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Mein Grossvater ist kurz nach seinem neunzigsten Geburtstag gestorben. Von allen, die ihn kannten, war er selbst wohl am meisten erstaunt darüber. Denn mittels eines ausgeklügelten Systems, bei dem Teile der Quantenphysik und der tägliche Birchermüsliverzehr eine wichtige Rolle spielten, hatte er ausgerechnet, dass er mit 102 Jahren sterben würde. Gleich um zwölf Jahre hatte er sich verrechnet, was für ihn als Lehrer besonders bitter gewesen sein muss. Nun sind diese zwölf Jahre vergangen und auch meine Grossmutter ist gestorben. Als ich nach ihrem Tod noch einmal ihr Zimmer im Pflegeheim aufsuchte, um mit den anderen Verwandten ihre Sachen aufzuteilen, war ich überrascht, wie wenig am Ende vom Leben meiner Grosseltern geblieben war.
Gerade mein Grossvater war ein leidenschaftlicher Sammler gewesen, der an keinem Blumenfeld vorübergehen konnte, ohne sogleich mit Botanisieren anzufangen. Wo waren die Briefmarken, Münzen, Bücher, Fotos und Erinnerungen? Wo war der T-Rex, den ich mit meinem Grossvater gebastelt hatte und der mit dem Original bestenfalls die Farbe gemeinsam hatte? Es schien, als hätten sich all diese Sachen gemeinsam mit ihren Besitzern aus dem Staub gemacht.
Allerdings fand ich in einem Schrank ein paar alte Schallplatten. Auf einer stand in der gestochenen Sütterlin-Schrift meines Grossvaters: Gesang der Nachtigall. Und ich erinnerte mich an die Geschichte, wie Grossvater Anfang der sechziger Jahre Verlängerungskabel durch das ganze Dorf gezogen hatte, um am Rheinufer den Gesang einer Nachtigall aufzunehmen, was ihm endgültig den Ruf eines Exzentrikers eingetragen hatte. Ich hatte mir die schwere Schellackplatte noch nie angehört, jetzt aber beschloss ich, sie mit nach Hause zu nehmen. Erst dort kam mir in den Sinn, dass mein Plattenspieler schon seit langem nicht mehr einsatzbereit war, da ich es irgendwie nie fertigbrachte, eine neue Nadel zu besorgen.
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