Ich habe eine schockierende Nachricht für Sie: Ich habe heute Fleisch gegessen. Ein paniertes Schnitzel. SCHWEINSSCHNITZEL. Und danach Kuchen. SCHOKOKUCHEN. Doch bevor Sie mich auspeitschen, sollten Sie wissen, dass ich es nicht freiwillig getan habe. Ich war bei meiner Schwiegermutter zum Essen eingeladen. Die gute Kinderstube gebietet mir zu essen, was auf den Tisch kommt, selbst wenn es sich um mein Todesurteil handelt. Tatsächlich zog ich während der Mahlzeit die Jahre von meinem Lebenserwartungskonto ab. 89, 88, 87 – «Nimmst du noch einen Schnaps?» – 77, 76 …
In einer besseren Welt – und gebe Gott, dass sie bald kommt – würde man meine Schwiegermutter für ein solches Mittagessen verhaften. «Tag, Frau Wasik, dürfen wir fragen, worin Sie diese Schnitzel gebraten haben? Schweineschmalz? Mitkommen.»
Eine verantwortungsbewusste Mahlzeit, so konnte ich neulich in einem «NZZ»-Artikel lesen, sieht heute folgendermassen aus: Zum Frühstück gibt es einen Teller Broccoli, nachmittags eine Flasche Sauerstoff und eine Handvoll Heidelbeeren, und abends geniessen wir einen Teller Zwiebel-Bohnen-Eintopf, garniert mit Mikronährstoffen für die Darmgesundheit. Longevity – Langlebigkeit – lautet dieser Trend, bei dem es nicht um Genuss geht, sondern darum, möglichst lange möglichst gesund zu leben. Schliesslich werden die Menschen ja immer älter. Da wollen sie auch möglichst viel davon haben: Fallschirmspringen, Safari, Bergbesteigungen. Die Menschen, so scheint es, werden erst im hohen Alter so richtig vital.
Dass all dieser hochbetagte Aktionismus nur mit entsprechenden finanziellen Rücklagen möglich ist, zeigt, dass Wohlstand nicht nur ein Start-, sondern auch ein Endvorteil ist. Von wegen, im Alter seien wir alle gleich. Die Schere geht erst dann zu, wenn wir alle tot sind. Kein Wunder, wollen Superreiche wie Jeff Bezos ihn abschaffen.
Gleichzeitig muten Städte wie Zürich heutzutage wie gigantische Fresstempel an, in denen die Takeaways, Food-Corners und Pop-ups wie Pilze aus dem Boden schiessen. Wer soll das alles essen? frage ich mich immer, wenn ich mit meinem Traktor vom Land in die Stadt fahre. Sind all diese Gourmet-Burger, Fried Chicken, Bratwürste und Rindsfilets nur das letzte Aufbäumen vor den rettenden Aminosäuren, oder erwarten die Menschen vielleicht doch mehr von einem Mittagsmenu als eine Flasche Sauerstoff? Ist Genuss ein genuin menschliches Bedürfnis?
Ich muss an meinen Grossvater denken, der immer behauptet hat, die Billigschokolade von Aldi sei auch die beste. Wie er seine Sparsamkeit kann man vermutlich auch den Kampf für die Gesundheit geniessen. Und doch stellt sich mir noch eine andere Frage: Wenn hohes Alter vom Glücksfall zum Leistungsziel wird, wie gehen wir damit um, wenn Menschen trotz allem in jungen Jahren sterben? Denn auch das ist ein Fakt: Immer mehr Menschen, so konnte man in diesen Tagen lesen, erkranken bereits mit Anfang vierzig an Krebs. Und dann war da diese Nachricht von dem Marathonläufer, der vollkommen überraschend an einem Herzstillstand verstarb.
Wenn Langlebigkeit zum höchsten Zweck unseres Daseins erklärt wird, gelten solche Fälle bald nicht mehr als tragische Schicksalsschläge, sondern als Betriebsfehler: Du hast etwas falsch gemacht, du bist zu früh gestorben. Es verschwindet die Demut vor dem Leben, das uns nur geschenkt ist und das wir jederzeit auch wieder verlieren können. Natürlich soll man auch an seiner Einstellung zum Leben arbeiten. Aber muss es denn wirklich so narzisstisch, so egoistisch sein? Ist eine Welt voller hundertjähriger Jeff Bezos eine Traumvorstellung? Was ist denn mit der Arbeit an den guten alten aristotelischen Tugenden wie Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft und Einfühlsamkeit? Wollen wir uns nicht erst darum kümmern, bevor wir an unserem Speiseplan feilen? Dann leben wir vielleicht nicht ganz so lange. Dafür reicht es, bevor wir nach Hause gehen, noch für einen Schnaps.