Der ehrliche Klappentext

«Unter Umständen»

«Unter Umständen» ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, das Thema Mutterschaft aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
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Autorin: Vanessa Buff
Freitag, 09. August 2024

Kennen Sie das Zitat aus dem Hollywoodfilm «Forrest Gump», in dem das Leben mit einer Schachtel Pralinen verglichen wird? «Man weiss nie, was man kriegt», lautet das Credo des Protagonisten, das er – meist rührend ungefragt – zum Besten gibt. Mit Anthologien verhält es sich ähnlich: Man stösst bei der Lektüre ebenso auf raffinierte Champagner-Truffes wie auf trockene Nuss-Teilchen. Hin und wieder mag man auf etwas beissen, das einem gar nicht bekommt. Sicher aber hat man nach einem Happen keine Ahnung, was einen als nächstes erwartet.

«Unter Umständen» ist hier keine Ausnahme. Der Band des feministischen Zürcher Verlags Sechsundzwanzig versammelt Texte von fünfzehn Autorinnen zum Thema Mutterschaft. Wobei der Begriff sehr breit gedacht wird: Behandelt werden auch Abtreibung, Fehlgeburt oder der bewusste Entscheid gegen eine Mutterschaft.

Ein Text ist aus Sicht des Kindes geschrieben, das geboren wird; ein Text beschäftigt sich mit der Schwierigkeit, sich gleichzeitig um ein Baby und um die pflegebedürftige Mutter zu kümmern. Auch in der Form unterscheiden sich die Beiträge teilweise stark. Das Spektrum reicht von Prosa über Lyrik bis hin zu eher journalistischen Formaten wie Essays.

Diese Vielfalt macht den Zugang zum Buch nicht ganz einfach: Leserinnen müssen sich immer wieder neu auf die Texte einstellen, fallen mitunter unvorbereitet von einer Stimmung in die nächste. Gleichzeitig ist diese Fülle auch ein Schatz. Er ermöglicht es, ein komplexes Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und dabei einige Mythen loszuwerden, die sich noch immer wie widerspenstige Kletterrosen um die Mutterschaft ranken.

Ein solches Klischee lautet, dass die Körper von Frauen dazu bestimmt seien, Kinder zu bekommen, und dass sie dabei regelrecht aufblühen würden. In einer wunderbar poetischen Kurzgeschichte beschreibt die Zürcher Schriftstellerin Julia Weber, wie sich das Verhältnis zum eigenen Körper während einer Schwangerschaft auf groteske Weise verändern kann: «Irgendwann war auch ihr Gesicht nicht mehr ihr Gesicht. Muttergesicht. Im Spiegel sah sie einen Haufen Fleisch. Eine Nase wuchs aus dem Fleischhaufen heraus. Sie nahm ein Rasiermesser und schnitt sich einen Fleischlappen aus dem Gesicht. Das Blut mischte sich mit der Creme, die sie aufgetragen hatte.»

Gleichzeitig gibt Weber den widersprüchlichen Gefühlen Raum, die mit Mutterschaft verbunden sind – den Zweifeln, der Liebe, der Einsamkeit und der Verzauberung. «Und hinter ihr tritt aus dem Haus das Kind. Hat leuchtendes Haar und einen eigenen, ernsten Blick. Hat grosse Kinderhände und Kinderfüsse und es riecht hinter dem Ohr nach Leben.» Es sind Zeilen, die sich direkt ins Herz graben.

Überhaupt ist Ambivalenz ein Motiv, das sich durch den Band zieht. Es ist das Verdienst der Herausgeberinnen Jil Erdmann und Lena Käsermann, dass sie die Beiträge in diesem Punkt gekonnt aufeinander abgestimmt haben. So erscheint Mutterschaft im Buch weder ausschliesslich negativ noch in allzu schönen Farben gezeichnet. Gleichzeitig wird dadurch der Blick auf ihre politische Dimension nicht verstellt.

«Unter Umständen» ist bereits die zweite Anthologie zu einem feministischen Thema aus dem Verlag Sechsundzwanzig: Vor drei Jahren erschien «Frauen erfahren Frauen» mit Texten von 1976 bis 2021. Da Verlegerin Jil Erdmann sich zum Ziel genommen hat, die Arbeit der 2007 verstorbenen Lektorin und Schriftstellerin Ruth Mayer fortzuführen, versammeln beide Bände zeitgenössische Texte ebenso wie Beiträge aus Mayers Archiv.

Forrest Gumps Lebensmotto kann als puritanische Ermahnung verstanden werden, sich mit dem zufrieden zu geben, was man hat, und sich nicht darüber zu beklagen. Viel schöner aber ist die Interpretation, das Leben zu feiern – mit all seinen Irrungen, Wirrungen, Fehltritten und Überraschungen. Auch wenn es schmerzt. Oder mal etwas dabei ist, das einem nicht schmeckt – Marzipan zum Beispiel. Genauso macht es «Unter Umständen» mit dem Thema Mutterschaft.

Jil Erdmann, Lena Käsermann (Hg.): «Unter Umständen». Sechsundzwanzig, Zürich 2024; 200 Seiten; 33.90 Franken.

  • Bereit für eine Frau

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