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Autorin: Vanessa Buff
Illustration : Andrea Klaiber
Freitag, 11. Oktober 2024

Herr Schmid, die Coronapandemie war für viele Menschen eine Zäsur. Wie hat sie sich auf die Esoterikszene in der Schweiz ausgewirkt?

Sie hat die Neigung zu Verschwörungstheorien, die bereits vorhanden war, nochmals extrem befeuert. Vorher waren esoterische Menschen typischerweise der Ansicht, sie seien auf dem richtigen spirituellen Weg, und die anderen, die seien halt noch nicht so weit. Es wurde also eher mitleidig oder abschätzig auf den Rest der Gesellschaft geschaut. Mit der Pandemie wurden diese anderen aber von den Unerleuchteten zu jenen, die Esoterikerinnen aktiv von ihrem Weg abhalten wollten. Einige Menschen mit streng esoterischem Weltbild haben in dieser Zeit einen regelrechten Hass auf die Gesellschaft entwickelt. Ein Teil davon versammelt sich jetzt in Bewegungen wie «Urig» und «Graswurzle».

Was wissen Sie über diese Bewegungen?

Angezogen fühlen sich Menschen, die mit unserer Gesellschaft abgeschlossen haben. Sie glauben nicht mehr daran, dass sich das schweizerische System verbessern lässt. Die Demokratie halten sie für einen Fake, die Parteien für fremdgesteuert, die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen für zwecklos. So bleibt in ihren Augen nur noch eines: eine Parallelgesellschaft aufzubauen.

Georg Schmid (Jahrgang 1966) hat Theologie und Religionswissenschaften in Zürich und Basel studiert. Seit 1993 arbeitet er für Relinfo, die kirchliche Fachstelle Religionen, Sekten und Weltanschauungen, seit 2014 als deren Leiter. Die Stelle bietet Beratung und Information über Glaubensgemeinschaften, Sekten und weltanschauliche Bewegungen in der Schweiz. Getragen wird Relinfo vom gleichnamigen Verein, der im Auftrag der reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz und der katholischen Kirchen von Kanton und Stadt Zürich arbeitet.

Wie würde diese Gesellschaft aussehen?

Darüber bestehen in diesen Post-Corona-Kreisen ganz unterschiedliche Vorstellungen. Viele Anhänger bevorzugen eine antiurbane, ländliche Lebensweise. Grössere Firmen dürfte es nicht mehr geben, nur kleinere Handwerksbetriebe. Zudem würde der Handel kontrolliert, es gäbe eine Art Planwirtschaft. Solange nur Menschen in meinem Alter, also Generation Ü50, von solchen Dingen träumen, mag das noch angehen. Aber es gibt auffällig viele Schulgründungen in dieser Szene – und das ist das wirklich Problematische. Dass immer mehr Kinder in bewusster Distanz zur Gesellschaft aufwachsen.

Wie viele solche Schulen gibt es?

Bereits ein paar Dutzend, und die Tendenz ist steigend. Dazu kommt der ganze Home-Schooling-Bereich, der weitgehend unter dem Radar fliegt. Da brauchen Sie als Lehrperson in manchen Kantonen nicht mal einen Abschluss.

In der Schweiz gibt es eine Schulpflicht, und auch Privatschulen müssen sich an den Lehrplan halten. Übertreiben Sie das Risiko nicht etwas?

Das Problem ist der Föderalismus: Die Kontrollen und die Bedingungen für die Zulassung von Privatschulen sind je nach Kanton sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass in diesen Kreisen Kurse angeboten werden, wie die Lehrpersonen vortäuschen können, sich an den Lehrplan zu halten. So solle man die Kontrollierenden beschenken und dafür sorgen, dass immer abgegriffene Bücher vorhanden sind, die man nach einer Visite wieder im Regal verschwinden lässt. Das mag naiv klingen, aber die Täuschungsabsicht finde ich bedenklich.

«Die Schweiz ist ein gutes Pflaster für Sekten und andere weltanschauliche Bewegungen.»

Die Schweiz gilt gemeinhin als stabil, die direkte Demokratie als Mittel gegen Unzufriedenheit …

Die Schweiz ist aber auch ein gutes Pflaster für Sekten und andere weltanschauliche Bewegungen. Zum einen, weil hier viel Geld vorhanden ist, und wenn Sie eine neue Gemeinschaft gründen, brauchen Sie dafür finanzielle Ressourcen. Zum anderen aber auch wegen unserer liberalen Tradition. Wir lassen viel zu, was anderswo nicht denkbar wäre. Ausserdem ist eine gewisse Staatskritik in der Schweiz anschlussfähig – dass man mal richtig sauer ist «auf die da oben».

Ab wann wird eine solche Bewegung zum Problem für die Gesellschaft?

Das ist schlicht eine Frage der Grösse. Wenn es im Land zwei Schulen einer Sekte gibt mit je fünfzehn Schülerinnen und Schülern, dann kann die Schweiz das verschmerzen. Aber bei Dutzenden, vielleicht irgendwann Hunderten Schulen von gesellschaftskritischen Menschen sieht es anders aus. Derzeit gehen wir von rund 100 000 Personen aus, die in der Schweiz solche Ansichten vertreten.

Klären wir an dieser Stelle bitte die Begriffe: Würden Sie alle Staatsverweigerer als esoterisch bezeichnen?

Nun, wenn Sie mit Esoterik rein gar nichts anfangen können, dann werden Sie es bei Urig oder Graswurzle kaum aushalten. Aber natürlich gibt es unter den Staatsverweigerern auch solche, die weniger spirituell sind. Und es gibt esoterische Menschen, die weder staatsfeindlich noch stark verschwörungsgläubig sind. Ich würde aber sagen, diese sind in den vergangenen zehn, zwölf Jahren immer seltener geworden.

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Vanessa Buff

Woher kommt der Hang der Esoterik zu Verschwörungstheorien?

Es gab in der jüngeren Vergangenheit verschiedene Daten, zu denen angeblich ein «New Age» eingeläutet werden sollte: die Sonnenfinsternis 1999, das Millennium und dann das Jahr 2012, in dem laut dem Maya-Kalender eine Epoche enden sollte. Passiert ist nie etwas. Verschwörungstheorien sind ein Mittel, um das zu erklären.

Von welchen Verschwörungserzählungen sprechen wir?

Das Grundmuster ist immer das gleiche: Alles war bereit für die grosse Wende, aber die Verschwörer haben das verhindert. Wer diese «übelwollenden Weltenherrscher» sind, da gibt es verschiedene Varianten: Reptiloiden, Ausserirdische, Satanisten … Bekannte Vorbilder der Esoterikszene wie Oliver Michael Brecht oder Christina von Dreien beziehen sich zum Beispiel auf eine Verschwörungstheorie des Briten David Icke, die bereits in den Neunzigerjahren entstand.

Was besagt diese Theorie?

Vereinfacht gesagt, dass es gute Ausserirdische gibt, welche die Menschen geschaffen haben; und böse Ausserirdische – bei Icke eben Reptiloiden –, die später kamen und die Macht auf der Erde an sich gerissen haben. Das Besondere an diesen Ausserirdischen ist demnach, dass sie sich als Menschen tarnen und daher nicht erkennbar sind – ausser manchmal, wenn sie sich nicht richtig schminken (lacht).

«Bei der Esoterik geht es um die irdische Selbstverwirklichung, die ins Spirituelle hinein verlängert wird.»

Das klingt wie ein schlechter Scherz.

Stimmt. Aber im Ernst: Ein wichtiger und problematischer Teil der Erzählung ist, dass führende Politikerinnen und Politiker eben keine Menschen, sondern übelwollende Ausserirdische sind. Und Geheimbünde wie die Freimaurer oder das sogenannte Weltjudentum sind ihre Diener. Deshalb haben offizielle Staatsvertreterinnen im Denken dieser Verschwörungsgläubigen auch keine Autorität – man muss ihnen nicht gehorchen und darf sie sogar anlügen.

Andere Elemente der Esoterik kennt man auch aus den grossen Weltreligionen, etwa das Konzept der Reinkarnation.

Ja, aber es gibt fundamentale Unterschiede. Die östlichen Religionen kennen das Rad der Wiedergeburt, das sich dreht und dreht, dabei sind wir mal Menschen, mal Tiere, mal Höllenwesen, mal Gottheiten. Das Ziel ist es, aus diesem Kreislauf auszusteigen, eins zu werden mit allem, aufzugehen im Nichts. Bei der Esoterik hingegen geht es um die irdische Selbstverwirklichung, die ins Spirituelle hinein verlängert wird.

Was heisst das genau?

Die Esoterik kennt die Vorstellung einer gestuften Existenz, dass wir uns also von Stufe zu Stufe entwickeln und uns so über Wesen auf tieferen Stufen erheben. Das hat auch mit dem Darwinismus zu tun, der im 19. Jahrhundert populär wurde – zur selben Zeit, als die Theosophie, die Mutter der Esoterik, entstand.

Sind damit auch rassistische Vorstellungen verbunden?

Bei gewissen Vertretern schon. Rudolf Steiner ist dafür ein gutes Beispiel. Von ihm gibt es Skizzen sogenannter Entwicklungslinien. Man muss sich das vorstellen wie einen Pfeil mit verschiedenen Abzweigungen. Diese «dekadenten Abzweigungen», wie Steiner sie nennt, sind «Affen» und «Indianer»; der Pfeil, der nach oben zeigt, heisst «Arier». So hat er das an die Tafel gezeichnet – so einfach und so rassistisch. Zur Verteidigung Steiners wird gerne behauptet, das werde ausgeglichen, indem uns die Reinkarnation durch alle Menschengruppen hindurchführt. Meine Seele war demnach auch schon mal in Nordamerika, in Afrika, bei den Maya, in China …

… und ist dann immer weiter aufgestiegen?

Genau, und darum bleibt dieses Konzept trotz Reinkarnationslehre zutiefst rassistisch. Da war Rudolf Steiner ein Kind seiner sozialdarwinistischen und kolonialistischen Zeit.

Treffen sich Esoterikerinnen in diesem Punkt mit rechten bis rechtsextremen Kreisen?

Es ist paradox: Einerseits sprechen Schweizer Esoterikfans heute kaum noch von solchen Entwicklungslinien. Im Gegenteil, es gibt sogar eine breite Strömung, die die höchste Stufe der Weisheit bei den Maya sieht – siehe 2012. Andererseits lässt sich durchaus feststellen, dass die Szene mit der Pandemie nach rechts gerutscht ist.

«Die Esoterik ist ein relativ modernes Projekt, das aber gerne uralt wäre. Um dieses Image zu kreieren, bedient sie sich bei verschiedensten Religionen, Ethnien und Weltanschauungen.»

Inwiefern?

Wer mit Menschen aus den Post-Corona-Bewegungen spricht, erhält oft die Auskunft, dass sie früher grün gewählt hätten. Aber dann seien die Grünen für die Massnahmen gewesen, und deswegen fühlten sie sich jetzt dort nicht mehr daheim. Wenn diese Menschen heute überhaupt noch wählen, dann die SVP. Oft hört man aus der Szene auch Sätze wie «Ich bin nicht rassistisch, aber …» Und dann erzählen die Leute, dass bei den Coronademonstrationen Rechte dabei waren, da hätten sie gemerkt, dass sie doch gewisse Überschneidungen mit denen haben. Zusammengefasst müssen wir feststellen: Die Esoterik ist heute gegen rechts weit offen, eine klare Abgrenzung gibt es oft nicht mehr.

Den Neonazi mit den Springerstiefeln und die Esoterikerin, die an Wiedergeburt glaubt — das bringt man nur schwer zusammen.

Es stimmt schon, die organisierte, rechtsextreme Szene in der Schweiz ist eher atheistisch. Die Junge Tat etwa dürfte für die Esoterik kaum anschlussfähig sein. Aber es gibt durchaus Überschneidungen, etwa beim indigenen Volk der Germaniten.

Germaniten?

Das ist ein Teil der Staatsverweigerungsszene, der sich auf die Uno-Deklaration zu den Rechten von indigenen Völkern beruft. Demnach haben Indigene das Recht, sich selbst zu organisieren und sich eigene Gesetze zu geben. Der Punkt ist: Nur die einzelnen Menschen können definieren, ob sie zu dieser indigenen Gruppe gehören – es gibt keine Institution, die das von aussen bestimmen könnte. Was auch richtig ist, alles andere würde in die Untiefen des Rassismus führen. Die Germaniten nutzen das aus, indem sie sich als indigene, von den antiken Germanen abstammende Schweizer bezeichnen. So ein Projekt spricht sowohl rechtsextreme wie auch esoterische Personen an.

Auf Ihrer Homepage schreiben Sie, Esoteriker verstünden sich oft als eine Art «Urchristen». Wie passt das mit Wiedergeburt und Indigenen-Verehrung zusammen?

Die Esoterik ist ein relativ modernes Projekt, das aber gerne uralt wäre. Um dieses Image zu kreieren, bedient sie sich von jeher wie auf einem Steinbruch bei verschiedensten Religionen, Ethnien und Weltanschauungen. Sie deutet Dinge um und baut sie zusammen, wie es für sie gerade passt. Ein Beispiel dafür ist eben ihr Verständnis der Wiedergeburt, ein anderes ist die Bibelveränderungstheorie.

Was ist damit gemeint?

Angeblich sollen im Neuen Testament einmal esoterische Lehren dringestanden haben, die dann aber durch die frühkirchlichen Konzile herausgestrichen wurden. Historisch ist das absurd, weil die ältesten vollen Bibelhandschriften vor dem ersten Konzil entstanden sind. Ausserdem hatten sich manche Kirchen im Orient zu diesem Zeitpunkt bereits abgespalten. Wenn die Theorie also stimmen würde, dann hätten diese Kirchen heute die angeblich ursprüngliche esoterische Bibel – und das ist nicht der Fall.

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Wie kann es sein, dass diese Theorie trotzdem Anklang findet?

Für esoterisch orientierte Kirchenmitglieder ist der Gedanke attraktiv: Sie möchten, dass Jesus und seine Jünger gepredigt haben, wofür sie selber stehen. Allerdings muss ich sagen, dass solche Ideen in den letzten Jahren an Bedeutung verloren haben. Die heutige Esoterik in der Schweiz ist oft kirchenkritisch. Christina von Dreien sagt zum Beispiel, wer sich auf den Weg zu einer besseren Gesellschaft begeben will, solle drei Dinge tun: vegetarisch werden, aus der Kirche austreten und alle Medien-Abos kündigen.

Wie kommt es zu dieser kritischen Haltung den Kirchen gegenüber?

Wie eingangs geschildert, hat die Distanz von esoterischen Menschen zur restlichen Gesellschaft in den letzten Jahren zugenommen – und die Kirchen werden als Teil dieser Gesellschaft verstanden. Im Fall der Landeskirchen, die zur Gesellschaft nicht in Fundamentalopposition treten, ist das ja auch richtig. Nehmen Sie wiederum die Coronapandemie: Da hat ein Grossteil der Kirchen die Massnahmen des Staates mitgetragen.

Mittlerweile sind alle Coronamassnahmen aufgehoben. Hat sich die Situation dadurch nicht beruhigt?

Ein grosser Teil der Massnahmen-Gegner hat sich tatsächlich wieder dem Rest der Gesellschaft angenähert. Aber ein ebenfalls nicht kleiner Teil hat sich radikalisiert. Nach dem Motto: Diese Normalisierung ist fake, ein Trick der «übelwollenden Weltenherrscher», die so tun, als wäre alles wie vorher, dabei ist nichts wie vorher. Stand jetzt wachsen die Post-Corona-Bewegungen noch immer. Und solange die Weltlage so unsicher bleibt wie jetzt gerade, mit dem Klimawandel und den Kriegen im Nahen Osten und in der Ukraine, so lange wäre ich vorsichtig zu sagen, in zwei, drei Jahren sei der Spuk vorbei.

Was kann der Staat gegen diese Bewegungen tun?

Das ist die grosse Frage. Klar ist, dass Verbote nichts bringen, das würde die staatkritische Haltung der Menschen nur noch verstärken, zudem wäre es einfach, die Verbote zu umgehen und neue Vereine zu gründen. Bei den Privatschulen hingegen können staatliche Stellen durchaus handeln. Hilfreich wäre es, wenn diejenigen Kantone, die heute gesellschaftskritische Schulen durchwinken, ihre extrem lockere Bewilligungspraxis überdenken würden. Wichtig wäre auch, dass Visiten der Bildungsdirektionen häufig und unangekündigt sind. Und die Kontrollierenden sollten sich nicht durch selbstgemachte Guetsli einlullen lassen.