«Was macht der Hass im Netz mit dir?» hatte mich die Redaktion von bref vor einigen Monaten gefragt. Und ich war der Frage ausgewichen, um über das zu sprechen, was der Hass mit uns allen macht – mit mir, mit Ihnen, den Lesenden und der gesamten Gesellschaft.
Seither habe ich neue, intensivere, stürmischere Wellen des Hasses gegen mich erlebt, Menschen mit Schaum vor dem Mund, die diffamieren, hetzen, und manche, die mir gar mit dem Tod drohen.
Was macht der Hass mit mir? Diesmal antworte ich persönlich: Ich lerne und wachse durch ihn. Denn das Erstaunliche ist, dass ich selbst in den härtesten Phasen eine Ruhe in mir erlebte. Eine Ruhe, die mir vorher unbekannt war. Ich hörte eine innere Stimme, die mir nicht die Frage stellte: «Warum passiert dir das?» – sondern eine, die spät am Abend, als alle anderen Stimmen verstummten, leise fragte: «Was lernst du daraus?»
Die erste Frage ist jene, die scheinbar nach dem Sinn des Geschehenen fragt. Doch sie lässt uns Menschen im Jetzt, im Geschehenen versinken. Sie macht uns ohnmächtig unter der Last des Geschehens – und des Geschehenen. Es ist die zweite Frage, die uns zum Sinn führt. Dorthin, wo das, was passiert ist, verstanden wird. Diese Haltung ist nach vorne gerichtet. Es ist, wie einst Kierkegaard sagte: «Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, muss aber vorwärts gelebt werden.»
Ich wollte fähig sein, vorwärts zu leben. So stellte ich mir nahezu jede Nacht die Frage nach dem, was ich lernen konnte, und schöpfte Kraft aus Antworten, die mich wachsen liessen – so schmerzhaft das Wachsen auch sein mag. Aber woher, wunderte ich mich, kommt diese ruhige Stimme in mir, die so selbstverständlich diese Frage stellt?
«Gott gibt niemandem eine Last, die sie oder er nicht tragen kann», sagt man häufig im Türkischen, wenn jemand gerade eine harte Zeit durchlebt. Sie basiert auf dem Koranvers 286 in der Sure Al Baqarah. Darin heisst es: «Allah fordert von keiner Seele etwas über das hinaus, was sie zu leisten vermag.»
In diesen harten Phasen ergab es sich, dass ich regelmässig, jeden einzelnen Tag, diesen Satz in stets abgewandelter Form von ganz unterschiedlichen – religiösen, atheistischen, agnostischen – Menschen zu hören bekam. Jeden Tag. Ausnahmslos.
Das half mir, denn ich merkte: Scheinbar kann ich diese Last tragen. Die Frage war also: Was kann ich aus ihr lernen und sie damit erleichtern? So entwickelte ich Verständnis für jene, die mir hasserfüllte Nachrichten schrieben. Ich begriff: Die Welt ist komplexer als die Kategorien, in denen bislang häufig gedacht wird. Deshalb kann ich nachvollziehen, dass ich Menschen, die mich nicht in einfache Schubladen einordnen können, irritiere und sie mit Abwehr reagieren. Ich irritiere sie, weil sie sichtbare Religiosität nicht mit Emanzipation und dem Wunsch nach Gerechtigkeit, Vielfalt und Freiheit zusammenbringen können – oder wollen.
Auch wenn es seltsam klingt: Ich entwickelte Dankbarkeit – für die Kritik sowieso schon immer –, aber nun auch für den als Kritik getarnten Hass, der mir hilft, in einem ambivalenten Raum nochmals über meine Positionen nachzudenken und sie stetig und kontinuierlich auszubauen.
Ich versuchte diese Menschen zu verstehen, sie zu begreifen, um aus ihnen zu lernen. Diesen Schritt vorwärts zu gehen gab dem Geschehen einen Sinn. Dann stolperte ich – heute, während ich darüber sinnierte, was ich denn aus alldem lerne – über diesen Satz im Buch Becoming Wise von Krista Tipett:
«I have yet to meet a wise person who doesn’t know how to find some joy even in the midst of what is hard, and to smile and laugh easily, including at oneself.»
Nun, ich setze alles daran, weiser zu werden. Und vorwärts zu leben.