Der Mensch wird wählerischer über die Jahre. Ganz einfach deshalb, weil er mit zunehmender Lebenszeit mehr Gelegenheiten hat, sich in banalen, aber auch wichtigen Dingen festzulegen.
Zu den eher simplen Entscheidungen gehört etwa der Beschluss einer Bekannten, jeden Morgen nach dem Aufstehen zuallererst die Butter aus dem Kühlschrank zu holen, damit sie bis zum Frühstück streichzart ist.
Sie tut das, weil sie sich im Lauf der Zeit kennengelernt hat und von sich weiss, dass sie streichzarte Butter liebt. So entstehen nach und nach unverzichtbare Gewohnheiten, die nach aussen «eigen» erscheinen – aber es sind genau diese eigentümlichen Entscheidungen, die uns menschlich machen. Und einzigartig. Sie sind es, die uns und unsere Geschichte ausmachen.
Der Alltagsphilosoph Alain de Botton meinte einst, Menschen sollten sich beim ersten Date nicht von ihrer besten Seite zeigen, sondern sich gegenseitig ihre Eigenheiten verraten: «How are you crazy? I am crazy like this.» Ich frage mich oft, ob unsere Beziehungen nicht besser wären, wenn wir wüssten, was die Eigenarten der Menschen sind, die wir in unser Leben lassen und deren Leben wir betreten.
Wenn wir verstehen würden, weshalb das Gegenüber so speziell, so kompliziert ist. Womöglich wären wir fairer, womöglich wären wir behutsamer, womöglich wären wir glücklicher, wenn wir den Menschen, die uns gefallen, nicht mit unseren Visitenkarten, den geraden Lebensläufen und unserer polierten Online-Präsenz, sondern mit den Unebenheiten darunter begegnen würden.
Lange war ich kein sonderlich wählerischer Mensch, wenn es um meinen Freundeskreis ging. Hauptsache, bunt und vielfältig. Je diverser er war, umso heimischer fühlte ich mich darin. Ich fand, meine Freundinnen und Freunde sollten mir nur in einer Eigenschaft ähnlich sein: in der Neugier auf die anderen. Mit den Jahren kam die Diskussionsfreude hinzu – sie erschien mir unverzichtbar. Es kam mir nicht darauf an, ob meine Freunde meine Meinung teilten, sondern vielmehr, dass sie interessiert daran waren, ihre Position zu diskutieren. Einige Zeit später folgten die Augen.
Ich fand, die Menschen um mich herum sollten ein Leuchten im Blick haben. Denn das Wache, die Präsenz, zieht mich zu Menschen hin. Im letzten Jahr, das mich politisch sehr aufwühlte, kam für mich eine ganz neue Kategorie hinzu. Ich habe angefangen, Menschen nach ihren Herzen auszuwählen. Neben Vielfalt, Neugier, Diskussionsfreude und leuchtenden Augen erscheint mir nun ein gutes Herz unverzichtbar, um eine Freundschaft einzugehen. Was aber ist ein gutes Herz? Letzten Endes weiss das Gott allein, müsste ich als glaubender Mensch antworten. Doch wenn es gänzlich subjektiv sein darf: Ich finde, im Grunde sind alle Herzen gut. Aber es gibt kranke, schwache, verwundete und gebrochene Herzen, um deren Heilung sich die Trägerin, der Träger nicht mehr bemüht. Es sind vernachlässigte Herzen, die so lange nicht gehört werden, bis sie geschwächt sind und ganz verstummen.
Menschen mit guten Herzen sind demnach letztlich jene, die sich um das Wohl ihres Herzens bemühen – die auf ihr Herz horchen, die es fühlen und pflegen. Als ich im letzten Jahr damit anfing, auf mein eigenes Herz zu hören und mich an ihm zu orientieren, erlebte ich auch bei den Menschen um mich herum eine neue Offenheit: Sie zeigten ihre Verwundbarkeit und begegneten mir mit Herzlichkeit. Ich fragte mich: Wie sähe eine Gesellschaft aus, in der die Herzen der Menschen im Zentrum stehen? Ist das Herz nicht der Ort, von dem viele Religionen sagen, dass die Seele darin ruht?
Dass ich auf mein Herz achtete, half mir durch das letzte Jahr. Manchmal, in all dem politischen Tamtam, dem Getöse, hörte ich genau hin und schaute mich um. Ich erkannte hinter dem Lärm schwache, kaputte und auch dunkle, sehr dunkle Herzen. Das half mir, das Getöse als das Symptom kranker Herzen zu verstehen. Der Lärm wurde dadurch leiser. Ich war dankbar für alle guten Herzen, denen ich Platz in meinem Leben gewährt hatte. Ich war dankbar für meine Wahl.