Überschätzt – Unterschätzt

Nächstenliebe

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Mittwoch, 15. März 2023

Wenn man jüngere Leute fragt, was sie unter einem Samariter verstehen, antworten sie inzwischen immer öfter: «Das sind die Notfallsanitäter, die mit ihren Rettungsfahrzeugen Menschen ins Krankenhaus transportieren.» Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter dagegen kennen sie nicht. Das ist ihnen aber auch nicht zu verdenken, denn sie leben in einem System, in dem die Hilfe für den Nächsten in Not professionell organisiert ist und klaren logistischen Abläufen folgt. Wenn wir unter die Räuber gefallen sind und verletzt am Wegesrand liegen, sind wir nicht mehr wie vor 2000 Jahren auf die Barmherzigkeit eines zufällig daherkommenden Fremden angewiesen, der uns medizinisch erstversorgt.

Hand aufs Herz, wir zücken doch lieber unser Mobiltelefon und wählen den Notruf, als dass wir uns über eine hilf­lose Person beugen, um an ihr eine Herz­druckmassage durchzuführen. Je besser die ­soziale und medizinische Versorgung ist, desto mehr delegieren wir unsere christliche Pflicht an ein Servicepersonal. Dieses halten wir für allein zuständig, weil dort Fachkräfte arbeiten, die dafür ­ausgebildet sind.

Dass man sich lieber entfernt, statt zu helfen, war wohl schon zu biblischen Zeiten bekannt. Wenn sich Altruismus damals noch von selbst verstanden hätte, hätte es keine Gebote gebraucht, die die Empathie für Hilfesuchende anordnet. Wo die Liebe nicht hinreicht, muss eben ein Gesetz her, vor dem man sich fürchtet. Den Zorn Gottes auf sich zu richten, kann man sich nicht leisten.

«Was ihr dem geringsten meiner ­Brüder getan habt, das habt ihr auch mir getan.» – Ein radikaler Satz, den Jesus in seiner Endzeitrede (Mt. 25,40) spricht. Da definiert er klar, wer der Nächste ist. Dieser gehört eben gerade nicht zu unseren Vertrauten, die uns nahestehen und um die wir uns ohnehin kümmern. Es sind die, die kein soziales Netz auffängt und die in einem gewissen Moment nur wir retten können. Das ist ein Los, das wir tragen müssen.

Eine Nächstenliebe, die uns nicht über unseren Schatten springen lässt, ist nichts wert. Wenn mit glamourösen ­Charity-Galaveranstaltungen reicher Eliten für soziale Einrichtungen gesammelt wird, mag das eine gute Sache sein. Aber der Ruch einer Ablasszahlung für ein ­gutes Gewissen bleibt. Wir können uns nicht freikaufen von der vorurteilslosen Begegnung mit Menschen, auch wenn sie uns mit ihrem Hilfebedürfnis womöglich überfordern. Dass ausgerechnet ein Aussenseiter am christlichsten gehandelt hat, macht das Gleichnis so revolutionär. Der Samariter half nicht, um jemandem zu gefallen. Auch deshalb fand Jesus ­Gefallen an ihm.

  • N° 1/2023

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