Anthony McCall, «Split Second», 2018. (Bild: Courtesy of Art Basel)
In meiner täglichen Arbeit für Themenausstellungen versuchen wir immer, jene Kunstwerke zu finden, die am besten zu unserem jeweiligen Thema passen. Bei der Vernissage wissen wir dann ganz genau, warum welches Kunstwerk oder Exponat in der Ausstellung ist und an dem Platz steht, wo es steht.
Für einmal schreibe ich hier aber über ein Kunstwerk, bei dem ich nicht erklären kann, warum es diesen Platz in meinen Erinnerungen einnimmt, und das, obwohl es wahrscheinlich nie den Weg in eine unserer Themenausstellungen finden wird. Es kommt mir manchmal in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, was Kunst ausmacht und was ihre Faszination sein kann.
Ich sah Anthony McCalls «Split Second» am 16. Juni 2019 an der Art Basel. Am Abend zuvor war ich von einem Musikfestival zurückgefahren, um wenigstens den letzten Tag der grössten Messe für zeitgenössische Kunst mitzuerleben. Alleine der Kontrast zwischen der lauten und bierseligen Umgebung der letzten Tage und den raumfüllenden Werken des Who’s who der zeitgenössischen bildenden Kunst war eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.
In einem Seitenraum des Unlimited Sector trat ich ins Dunkel ein. Da ich den Künstler nicht kannte, wusste ich nicht, was mich erwartete. Als erstes dachte ich, er hätte durchscheinende Stoffbahnen in den Raum gespannt. Andere standen schon davor und versuchten das, was sich da im Raum materialisierte, zu berühren. Zwei schimmernde Flächen, die sich durch den nebelverhangenen Raum zogen. Das Ganze hatte eine fast schon hypnotische Ausstrahlung, ich konnte mich nur schwer daran sattsehen.
Zu Hause las ich nach: Anthony McCall beschäftigt sich in seinen Installationen seit den 1970er Jahren mit der Idee des Solid Light. Dabei bezieht er sich auf die Effekte, die durch eine sorg- fältig ausgerichtete Projektion von Lichtebenen im Raum erzeugt werden. So entstehen diese Lichtformen, die wirken, als wären sie etwas Festes, Materielles.
«Split Second» war damals eine der neusten Installationen aus der Solid-Light-Serie. Die Betrachtenden werden Teil der Installation, können sich darin bewegen. McCalls grosse Themen sind dementsprechend auch Fragen von Raum und Form.
Ich kann nicht benennen, warum ausgerechnet dieses Werk mich so fasziniert hat, oder zumin- dest nicht, warum mehr als andere. Kürzlich habe ich wieder Fotos davon angeschaut, die ich an der Messe gemacht hatte. So eindrücklich sah es darauf gar nicht mehr aus. Aber vielleicht ist es genau das: dieses Werk steht für mich persönlich dafür, warum es sich lohnt, Kunst in echt zu sehen, und warum ein Bild oder ein online gestelltes Video einen Ausstellungsbesuch nicht ersetzen kann.
In dieser Hinsicht wünsche ich mir, dass die Kunstwelt noch etwas zugänglicher und niederschwelliger wird, dass noch mehr Menschen den Blick in den «dunklen Seitenraum» wagen und dort vielleicht etwas antreffen, das sie berührt. Und keine Scheu haben, etwas nicht zu verstehen. Weil Kunst auch dann funktioniert, wenn man sie nicht ganz versteht – eigentlich sollte sie ganz ohne grosse Erklärungen funktionieren – und ohne, dass man sich stundenlang einlesen muss. Stattdessen sollte es reichen, dass man bereit ist, sich einzulassen – und sei es eben nur für eine «Split Second», einen kurzen Moment.