Als ich noch studierte, war ich naiv und voller Hoffnung und arbeitete für die Zeitung. Ich betreute ein Kulturmagazin, das nebst Horoskop und Kinoprogramm auch eine Reportage beinhaltete, für die ich mich beispielsweise mit dem Weinbaubeauftragten zur Jahrgangsverkostung traf, um dann angeschickert ins Büro zurückzutorkeln.
Eines Tages hatte ich eine verhängnisvolle Idee für unser Magazin: einen Literaturwettbewerb. Die Redaktion reagierte skeptisch: Wer soll denn da mitmachen? «Also, ich würde da sofort mitmachen», hielt ich entgegen. Ich wollte damals schon Schriftsteller werden, und so ein Wettbewerb war für mich das Grösste. Es war entschieden. Als Preis winkte ein Abdruck in unserem Kulturmagazin. Das sollte Ansporn genug sein.
Wir wollten den Wettbewerb einen Monat vor dem Erscheinen des nächsten Hefts ausschreiben, damit auch genug Texte hereinkämen, woran ich nicht den geringsten Zweifel hegte. Tatsächlich traf auch beinahe sofort die erste Geschichte ein. Sie stammte von einer älteren Dame aus dem Thurgau und handelte von den bunten Abenteuern eines Katers. Der schafft es wohl kaum in die engere Auswahl, schmunzelte ich. Danach kam – nichts mehr. Der Text der Dame aus dem Thurgau blieb die einzige Einsendung.
Drei Texte sollten in der Gewinnerausgabe veröffentlicht werden. Am Ende war ich so verzweifelt, dass ich eine Bekannte mit Müh und Not überredete, einen Text zu schreiben. Den dritten steuerte ich selber bei. Mein Pseudonym lautete Klaus Stamm. Nachdem die Texte erschienen waren, erhielt ich eine E-Mail von der Dame aus dem Thurgau, in der sie mich um die Adresse von Herrn Stamm bat. Sie wollte ihn und meine Bekannte zum Gewinneressen einladen. Ich schrieb, Herr Stamm wolle unentdeckt bleiben, und schickte in seinem Namen beste Grüsse in den Thurgau.
Die Geschichte war mir unglaublich peinlich und ich verdrängte sie sofort. Neulich aber ist sie mir wieder in den Sinn gekommen. Ich las in der «ZEIT» einen Artikel von Ronya Othmann und Juliane Liebert, in dem die beiden Autorinnen über ihre Erfahrungen in der Jury eines internationalen Literaturpreises berichteten.
In der Diskussion mussten sie feststellen, dass nicht die besten Bücher in die engere Auswahl kamen, sondern jene, die am besten zur Weltanschauung der Juroren passten. So wurde das Werk einer weissen französischen Autorin aussortiert, um Platz für eine schwarze zu schaffen. Und der Roman von Peter Nadas, der von allen als Meisterwerk bezeichnet wurde, flog ebenfalls raus, da er nun einmal ein alter weisser Mann ist und zudem ein Kritikerliebling. Die Debatte gipfelte in der Aussage eines Jurors: «Sorry, ich liebe Literatur, aber Politik ist wichtiger.»
Othmann und Liebert wurden für ihren Artikel scharf angegriffen. Denn sie haben etwas geschafft, was heutzutage gar nicht mehr so leicht ist: Sie haben ein Tabu gebrochen. Sie haben über die Hintergründe einer Preisverleihung berichtet.
Aus irgendeinem Grund hält sich hartnäckig der Gedanke, dass wir tatsächlich das beste Buch, den grossartigsten Film, das hochwertigste Kunstwerk vor uns haben. In Wahrheit ist Qualität immer nur ein Sekundärmerkmal. Oder wie es der Juror ausgedrückt hat: Politik ist wichtiger. Oder es triumphiert der Zeitgeist. Oder die Frauenquote. Oder die Rückkehr des Mannes. Oder es hat niemand mitgemacht wie im Falle meines dilettantischen Wettbewerbs.
Vor Jahren habe ich mit einem Theaterstück den Heidelberger Stückemarkt gewonnen. Kurz vor dem Festival habe ich mir beim Skifahren die Hüfte gebrochen, weshalb ich mich an Krücken durchs Theater schleppte. Bis zum heutigen Tag habe ich den Verdacht, dass ich den Preis nicht für mein Drama, sondern für meinen dramatischen Auftritt erhalten habe. Das schmälerte aber meine Freude nicht. Wie auch der Triumph der Dame aus dem Thurgau nicht durch seine Hintergründe ge- schmälert werden sollte.
Wer gewinnt, hat immer recht. Wir sollten uns bei solchen Preisen nur bewusst sein: Was wir in den Händen halten, ist vermutlich nicht die Krone der Kultur, sondern eine Notlösung.