Sibylle Lewitscharoff

In schuldbehafteten Zeiten hilft nur Lyrik – und die Hoffnung auf ein Paradies

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Freitag, 10. Januar 2020

Wer heute isst und trinkt, also existiert, macht die Welt kaputt. In diesen schuldbehafteten Zeiten können nur Lyrik und die Hoffnung aufs Paradies helfen, schreibt Sibylle Lewitscharoff.

Bietet es was, das neue Jahr? Das tut es gewiss. Aber was? Das alte Jahr ist jetzt verrauscht. Die Reste der Silvesterböller sind weggekehrt, zumindest in Zürich, Basel, Bern und Genf – in Berlin dauert so etwas erheblich länger. Nicht mit frischer, heiterer Zuversicht blicken die meisten Menschen in die Zukunft, man kann die Falten erahnen, die sich auf ihren Stirnen bilden, fragt man sie nach dem, was ihnen womöglich blüht.

Man weiss zu viel, erfährt ständig, welche Katastrophe wo lauert. Australiens Feuerbrünste fegen auch hier über die Bildschirme. Hinter allem, was man kauft, isst, trinkt, verbraucht, lauert der Tod, will heissen, ein kleines Stück Welt geht zugrunde, an dem wir irgendwie schuld sind. Unser nicht allzu genau definiertes Schuldkonto schwillt unaufhörlich an. Im Grunde dürften wir der Erde zuliebe gar nicht existieren.

Das wäre ja vielleicht leichter zu ertragen, wenn uns in den Kirchen schwunghafte Erzählungen geboten würden, die vom wundersamen Aufleben nach dem Tod im himmlischen Gefilde erzählten, von einer entzückten, flirrenden neuen Seinskomposition, erfüllt von verständigem Geist, getragen von humorvoller, verständnisinniger Liebe. Auf einer Brandmauer in Berlin steht: Sei ein Realist! Fordere das Unmögliche! Ein schöner Satz, behaucht von einem spielerischen Kommunismus, in dem die Paradieshoffnung flackert.

Andere, eher paradiesverscheuchende Hauche fange ich gerade in einem Buch ein, das von einem verrückten Mann geschrieben worden ist. Er hiess Ludwig Zollitsch und veröffentlichte 1974 im Eigenverlag das unsterbliche Werk «Der ‹Kapitalist›‚ Gott». Allein die Zeichensetzung kann in einem lesenden Hirn Turbulenzen erzeugen. Da steht nun auf Seite 131: «Du hörst das Hauchen des Gehetzten.

Als Hantke klein, als Heilandlein, huscht er in Sein Heim hinein; der heil’ge Klaus, der Heiden Graus, haut ihn hart hinaus. Hemdenmatz und Hampelmann, hat nun nichts, was helfen kann; ein heikler Fisch, hockt heuchlerisch er heimlich unterm Tisch.» Ob in «Hantke» Peter Handke gemeint sein soll oder von einem wirkungslosen Handkantenschlag gegen die böse Welt die Rede ist, kann ich leider nicht entschlüsseln. Es wird in dem Buch auch viel von Feuer und entwichenen Flüssigkeiten gehandelt. Das Feuer zehrt, das Flüssige wehrt, gelobt wird definitiv nicht Jesus Christus, jedoch der Kommunismus.

Nun, ich wollte Ihnen die Schrift nicht unbedingt zur Lektüre empfehlen. In mir erwecken derart verschrobene Untergangsphantasien Heiterkeit, sie lenken so schön ab von wirklicher Angst. Es wäre aber noch besser und vor allem noch schöner, man hörte in den Kirchen keine windelweichen Predigten, getragen von einer Alltagssprache, die am Boden kleben bleibt, weil kein Aufflugwindchen sie in höhere Sphären trägt.

Vielleicht sollte man hin und wieder Gedichte in die Predigten einbauen. Es gibt sie, die guten, durchaus auch bei den modernen Lyrikern, die man nicht als zwingend religiös bezeichnen kann. Es sei Ihnen der Anfang eines solchen ausgefolgt, es stammt von Szilárd Borbély, einem ungarischen Dichter, der sich – Gott sei’s geklagt – leider selbst tötete. Hinzugefügt sei aber: Der Mann war nicht verrückt, er litt vielmehr darunter, dass seine Mutter bei einem Raubüberfall grausam erschlagen worden war und der Vater nur schwer verletzt überlebte. Das Gedicht ist überschrieben mit «Stephansdom». «Wie mag es vor zweihundert Jahren in dieser / gewaltigen Kathedrale gewesen sein, als es noch / keine Lautsprecher gab?

Das Klingeln / des Glöckchens kam von oben irgendwo / und die Orgeltöne aus den Steinen. Und langsam / erhob sich von unten eine Stimme: Dominus / vobiscum! Dann sank sie immer / tiefer. Wie heute abend hier / das Gewand des Diakons, blutrot. Die heutige / Messe widmen wir dem Seelenheil / unserer Schwester Maria Todt, sagt er / und spricht den Namen vorsichtig aus …» Man unterstelle mir jetzt aber bitte nicht, dass ich katholisch sei. Ich bin evangelisch getauft und halte meiner Kirche die Treue.

  • N° 1/2020

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