Kübra Gümüşay

Ruhe!

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Freitag, 18. August 2017

Die Wucht des tosenden Rausches unserer öffentlichen Debatten wurde mir erst im Kontrast deutlich. Als ich Mutter wurde und ein kleines Lebewesen absolute Ruhe einforderte. Und Musse.

Mein Mann und ich zogen von England zurück nach Deutschland, als auch Pegida-Märsche durch zahlreiche Städte zogen. Die politische Stimmung war aufgeladen. Und sie verschärfte sich. Auf den Sommer der deutschen Willkommenskultur, in denen grosse Teile der Bevölkerung engagiert Tausenden von Geflüchteten Zuflucht boten, auf jenen Sommer, in dem auch unser Sohn das Licht dieser Welt erblickte, folgte ein Winter der Kälte und des Misstrauens. Diese fanden in der Kölner Silvesternacht ihren ersten Höhepunkt. Geflüchtete Männer waren nunmehr in der Wahrnehmung der Lauten potenzielle Sexualstraftäter, respektlose Machos, die die deutsche Gesellschaft mit Füssen traten und über ihre Frauen herfielen. Es war, als befinde sich das Land in einem Rausch, laut und tosend.

Wie unruhig, wie laut, wie destruktiv unsere öffentlichen Diskurse waren, wurde mir erst im Kontrast deutlich. Im einen Moment sass ich vor der Kamera, in Fernsehtalkshows und diskutierte. Im nächsten sassen mein Mann und ich in unserem ruhigen Zuhause, und ich stillte unseren Sohn. Wir spielten mit Bauklötzen. Wir wechselten Windeln und warteten an seinem Bett, bis er einschlief. Zehn Minuten, zwanzig, eine ganze Stunde, manchmal gar länger. So brachte mir unser Sohn Minute für Minute, Stunde für Stunde über Monate hinweg Geduld, Ruhe, Musse und Demut bei. Werte, die ich in unseren öffentlichen Auseinandersetzungen vermisste.

Dabei braucht es gerade zu Zeiten politischer Krisen Mut zur Komplexität, Mut zur Differenziertheit, Mut zur Selbstkritik. Und vor allem: Mut zur Ruhe und Musse. Ja, in ruhigen Momenten fällt es uns leicht, besonnen zu handeln. Beispielsweise wenn der Rassismus so absurd und plump ist wie im Fall eines Pegida-Ablegers, der sich über die Kinderbilder von Nationalspielern mit Migrationshintergrund auf den Kinderschokolade-Packungen empörte und die Überfremdung beschwor. So plump, dass sich selbst Pegida von diesen Äusserungen distanzierte. In diesen Momenten ist es keine wirkliche Herausforderung, für unser Miteinander einzustehen.

Schwieriger sind Ruhe und Klarheit in der Krise. Es ist keineswegs einfach, nach den sexuellen Übergriffen der Kölner Neujahrsnacht 2016 daran zu erinnern, differenziert zu sein und nicht in jedem Nordafrikaner einen potenziellen Vergewaltiger zu sehen, oder nach einem islamistischen Terroranschlag nicht in jedem Muslim einen Terroristen zu wähnen.

Nach Ereignissen wie der Kölner Nacht Differenziertheit, Besonnenheit und Komplexität zu fordern ist denkbar undankbar. Man steht im Verdacht zu vertuschen, zu verheimlichen, abzulenken. Und: die Besonnenen stehen schnell als Spielverderber da, die den anderen die rauschhafte Stimmung vermiesen.

Dabei müssen Differenziertheit und Komplexität nicht kompliziert sein. Es ist nichts Unmögliches. Wir alle, und damit meine ich alle Kreise und Schichten dieser Gesellschaft, sind in der Lage zu differenzieren – unabhängig vom Bildungshintergrund. Denn die Gabe zu differenzieren hat weniger mit der formalen Bildung als mit der Bildung der Herzen zu tun. Mit der Fähigkeit, Empathie zu entwickeln. Dem anderen Menschen, egal wie fremd er einem erscheinen mag, die Menschlichkeit zuzugestehen: also Komplexität, aber auch Fehler und Makel.

Denn egal, welche Klarheit und Eindeutigkeit die Debatten im Rausch der Angst vorzugeben scheinen: die Welt ist es nicht. Unsere Gesellschaft ist komplex. Die Musse, die Ruhe, die Demut und die Geduld, so lehrte mich die Mutterschaft, lassen es zu, Zwischentöne zu hören.

  • N° 14/2017

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