Überschätzt – Unterschätzt

Versuchung

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Freitag, 09. August 2024

Gott, so könnte der Mensch meinen, kann ganz schön gemein sein. Etwa, wenn er mit dem Teufel wettet, ob Hiob der Versuchung erliegen werde, ihn zu verfluchen, wenn er ihm alles nimmt, was ihm lieb und teuer ist: seinen Besitz, seine Kinder. Und ihn dann noch von schweren Krankheiten heimsuchen lässt. Hiob hielt der Versuchung stand, es blieb ihm nichts anderes als die verzweifelte Hoffnung auf eine höhere Instanz, die all diesen Plagen einen Sinn verleiht.

Geht’s um Versuchung, kommt laut Bibel stets der Satan ins Spiel. Mal ist er die Schlange im Paradies, die Adam und Eva und alle ihre Nachkommen ins Unglück stürzt. Ein anderes Mal bietet er Jesus alle irdischen Reiche an, wenn er ihn dafür anbetet. Da aber Christus’ Reich bekanntlich nicht von dieser Welt ist, kann er beim Gottessohn nichts ausrichten.

Ohne Versuchung kein Gesinnungstest. Sie ist gewissermassen die Statikerin, die Glaubensgebäude auf Erschütterungen prüft. Ohne sie könnte man Glauben gar nicht ermessen. Es ist wie beim Verhältnis zwischen Herr und Knecht: Der eine braucht den anderen, mit all den wechselseitigen Abhängigkeiten.

Ich fand es schon immer widersprüchlich, wenn ich im Vaterunser die Sentenz beten sollte: «… und führe uns nicht in Versuchung». Mir schien das Gegenteil attraktiver. Hatte Jesus doch gerade den Sünder im Blick, der von der Versuchung verführt, den Frommen vorgezogen wird, wenn er den Weg zu Gott wieder zurückfindet.

Ausserdem: Wo wären wir ohne Versuchung? Wäre Prometheus in den alten Mythen nicht der Versuchung erlegen, den Göttern das Feuer zu stehlen zum Wohl der Menschen, krabbelten wir immer noch auf der niedrigsten Zivilisationsstufe; es gäbe keinen Fortschritt. Im Wort Versuchung steckt immerhin das Wort Versuch – ein befreundeter Naturwissenschaftler witzelte neulich, Versuchung sei eigentlich nur der zusammengeschnurrte Begriff von «Versuchsanordnung».

Keine Erkenntnis ohne den Drang, Grenzen niederzureissen. Nur Versuchung gibt uns die Energie, die geordneten Bahnen zu verlassen und an neue Ufer zu gelangen. Und weil das im wirklichen Leben schwierig ist, haben wir aus Angst vor der eigenen Courage die Versuchung in unserer Alltagssprache gezähmt. Der hiobschen Bitterstoffe gänzlich beraubt, findet man ihre Anwendung vor allem im Süsswarenbereich: «(…) die zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt.» Die US-amerikanische Concept-Art-Künstlerin Jenny Holzer fertigte ein berühmtes Kunstwerk. Darauf steht nur ein einziger Satz: «Protect me, from what I want» – Bewahre mich vor dem, was ich begehre.

  • Bereit für eine Frau

    N° 7/2024

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