In der Zeit, als ich alleine lebte, war der Briefkasten die Schwelle zum Tag. Ich litt damals unter einer Angst, die noch nicht offiziell vergesellschaftet ist, obwohl ich sicher bin, dass sie vielen nicht unbekannt ist: der Postangst. Also der Angst vor dem möglichen Unheil, das sich in der Post befinden könnte: Mahnungen, Rechnungen, Mieterhöhungen. Aber auch Drohbriefe oder Vorladungen vor Gericht. Die Angst war vollkommen irrational. Ich bezahlte meine Rechnungen immer sofort, lebte ausgesprochen vorsichtig und legte keinerlei kriminelle Energie an den Tag – aus Furcht vor den Konsequenzen.
Doch je gewisssenhafter ich lebte, desto grösser wurde meine Qual. Morgens galt mein erster Gedanke dem Briefkasten. Ich wartete am Fenster auf den Briefträger, und wenn ich ihn davonfahren sah, spurtete ich mit klopfendem Herzen zum Briefkasten runter. Darin lagen eine Werbung vom Alpamare und eine Postkarte meiner Eltern aus Schangnau: «Die Meringues schmecken herrlich.» Vor Meringues brauchte sich keiner zu fürchten. Der Tag war gerettet.
Zwangsgedanken sind nicht besonders angenehm, als Krankheit werden sie aber nicht immer ernst genommen. Woody Allen, der prominenteste Neurotiker der Welt, hat sie in seinen Filmen einer breiten Öffentlichkeit als liebenswerte Schrullen bekannt gemacht. Das sind sie definitiv nicht, wenn man bedenkt, dass manche Menschen wegen Zwangsstörungen in der Psychiatrie behandelt werden müssen. Natürlich darf man sich über alles lustig machen. Auch ich habe über meine Neurosen gewitzelt. Geholfen hat es mir nicht.
Meine Postangst hatte sicher damit zu tun, dass ich mein Leben damals nicht so richtig im Griff hatte. Meine Wohnung befand sich direkt unter dem Dach, und wenn die Strassenbahn auf den alten Gleisen vorüberfuhr, schüttelte es in allen Räumen. Die schwankende Wohnung fühlte sich an wie ein Kartenhaus, das jederzeit zusammenfallen konnte. Sie war ein Provisorium, in dem ich darauf wartete, dass das Leben endlich losging. Oder dass ein Brief eintraf, der mich als Hochstapler entlarvte.
An diese seltsame Zeit musste ich denken, als ich neulich in der «NZZ» eine skurrile Geschichte las. Im schleswig-holsteinischen Quickborn hat ein Mann vom Briefträger aufs Mal 1700 Briefe erhalten. Erschrocken stellte er fest, dass sie allesamt vom Finanzamt stammten. Alle hatten denselben Inhalt: einen Geheimcode für den Zugang zu einem Online-Steuerportal.
Was war passiert? Just am Wochenende, an dem der Mann seinen Antrag für den Zugang zu einem neuen E-Portal stellte, war Zeitumstellung. Er landete in einer Zeitschleife, die bewirkte, dass in der gewonnenen Stunde 1700 Briefe an ihn adressiert wurden. Oder wie die «NZZ» ausgerechnet hat: «Die Rechner des Finanzamtes sind in der Lage, 28,3 Briefe in der Minute auszustellen, beziehungsweise 0,47 pro Sekunde.»
Selbst der ehrbarste Kerl bekommt Zweifel an seiner Unschuld angesichts der Masse an Beweisen. So funktioniert Bürokratie. Ich glaube, dass solche Geschichten, genau wie Kafkas Parabeln, auf eine Leerstelle im Menschen verweisen, die mit dem Verlust an Glauben und Religiosität entstanden ist.
Statt auf einen lenkenden Gott zu vertrauen, fürchten wir uns vor der Willkür des Schicksals: Jeden kann es treffen – und vor allem mich. Die Zeitschleife wird zur Metapher des modernen Lebens und die Zwangsneurose zum Versuch, in diesem beunruhigenden Chaos so etwas wie Ordnung herzustellen. Ein System, das wie ein Bannzauber Unheil von einem fernhält und das so lange gutgeht, bis der Briefträger mit 1700 Briefen vor der Türe steht.
Neulich kam ich wieder einmal an dem Haus mit der schwankenden Wohnung vorbei. Viele Jahre sind seither vergangen, längst wohnt dort jemand anderes. Im Eingang entdeckte ich einen Brief, der in meinem alten Briefkasten steckte. Sofort verspürte ich das alte Herzrasen. Ich lief hin und nahm den Brief heraus. Es war nur eine Werbung. Gottlob.