Als sich in seinem Körper das Coronavirus ausbreitete, fand er Trost in Calvins Prädestinationslehre, schreibt Roland Diethelm. Sie besagt, dass nur einige zum Heil bestimmt sind – alle anderen werden verdammt.
Zwei Tage vor Neujahr, wir waren in einem Chalet in den Bergen, machten sich bei einem Familienmitglied die ersten Krankheitssymptome bemerkbar. Wenig später war klar: Wir hatten uns alle mit dem Virus angesteckt. Das Warten darauf, was dieses mit unseren Körpern anrichten würde, war für mich eine ziemlich grosse Herausforderung. Die Tatsache, dass anfänglich milde Symptome nichts über den Krankheitsverlauf in der zweiten Woche aussagen, machte mich nervös.
Ich versuchte mich mit einer Risikoeinschätzung zu beruhigen. Die Kinder: nicht gefährdet. Wir Eltern, beide um die 50, Nichtraucher und mehr oder weniger fit: eigentlich auch nicht. Trotzdem fand ich keine Ruhe. Zu unberechenbar war das Virus, zu viele statistische Ausreisser – in meinem Alter und jünger – waren mir bekannt. Sie alle landeten am Ende auf der Intensivstation oder in der Reha-Klinik. Immer mehr wurde mir klar: Was uns in den kommenden Tagen erwartet, ist völlig ungewiss. Von symptomfrei bis tot schien alles möglich, ganz unabhängig davon, was wir Menschen alles über das Virus wussten.
Von der Situation, in der ich mich befand, handelt die Lehre von der «doppelten Prädestination» im Calvinismus. Sie hat Gedanken des Apostels Paulus und des Kirchenlehrers Augustinus zum Inhalt und geht davon aus, dass wir Menschen alle zur «Massa perditionis» gehören. Gemeint ist die Masse der Verderbtheit, aus der einige gerettet werden, der grosse Rest aber in die Hölle fährt. Wer zu den Auserwählten zählt und wer verdammt wird, ist bis zuletzt unsichtbar und entscheidet allein Gott. Die Wünsche von uns Menschen? Unwichtig. Alle Versuche von uns, auf irgendeine Art und Weise Einfluss auf Gott zu nehmen, führen ins Nichts, denn Gott ist nicht korrumpierbar. Seine Ehre und Freiheit sind unantastbar und somit absolut.
Zu erkennen, dass sich Gott durch nichts dazu bewegen lässt, eine schlimme Situation rückgängig zu machen, ist schwierig auszuhalten. Ebenso, dass ihn auch keine Träne von uns sich erbarmen lässt. Doch wäre es gerecht, wenn Gott denen, die am lautesten weinen, hilft?
Was bei Gott nicht funktioniert, geht in der Politik gut. Nur so lässt sich erklären, dass einige weiterhin Geld verdienen dürfen und andere nicht. Dass dies auf Kosten der Kranken und Alten geht, sagt viel über unser Land aus und hat uns der Selbstlüge überführt.
Verschwinden in einer Gesellschaft sicher- geglaubte Werte, die auch im Evangelium zu finden sind, dann müsste die Kirche als ihr Wachhund zur Stelle sein. Bedauerlich, dass letztere just in dieser Zeit stark mit sich selbst, beziehungsweise mit dem Gemeindeaufbau im Internet, beschäftigt war. Es waren Virologinnen und Virologen, die Schutzmassnahmen forderten – und sich damit für ein wichtiges Anliegen der Kirche, das Recht auf Leben, starkmachten.
Damit es zu keinem Missverständnis kommt: Ich kann als Pfarrer der gestreamten Communio bei Zoom viel abgewinnen. Damit lässt sich aber den störrischen Egoisten in diesem Land nicht beikommen. Ihnen gilt es aufzuzeigen, dass die vielen Toten nicht gottgegeben sind, sondern das Resultat einer menschgemachten Politik.
Die Kirche mit ihrer Botschaft darf deshalb nicht in den digitalen Raum flüchten und warten, bis Gott ein Zeichen schickt oder gar ihre Arbeit erledigt. Für einen gläubigen Menschen kann es keine Option sein, erst dann zu reagieren, wenn die Folgen seines Handelns nicht mehr aus eigener Kraft reparierbar sind. Und so erhielt auch ich damals kein Zeichen von Gott, an dem ich erkennen konnte, wie die Erkrankung ausgehen wird. Am Ende verlief sie mild. Wir wurden alle wieder gesund.