Nora Gomringer schreibt, wie sie mit Jesus in der Gemüseabteilung steht. «Mach kein Tiktok!» würde sie ihm bei dieser Gelegenheit raten – und ihm, einige Tage vor Pfingsten, von ihrer Sehnsucht erzählen.
Ich hatte für das Osterfest einen Auftrag für eine kirchliche Akademie zu erfüllen. Fast alle Aufträge der letzten Monate wurden, wie auch dieser, in Form eines Videoclips erbeten. Meist kleine Einmischungen, Kommentare, manchmal aufwendigere Produktionen. Diese zunehmende Sichtbarmachung wird von der Immer-Betrachtbarkeit, die keiner zeitlichen Begrenzung mehr unterliegt, begleitet. Mir scheint, dass dabei auch das wunderliche Moment der Selbstbefragung völlig verschwindet. Dieses Moment gab es, wenn ich mit bereits müden Augen vor dem Fernseher bei irgendeinem Programm «hängenblieb». Mächtige, einprägsame Fernsehmomente erlebte ich so.
Mein heutiges Selbstverständnis als Dichterin, beziehungsweise die Entscheidung, diesen Beruf zu ergreifen, wurde massgeblich vom Erlebnis des Films «Ein Engel an meiner Tafel» von Jane Campion geprägt. Als ich ihn sah, wusste ich am nächsten Tag kaum, wie davon meiner Mutter zu berichten. Darin wurde das Leben der neuseeländischen Dichterin Janet Frame anhand der zum Film titelgleichen Autobiografie eindrücklichst erzählt. Meine Mutter – gewohnt, Namen und Orte rasch beim ersten Hören zu notieren – schrieb den Namen auf und besorgte mir sogleich das Buch. Noch während des Lesens wurde ich ein bisschen zu Janet Frame, wie ich nach der Lektüre der «GretchenSackmaier-Bücher» ein bisschen zu ihm, dem Gretchen, geworden war.
Die Sehnsucht nach einem Stoff, sie fehlt heute in der Rezeption, da alles sofort und immer erhältlich geworden ist. Auch Jane Campions Film kann ich heute mühelos bei Youtube finden und ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit ansehen. Waren früher auch visuelle Medien ähnlich Büchern und ihrer Lektüre an die Zeit gebunden, erscheinen sie einem heute überzeitlich und beschleunigt. Das bestätigen mir auch die Schnitttechniken der Cutterinnen und Cutter. Filmemacher wie Terrence Malick etwa, die lange Einstellungen bevorzugen und einzelnen Entwicklungen im szenischen Geschehen sehr viel Raum geben, sind selten und erzeugen Irritation, schenken aber auch epische Weiten.
Meine kleinen Videoclips, so wie zu Ostern, sind keine cineastischen Grossleistungen. Sie sind nicht einmal besonders elegant. Ich beobachte mich seit über zehn Jahren beim Filmemachen und stelle fest: Ich mache es, weil ich es für eine Form der erweiterten, direkten Lektüre halte. Eine Sehnsucht danach, dem Publikum etwas noch unmittelbarer zu erzählen als in einem Buch oder bei einer Lesung. Verrückt ist nur, dass man so festgehalten ist durch die Verstetigung, die das Medium besorgt.
Zu diesen Überlegungen passen auch die Leben zweier grosser Männer: das des Theologen und Kirchenkritikers Hans Küng und jenes von Prinz Philip, dem Gemahl der Königin von England. Beide ver-bindet, dass sie grosse Wellen durch Europa gesandt haben, zu Lebzeiten und nun im Tod. Ihre erste Lebenshälfte haben wir auf Fotos beobachten können, die zweite in bewegten Bildern.
Nach den Tagen des Osterwunders, der Erneuerung des Bundes zwischen Gott und den Menschen, sind es diese Tage und Wochen, in denen ich nach Jesus Ausschau halte. Das tue ich, seit ich klein bin. Vielleicht stellt sich ja Jesus neben mich in der Gemüseabteilung hin, ich sehe seine Wundmale und ein Blick erklärt: Er ist es und alles wird wahr. Oder er hinter seiner Maske und ich hinter meiner. Auf alle Fälle würde ich ihm raten: «Mach bloss keine Videos für Tiktok oder so, das machen sowieso alle! Setz lieber wieder auf das Begegnen mit Einzelnen, denn das ist so wichtig für uns, ausserdem fehlt es uns sehr.» Und noch etwas würde ich ihm sagen: Wenn du kannst, komm als Frau, das können wir heute ganz anders schätzen.» So oder so ähnlich rede ich mit Jesus in diesen Tagen vor Pfingsten. Und Sie?