Überschätzt – Unterschätzt

Sünde

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Freitag, 15. Oktober 2021

Ohne Sünde würde die Kirche ihren Sinn verlieren, so wie eine Leitplanke ohne Autobahn. Das Konzept der Sünde stammt aus der Bibel (Sie wissen schon: Eva lässt sich von der Schlange dazu überreden, trotz Gottes Verbot vom Baum der Erkenntnis eine Frucht zu pflücken, woraufhin Eva und Adam aus dem Paradies vertrieben werden; eine selbstverschuldete Sünde sozusagen, welche die Beziehung zu Gott stört). Das Band der Menschheit mit Gott ist also bereits getrennt, bevor wir überhaupt eine Sünde begehen können. Mit diesem Erbe müssten wir als Nachfahren leben, wäre da nicht Jesus Christus, der mit seinem Blut all unsere Sünden tilgt – und so das Band mit Gott repariert. Nun aber gibt es ein neues Problem: Wir stecken in einer Bringschuld, denn es gilt den Liebeskredit von Jesus Christus bis ans Ende unserer Tage abzustottern.

Zeit also, die verbotene Pflückerei im Garten Eden einmal genauer anschauen. Die Princeton-Theologin Elaine Pagels hat 1991 in einem Buch die Frucht nach ihrem toxischen Gehalt untersucht. Geht es nach der Wissenschaftlerin, dann hat die Erbsünde ihre steile Kirchenkarriere dem mächtigen Augustinus von Hippo (354–430) zu verdanken. Der Kirchen­gelehrte führte lange Zeit ein lasterhaftes Leben, bis er diesem abschwor und sich obsessiv dem Furor der Sünde zuwandte. Seine Bigotterie hat bis heute grossen Anteil an der sexuellen Seelenqual und Verklemmung der westlichen Christenheit. Daran änderte auch die Reforma­­tion nichts. Der Augustinermönch Martin Luther mochte die Erbsündentheorie seines Ordensvaters nicht antasten.

Es gilt also weiterhin: Solange der Mensch lebt, sündigt er. Der christliche Glaube legt deshalb seine ganze Emphase auf die Reue. Das Skript dafür findet sich beim Evangelisten Lukas. Im Vers 15,7 spricht Jesus zu den Zöllnern, den Outcasts jener Zeit: «Ich sage euch, so wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Busse tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte.» Will heissen: Nur wer sich zu seiner Schuld bekennt, darf auf Rettung hoffen. Eine klare Ansage, die in der Vergangenheit unter Kirchenoberen hüben wie drüben nicht selten zu einer frivolen Lust auf Reue führte. So ergötzten sie sich zuerst an den eigenen Verfehlungen, um sich dann – meist nicht minder genussvoll – für diese zu geisseln. Dabei vertrauten sie wie Augustinus darauf, dass das 2000jährige Waschprogramm «Sünde» nicht nur rein wäscht, sondern auch für die Ewigkeit programmiert wurde.

Daraus ergeben sich zwei Merksätze: 1. Selbst an der Sünde versün­digt sich der Mensch. 2. Hüte dich vor den Geläuterten. Immer.

BILD: ADOBE STOCK / TONY BAGGETT

  • N° 9/2021

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