Der ehrliche Klappentext

«Mein Bruder Marco» von Ueli Mäder

In einem Brief an seinen toten Bruder zeichnet der Soziologe Ueli Mäder gesellschaftliche Veränderungen anhand einer einzigen Biografie nach. Der Spagat zwischen Gesellschaftsanalyse und eigener Trauer ist unmöglich zu schaffen. Dennoch regt «Mein Bruder Marco» zum Denken an.
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Freitag, 12. April 2024

Wie verändern wir Gesellschaft? Und was macht die Gesellschaft mit uns? Es sind sehr grosse Fragen, um die es im neuen Buch von Ueli Mäder geht. Das ist insofern nicht erstaunlich, als der heute 73jährige Autor sich einen Namen als Soziologieprofessor in Basel gemacht hat. Allerdings überrascht die gewählte Flughöhe eben doch, weil es im Buch um den Tod von Mäders Bruder geht. Dieser ist vor zehn Jahren nach langer Alkoholsucht an Krebs gestorben.

Ebendieser Marco Mäder wächst mit vielen Talenten auf, ist sehr belesen, studiert Theologie, engagiert sich in der politisch Linken, spielt als Handballer in der Nationalliga und weckt grosse Erwartungen im kleinen Sissach BL. «Manche sehen ihn schon als Bundesrat», heisst es im Buch.

Doch es kommt anders. Marco Mäder verweigert sich aus ideologischen Gründen nicht nur dem Militärdienst (und landet dafür im Gefängnis). Ihm widerstrebt offenbar ganz generell das bürgerliche Leben. Am deutlichsten wird das, als er spontan nicht zur letzten Vorprüfung seines Theologiestudiums erscheint und in seiner Lieblingskneipe sitzen bleibt – obwohl ihn zwei Professoren bereits für ein Doktorat angefragt haben. Die Landeskirchen würden sich machtkonform vereinnahmen lassen, kritisiert er.

Stattdessen hilft er als Sozialarbeiter Randständigen, verkracht sich über die Jahre jedoch mit seinem Umfeld und verliert den Job. Dazu kommt, dass er, nachdem er bis zwanzig abstinent gelebt hat, immer mehr Alkohol trinkt. Arbeitslos und süchtig, führt er zunehmend ein Leben als Randständiger.

Was sagt diese gewiss bewegende Biografie über uns alle aus? Ist sie mehr als ein persönliches Schicksal? Und wenn ja, gilt das für jeden von uns? Solche Fragen beantwortet Ueli Mäder zwar nicht direkt und schon gar nicht abschliessend. Dass das auch gar nicht der Anspruch sein kann, bezeugt der Untertitel des Buches, das heisst: «Mein Bruder Marco. Eine Annäherung». Indem politische und kulturelle Entwicklungen bewusst ausführlich vorgetragen werden, schwingen die Fragen dennoch stets mit.

So erscheint Marco Mäder als Repräsentant jener «68er», die den Gang durch die Institutionen verweigerten. Hier kontrastiert sein Lebenslauf stark mit jenem des Bruders und Autors Ueli Mäder, der früh eine Familie gründete und mit einem kaum enden wollenden Arbeitseifer zum Professor aufstieg. Um diesen interessanten Gegensatz ausgiebiger zu reflektieren, bedürfte es allerdings eines neutraleren Autors.

Im Umfeld der Mäders passiert vor allem in den gemeinsamen Jugendjahren so einiges, was Einblicke ins linke Milieu jener Jahre ermöglicht. Nur ein Beispiel: Eine Bekannte aus der Kommunen-WG hat die Schule geschmissen und in einem Warenhaus gejobbt. Als sie ihren ersten Lohn kriegt, zerreisst sie Hunderternoten vor versammelten Augen in der Luft, ruft: «Scheisskapitalismus.» Später konsumiert sie harte Drogen, nimmt sich schliesslich das Leben.

Es sind solche Nebenstränge, die das Buch sehr lesenswert machen. Der Autor beschreibt sie wohl so ausführlich, um zu zeigen, dass eine Biografie immer auch von anderen Biografien beeinflusst ist. Damit setzt er ein wohltuend unaufdringliches Zeichen gegen das allzu oft propagierte Individualismus-Narrativ.

Irritierend ist die Du-Form, mit der diese Analyse vorgetragen wird. Zwar hält Ueli Mäder den damit verbundenen Anspruch ein, einen intimen Einblick in die eigene Familie zu geben: Er zitiert Geschwister, alte Schulkameradinnen, Schulaufsätze und Briefe seines Bruders sowie das Tagebuch der Eltern. Doch fällt er allzu häufig in die Rolle des distanzierten Analytikers zurück, etwa wenn er zum Schluss als eine Art Bilanz von Marcos Leben «13 Folgerungen» formuliert. Das wirkt dann etwas gar abschliessend. Die Gesellschaft erklären und die eigene Trauer verarbeiten – beides schafft auch ein arrivierter Soziologe nicht auf knapp 200 Seiten.

Ueli Mäder: «Mein Bruder Marco». Rotpunktverlag, Zürich 2024; 190 Seiten; 29 Franken.

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