Im Talmud steht ein Satz, der irritiert: «Tröste den Trauernden nicht, solange noch ein Toter vor ihm liegt.» Wie das? In unserer Trauerkultur sind wir es doch eher gewohnt, den Hinterbliebenen unverzüglich zur Seite zu springen und sie mit Beileidsbezeugungen förmlich zu überschütten. Schliesslich soll sich in schmerzlichen Stunden niemand alleingelassen fühlen. Was aber, wenn der Trost der Trauer die Luft nimmt, die es braucht, um wieder Atem schöpfen zu können?
Alles hat seine Zeit. Auch jene, die der erschütterte Mensch für sich und mit sich braucht, muss er doch die Tiefe eines klaffenden Lebensbruchs ausloten, bevor er wieder die Brücke ins Leben findet. Jede Form von «fürsorglicher Belagerung» – den Begriff erfand Heinrich Böll – führt weg vom Selbst. Dass distanzloses Mitgefühl als übergriffig gesehen wird, haben auch die Kirchen verstanden. So tröstlich es auch gemeint ist.
Das Christentum hat in seiner Geschichte mit dem Vertrösten auf das Himmelreich, wo alle Plage und alles Leiden entlohnt wird, die ausbeuterischen Verhältnisse der Feudalherren theologisch legitimiert und sich dabei selbst bereichert. Eine gesunde Skepsis gegen den Trost ist also angebracht.
Wenn Trauerarbeit gelingen soll, braucht es Phasen des Rückzuges, die Räume der Stille eröffnen. Ein Ort für Gefühle, wie Gottverlassenheit, Hader, Wut oder einfach nur namenlose Verzweiflung. Das als Aussenstehende auszuhalten, ohne etwas tun zu können, ist schwer.
Wir trösten auch gegen unsere eigene Hilflosigkeit an, und weniger, um das Leiden der anderen zu lindern. Statt das Innehalten auszuhalten, texten wir den so kostbaren Augenblick zu, in dem der Tod die Menschen einander näherbringt. Wer will schon eine trostlose Figur vor dem Tod machen?
Trost ist etwas Kostbares, das oft zu billig gehandelt wird. Jemanden mit einem «Du bist nicht allein!» zu trösten kann schnell zur leeren Phrase werden. Der Trost verlangt weder Beschwichtigung noch Schönrednerei. Bei Liebeskummer, verpatzten Prüfungen und anderen Unglücksbotschaften hat man eben auch das Recht, «nicht ganz bei Trost zu sein», also gegenüber der Welt irrational zu reagieren.
Trost kann nur der Himmel schenken, der Mensch erwartet Beistand, sagte der Dichter Ludwig Börne. Als Kinder reagierten wir manchmal zornig, wenn wir mit aufgeschürften Knien plärrend zur Grossmutter liefen und sie mit «Heile, heile Gänschen»-Trostliedchen unser Leiden zu lindern versuchte. Wir waren sicher, dass sie den Ernst der Lage völlig verkennt. Die Kunst des Tröstens besteht auch darin, anzuerkennen, dass die eigenen Leiden immer die schwersten sind.
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