Roland Diethelm

Plädoyer für die katholische Kirche

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Freitag, 06. November 2020

Wo ich aufgewachsen bin, gab es keinen Grund und Anlass, sich für den evangelischen Glauben zu schämen. Er weitete die provinzielle Weltsicht, provozierte die bürgerliche Behaglichkeit und über­wand menschlich-allzumenschliche Gräben und Ressentiments, wie sie in einem Dorf über Generationen wachsen.

Die evangelische Kirche bildete eine menschheitliche Avantgarde bei der Überwindung kolonialer Denkmuster und der Erkämpfung gleicher Rechte für Frauen und Homosexuelle in der Gesellschaft.

Man konnte den evangelischen Glauben an derselben Universität studieren, wo auch Naturwissenschaften getrieben und Geschichte, Literatur und Kulturen von luziden Geistern erforscht wurden. Man konnte in der Wissenschaft vom Glauben doktorieren und sich habilitieren. Und der Beruf des Pfarrers, ein Diener am göttlichen Wort, hatte das Renommee eines Gymnasiallehrers und Hausarztes.

Vielleicht idealisiere ich meine religiöse Heimat – das Mitteleuropa um die Zeitenwende des Mauerfalls. Helle Köpfe bedauerten damals die intellektuelle Anspruchslosigkeit der Predigten und litten unter der Harmlosigkeit der institutionellen Religion. Manches war damals schon bieder, selbstgerecht und moralin­sauer. Aber insgesamt schien mir der evangelische Glaube die Fackel der Aufklärung in einer nebligen und verschlafenen Welt zu sein.

Ich war stolz auf die Geistesgeschichte der reformierten Theologie. Der Glaubenssatz, dass Gott grösser sei als das Weltbild der Menschen, auch dasjenige seiner Anhänger und Verkündiger, öffnete unser Menschenbild, konnte Veränderung auch theologisch würdigen. «Finitum non capax infiniti: das Endliche kann das Ewige nicht fassen.» Und der «dritte Gebrauch des Gesetzes», eine spezifisch reformierte Auslegung der Zehn Gebote und der ganzen Thora, besagt, dass unsere menschliche Ordnung sich am göttlichen Willen auszurichten und die Kirchen sich politisch zu engagieren haben. Für die Rechtlosen und Armen. Für den Schutz der Tiere und des Lebens­raums. So wie Gott der Schöpfer und Befreier es an den Israeliten vorgemacht hat. Soziale Gerechtigkeit ist kein «rein weltlich Ding».

Heute sorge ich mich um die Zukunft meiner Konfession. Was ist geschehen, wenn die selbsternannte Pastorin Paula White mit ihrem Wohlstandsevangelium den amtierenden Präsidenten der USA als Messias segnet und seine Gegner unter den Bann Gottes stellt? Wenn der Sohn des Fernsehpredigers Billy Graham diesen Präsidenten einen Kyros – die Lichtfigur des persi­­schen Grosskönigs und Befreiers der Juden aus dem babylonischen Exil – unserer Tage nennt?

Wenn sich Anhänger einer unverhohlen rassistischen und gewalttätigen weissen Vorherrschaft, der «White Supremacy», auf die biblische Landnahme und den Glauben ihrer puritanischen Vorfahren berufen, sich in «God’s Own Country» wähnen und ihr Land von Farbigen und Nichtchristen reinigen wollen? Wenn Prediger von Mega-Churches, die aus reformatorischen Kirchen hervorgegangen sind, zu Präsidenten von Ländern wie Mexiko oder Brasilien gewählt werden und dabei ihre Bevölkerung zynisch dem Virus überlassen, nur um ihre natürlichen Ressourcen zu verschleudern und die reiche Klientel bei Laune zu halten?

Wenn die Basis der evangelikalen Kirchen den Verschwörungstheorien wie QAnon anheim­­zu­fallen scheint und anstatt Gott nur noch ihre eigene Verblödung zu offenbaren gedenkt? Angesichts dieser pervertierten Versatzstücke eines evangelischen Glaubens wünsche ich mir sogar die biedere Frage der Evangelikalen meiner Jugendzeit zurück: «Was würde Jesus tun?»

In dieser Situation also setze ich beinahe verzweifelt auf eine starke römisch-katholische Kirche: Trotz ihrem Schneckentempo in Sachen Moderni­sierung und Öffnung bleibt sie standhaft und fällt nicht in den theologischen Abgrund der Evangelikalen. Mehr noch, sie verteidigt die Theologie des Kreuzes – und somit das Zentrum des christlichen Glaubens.

  • N° 13/2020

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