Im Jahr 2000 wurde seine «Poésie complète», sein dichterisches Gesamtwerk, veröffentlicht. Georges Haldas war 83 Jahre alt und konnte auf ein langes und produktives Leben zurückblicken. 1917 als Sohn eines Griechen und einer Schweizerin geboren, verbrachte er seine ersten neun Lebensjahre in Griechenland. Danach zog er nach Genf, wo er Literatur studieren und als Lehrer, Journalist und Buchhändler arbeiten sollte.
Das Werk, das er über Jahrzehnte veröffentlichte, umfasst Übersetzungen antiker Lyriker und eine Vielzahl eigener Publikationen. Neben seinen Gedichtbänden erlangte Haldas mit literarischen Chroniken Bekanntheit, insbesondere mit dem Band «Boulevard des Philosophes» von 1966, in dem er vom Aufwachsen im Genfer Plainpalais-Quartier und von seinem glücklosen Vater erzählte.
Doch Haldas liess auch nach 2000 den Stift nicht ruhen. Sein Leben war noch nicht komplett, also konnte es auch sein Werk nicht sein. Kontinuierlich dichtete er weiter, bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2010.
Zunächst schrieb er in seine Notizbücher, und als ihm das Augenlicht allmählich fast ganz versagte, diktierte er seine Poeme der Lebensgefährtin. So entstanden in Haldas’ letzten zehn Lebensjahren rund 300 Gedichte, die nach seinem Tod unter dem Titel «Poèmes du veilleur» erschienen. Aus dieser Fülle hat nun der Schweizer Übersetzer Christoph Ferber 70 Gedichte ausgewählt und ins Deutsche übersetzt.
Bereits das erste Gedicht, «Abfahrt», stellt eines von Haldas’ zentralen Motiven vor. Es ist der Abstieg als Metapher für das Sterben. «Ich steige langsam / die Todestreppe hinunter», heisst es gleich zu Beginn. Der Sprecher solcher Zeilen will den eigenen Tod nicht verdrängen, doch er stürzt auch nicht auf ihn los. Grüblerisch und voller melancholischer Sinnenfreude reflektiert er seine Situation als alter Mann am Ende des Lebens und imaginiert seinen Tod.
Mit der «Abfahrt» ist auch der Ton des Gedichtbands gesetzt. Keineswegs verzweifelt oder panisch, sondern vielmehr gelassen wendet sich der Dichter dem zu, was es noch auszukosten gibt: «Ich schaue auf den See / Es ist mild es ist lau». Es ist ein schöner Herbsttag, um eine Reise zu tun. Indessen, «ich werde allein an Bord sein / und ohne Gepäck».
Am Ende bleibt dem Sprecher der Blick zurück. «Das Schiff ist abgefahren / Ich seh es von Weitem / und der Hafen ist nun ganz klein». Und damit ist das zweite Thema von Haldas’ späten Gedichten angesprochen. Es ist der Rückblick auf das Leben, und zwar in all seinen lebenswerten Aspekten. Da ist die Liebe, und da ist immer wieder Haldas’ erste Heimat Griechenland. Diese ist freilich weit weg, geografisch wie biografisch, und doch nicht zu weit für die robuste, lebensbejahende Einbildungskraft dieser poetischen Stimme. «Wenn Raum und Zeit / die Distanzen erhöhen / vereint unser Herz allein / in einem Augenblick / was um uns herum / für immer getrennt ist».
Gross muss die vereinigende Kraft dieses Dichterherzens sein. Denn sie erlaubt ihm, tapfer das Bedauern in Worte zu fassen, das er im «Seufzen der Toten» hört, während er langsam «die Trauerstufen hinunter / Den Schatten entgegen» steigt.
Doch nicht etwa triste Schattenwesen wie in Homers Unterwelt, die über ihr eigenes Leid klagen, stellt sich Haldas vor. «Ihre Trauer gilt / der Familie dem Heim / und den Freunden die am Abend / gemeinsam ihr Bier trinken / um von ihrem Kameraden / zu sprechen den sie zwei Tage zuvor / zu Grabe getragen haben». So bedauern die Toten die Lebenden, die gerade ihre Toten betrauern.
Die Lektüre von solchen zartbitteren Imaginationen löst indessen keineswegs Bedauern aus. Haldas’ meist dreihebige Verse sind voller Musik, und sie schreiten ruhig, gefasst und feierlich voran, im französischen Original wie auch in Christoph Ferbers einfühlsamer Übersetzung.
Georges Haldas: «Vor der grossen Abfahrt / Avant le grand départ». Gedichte aus dem Nachlass. Französisch und Deutsch. Übersetzt von Christoph Ferber. Limmat-Verlag, Zürich 2024; 168 Seiten; 39.90 Franken.