Linder liest

It’s The Final Countdown

Unser Kolumnist schreibt über das Glück, hin und wieder auch mal ein anderer sein zu können.
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Autor: Lukas Linder
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 10. Februar 2023

In der Pubertät träumte ich davon, Sänger in einer Band zu sein. Dabei würde ich die Massen nicht nur mit meinen Leistungen am Mikrofon begeistern, sondern auch alle Instrumentensoli selber spielen. Und das, wohlgemerkt, obwohl ich abgesehen von der unseligen Blockflöte nie ein Instrument zu spielen gelernt hatte. Vermutlich sind es Überreste der magischen Welt unserer Kindheit, dass wir bis zu einem gewissen Alter den Unterschied zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein möchten, nicht als unüberwindliche Hürde empfinden. Ich habe nie wieder so virtuos Bachs Goldberg-Variationen gespielt wie in den Träumen meiner Jugend. Wobei es, um ehrlich zu sein, wohl eher die nervtötende Melodie von Europes «The Final Countdown» gewesen sein dürfte, die ich in meiner schlecht unterrichteten Phantasie jeweils auf der Trompete intonierte, bis ich herausfand, dass es sich um ein Keyboard handelte. Schlechte Informationen machen gute Träume.

Später fand ich zu mehr Realitätssinn und begann mir eine Identität zu suchen, die zu meinen tatsächlichen Fähigkeiten passte. Nach einem gnadenlosen Ausschlussverfahren kam ich zum Schluss, dass ich Schriftsteller werden wollte. Also wurde ich Schriftsteller. Ende der Geschichte. Doch bin ich erst 38. Sofern ich morgen nicht vor die Hunde gehe, was zum Teufel mache ich bis zum Ende meines Lebens?

Anfang Januar las ich in der « NZZ » die folgende Aus­­sage des österreichischen Philosophen Robert Pfaller: «Wir wollen nichts werden und verabscheuen Ideale als etwas ‹Normierendes›, denn wir wollen ganz wir selbst sein.» Früher hätten die Menschen eine Vorstellung von sich gehabt, die sie in der Zukunft erreichen wollten. Diese habe sie gegen so manche Widrigkeiten der Gegenwart imprägniert, denn morgen würde ja ohnehin alles besser sein, so die Idee. Durch den grassierenden Authentizitätsdruck, so Pfaller, würden wir nicht nur überempfindlich, es fehle uns auch jene erleichternde Freiheit, die mit dem Gedanken einhergeht, auch mal ­jemand anderer sein zu können. Anfang Jahr, da das Ich jeweils besonders unangenehm an mir klebt, leuchtete mir die Aussage ­sofort ein. Und ich sehnte mich nach ­einer Zeit zurück, als alles etwas Spielerisches war.

Das Gebot der Stunde lautet «Ich bin Ich». Wie beklemmend das ist, weiss jeder, der in einer unangenehmen Situation damit angefangen hat, sich selber von aussen zu beobachten – beispielsweise auf einer Party mit Fachleuten aus der Musikbranche, die einen stirnrunzelnd darauf hinweisen, dass es bei «The Final Countdown» keine Trompete gibt. Dabei entsteht das tonnenschwere Gefühl, dass in diesem Raum etwas zu viel vorhanden ist, und dieses Zuviel bin leider ich.

Laut Pfaller ist es symptomatisch für unsere Zeit, dass sich Menschen als ganze Person peinlich fühlen oder Angst haben, als solche wahrgenommen zu werden. Dank ­Facebook, Instagram und Tiktok ist unser Selbst bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet, und deshalb fehlt es uns an Fluchtwegen. Wir haben ständig Angst, nicht zu genügen, eben weil wir immer der sein müssen, der wir sind. Dabei ist es gerade der Traum von uns als besserer, klügerer, anständigerer Mensch, der uns zu diesem macht. Ohne diese Vorstellung, ohne ihre Möglichkeit in unserem Leben, versauern wir in unserer eigenen Idiotie. Und jeder Mensch ist ein Idiot – sofern er sich das Träumen abgewöhnt. Ich glaube, ich werde mir mal wieder die alten Lieder vornehmen. Vielleicht wage ich mich dieses Mal ja an die Goldberg-Variationen.

  • N° 1/2023

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