Linder liest

Gesang der Nachtigall

Unser Kolumnist stöbert in den Sachen seiner Grosseltern. Und findet dabei eine Platte, die ihn an die Vergänglichkeit des Lebens erinnert.
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Autor: Lukas Linder
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 26. Mai 2023

Mein Grossvater ist kurz nach seinem neunzigsten Geburtstag gestorben. Von allen, die ihn kannten, war er selbst wohl am meisten erstaunt darüber. Denn mittels eines ausgeklügelten Systems, bei dem Teile der Quantenphysik und der tägliche Birchermüsliverzehr eine wichtige Rolle spielten, hatte er ausgerechnet, dass er mit 102 Jahren sterben würde. Gleich um zwölf Jahre hatte er sich verrechnet, was für ihn als Lehrer besonders bitter gewesen sein muss. Nun sind diese zwölf Jahre vergangen und auch meine Grossmutter ist gestorben. Als ich nach ihrem Tod noch einmal ihr Zimmer im Pflegeheim aufsuchte, um mit den anderen Verwandten ihre Sachen aufzuteilen, war ich überrascht, wie wenig am Ende vom Leben meiner Grosseltern geblieben war.

Gerade mein Grossvater war ein leidenschaftlicher Sammler gewesen, der an keinem Blumenfeld vorübergehen konnte, ohne sogleich mit Botanisieren anzufangen. Wo waren die Briefmarken, Münzen, Bücher, Fotos und Erinnerungen? Wo war der T-Rex, den ich mit meinem Grossvater gebastelt hatte und der mit dem Original bestenfalls die Farbe gemeinsam hatte? Es schien, als hätten sich all diese Sachen gemeinsam mit ihren Besitzern aus dem Staub gemacht.

Allerdings fand ich in einem Schrank ein paar alte Schallplatten. Auf einer stand in der gestochenen Sütterlin-Schrift meines Grossvaters: Gesang der Nachtigall. Und ich erinnerte mich an die Geschichte, wie Grossvater Anfang der sechziger Jahre Verlängerungskabel durch das ganze Dorf gezogen hatte, um am Rheinufer den Gesang einer Nachtigall aufzunehmen, was ihm endgültig den Ruf eines Exzentrikers eingetragen hatte. Ich hatte mir die schwere Schellackplatte noch nie angehört, jetzt aber beschloss ich, sie mit nach Hause zu nehmen. Erst dort kam mir in den Sinn, dass mein Plattenspieler schon seit langem nicht mehr einsatzbereit war, da ich es irgendwie nie fertigbrachte, eine neue Nadel zu besorgen.

Ich legte die Platte mit dem Gesang der Nachtigall neben das Abspielgerät, und dort wäre sie vermutlich bis zu meinem eigenen Ableben liegengeblieben, wenn ich ein paar Wochen später nicht in der «NZZ» auf einen Artikel gestossen wäre. Es ging darum, wie sich der Gesang der Vögel verändert hat. So fangen sie in der Stadt wegen der konstanten Beleuchtung immer früher an zu singen, während sie es auf dem Land teilweise überhaupt nicht mehr tun, da gerade in Agrargebieten ganze Populationen einer Art eingebrochen sind. Auch die Qualität des Vortrags hat sich verändert. So singen Vögel in der Stadt schriller und monotoner. Die andauernde Lärmbeschallung führt dazu, dass sie sich oft nur noch auf eine Strophe beschränken. Ausserdem wurde beobachtet, dass Jungvögel den Gesang nur noch fehlerhaft lernen. Es wächst also eine Generation von Dilettanten-Vögeln heran, die ihre Gedanken in kurzen, schrillen und fehlerhaften Posts veräussern. Beim Lesen stellte ich mir vor, wie Kulturpessimisten hier hämische Analogien ziehen. Ich aber war nur melancholisch. Und so dachte ich wieder an das Leben meiner Grosseltern, an ihr Haus, in dem alle Dinge von einer Aura der Sorgfältigkeit umgeben waren. Die Bücher waren in Schutzfolie eingefasst und meist noch mit einem selbstgestalteten Exlibris versehen. Für die Briefmarken gab es ein Verzeichnis, das die Nachkommen darüber aufklärte, was für Schätze sie in den Händen hielten. Alles war für die Ewigkeit gedacht und ist mittlerweile genauso verschwunden wie meine Grosseltern oder der Gesang der Nachtigall, der in dieser Form, so sagte ich mir, vielleicht nur noch auf der Schellackplatte meines Grossvaters existiert. Also kaufte ich mir eine neue Nadel, und eines Abends spielte ich die Platte ab.

Erst ertönt ein Rauschen, von dem man nicht weiss, ob das die Platte ist oder der Rhein, der im Hintergrund vorbeifliesst. Das Rauschen dauert eine Weile, während der noch einmal all die echten Marken und falschen Pelzmäntel, die Katzenbilder und Rosenthal-Tassen und Fila-Sportschuhe und der merkwürdigste T-Rex der Welt an mir vorbeiziehen, bevor die Nachtigall zu singen anhebt.

  • N° 4/2023

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