränkungen, die ihm die Bandscheibenvorfälle bescherten, plagten ihn lange. «Früher machte ich immer Sport. Aber nach all dem lag ich nur noch im Bett und habe mich bemitleidet.»
Heute hat er einen Teil seiner Mobilität wiedergefunden und die Schmerzen haben nachgelassen – dank vielen Stunden Physiotherapie, aber auch dank der Yogapraxis.
Dauerhafter Alarmzustand
Die Psychologin und Yogalehrerin Eva Weinmann hat ein Buch über das Potenzial von traumasensiblem Yoga geschrieben. Sie erklärt: «Oft steckt die Anspannung, die sich während traumatischer Erfahrungen nicht lösen konnte, im Körper fest, und das autonome Nervensystem ist meist in einem dauerhaften Alarmzustand.» Deshalb sei es wichtig, dass nicht nur mit dem Geist, sondern genauso mit dem Körper gearbeitet werde. Auch die Atemübungen würden helfen, das Nervensystem zu beruhigen.
Stanislav weiss, wie wohltuend Yoga sein kann: «Es ist eine coole Technik», sagt er. Nutzen kann er sie auch im Alltag. Kürzlich war er beim Zahnarzt, als er spürte, wie Angst in ihm hochkam. Er stand kurz vor einer Panikattacke – eine häufige Begleiterin von Traumabetroffenen. Dann erinnerte er sich an die Atemtechnik, die Olesia ihm und den anderen in der Gruppe beigebracht hatte: Tief in den Bauch hinein atmen und fühlen, wie er mit Sauerstoff gefüllt wird. «Das habe ich dann auf dem Zahnarztstuhl gemacht, und schaffte es, mich zu beruhigen», sagt er.
Es gibt inzwischen eine Reihe von Studien zu Yoga bei posttraumatischer Belastungsstörung. Psychologin Weinmann verweist auf eine Metaanalyse von 2024, die zum «vorsichtigen Schluss kommt, dass Yoga die Symptome von PTBS reduzieren kann». Dazu gehört auch Depression. Weitere Studien sind laut der Forschenden aber nötig.
Weinmann betont, dass Yoga keine Psychotherapie ersetzen, aber unterstützend wirken könne. «Es geht beim traumasensiblen Yoga nicht um eine Konfrontation mit traumatischen Erlebnissen oder um Aufarbeitung.» Im Zentrum steht «Stabilisierung», wie es im Fachjargon heisst. Traumasensibles Yoga soll Betroffenen helfen, die verlorengegangene emotionale und körperliche Sicherheit wiederzufinden. Erst nach einer solchen Stabilisierung können die traumatischen Inhalte therapeutisch aufgearbeitet werden, ohne dass es zu einer Retraumatisierung kommt.
Im Reha-Zentrum bei Kiew wird Yoga seit gut einem Jahr angeboten. «Zu Olesias Kursen kommen immer viele Patienten. Wir haben sie deshalb aufgestockt, von einer Stunde pro Woche auf zwei», sagt der Leiter des Verbands Ukrainische Rehabilitationskräfte, der das Zentrum führt. Der Verband arbeitet mit mehreren Dutzend Reha-Kliniken in der Ukraine zusammen. Er will bei der Therapie von Militärpersonal nicht allein auf Psychotherapie oder Psychiatrie setzen, die Behandlung soll integrativ sein.
Standard in US-Militärkrankenhäusern
Das Konzept, Yoga im Umgang mit Traumata zu nutzen, wurde im Jahr 2002 vom Yogalehrer David Emerson gemeinsam mit dem Psychiater und Traumaforscher Bessel van der Kolk erarbeitet. Emerson gründete das Traumazentrum im «Justice Research Institute» in Brookline im US-Bundesstaat Massachusetts, das Forschung dazu betreibt und Trainings anbietet.
Bald darauf fand die Praxis Eingang in die Arbeit mit Personen, die von Kriegstraumata betroffen sind. Veteranen der US-amerikanischen Interventionskriege im Irak und in Afghanistan nach 9/11 gehörten zu den ersten Nutzniessern. Heute ist traumasensibles Yoga Standard in den meisten US-amerikanischen Militärkrankenhäusern.
Yoga wird aber auch in weiteren Konfliktregionen zu Therapiezwecken eingesetzt. Die Stiftung Azahar, gegründet von der Schweizer Yogalehrerin Yogeswari, organisiert weltweit in Konfliktgebieten Friedenscamps mit Yogakursen. Ihr erstes Projekt führte die Stiftung in Kolumbien durch. Dort half sie ehemaligen Guerillakriegern, sich mit Hilfe von traumasensiblem Yoga wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
In Ruanda betreibt Azahar gemeinsam mit einer lokalen NGO ein traumasensibles Yogaprogramm für Genozid-Überlebende. Zudem bietet die Stiftung kostenlose Ausbildungen für Yogalehrerinnen in Konflikt- oder Post-Konfliktgesellschaften an – darunter Kambodscha, Libanon, Syrien und die Ukraine.
Für Hennadii gehört Yoga mittlerweile zum Leben dazu. Er kann nicht nur besser schlafen – es hat ihm auch geholfen, sich nach einer Knie- und einer Schulteroperation schneller zu erholen und seine Flexibilität zurückzugewinnen. Und er hat es sogar geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören.
Yoga hat Hennadii und Olesia zusammengebracht. Das Schutzmantra, das Olesia ihn gelehrt hat, half ihm, die Zeit an der Front durchzustehen. Nun läuft es in ihrem Zuhause. Leise, im Hintergrund, 24 Stunden lang. Jeden Tag. Schliesslich braucht die Ukraine jeden Schutz, den sie kriegen kann.
Diese Reportage wurde durch den Medienfonds von «real21 — die Welt verstehen» finanziell unterstützt.



