Krieg reformuliert

Ein Zitat aus einem Buch von Mark Twain

Mark Twain, 1835–1910, amerikanischer Schriftsetzer und Flusslotse, Journalist und Schriftsteller, ist das sechste Kind einer verarmenden Familie. Seinen Vater verliert er früh. Er schlägt sich durch mit Reiseberichten für Zeitungen und als Lotse auf dem flachen Mississippi. Von dort stammt auch sein Pseudonym: «Markiere zwei Faden Tiefe» heisst in der Lotsensprache «Mark Twain». Berühmt wurde er mit seinen beiden Jugendromanen «Tom Sawyer» von 1876 und «Huckleberry Finn» 1884.
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Freitag, 05. Mai 2017

Mark Twain, 1835–1910, amerikanischer Schriftsetzer und Flusslotse, Journalist und Schriftsteller, ist das sechste Kind einer verarmenden Familie. Seinen Vater verliert er früh. Er schlägt sich durch mit Reiseberichten für Zeitungen und als Lotse auf dem flachen Mississippi. Von dort stammt auch sein Pseudonym: «Markiere zwei Faden Tiefe» heisst in der Lotsensprache «Mark Twain». Berühmt wurde er mit seinen beiden Jugendromanen Tom Sawyer von 1876 und Huckleberry Finn 1884. Die ersten Sätze im zweiten Roman bilden die Brücke zwischen beiden Büchern:

Du kennst mich nicht, wenn du nicht Tom Sawyers Abenteuer gelesen hast; aber das macht nix. Der Mark Twain hat sie geschrieben, und es ist fast alles wahr drin. Manchmal hat er ein bisschen geschwindelt, sonst hat er aber die Wahrheit gesagt. Das mit dem Schwindeln schadet nix. Ausser Tante Polly oder der Witwe oder vielleicht auch Mary hab ich mein Lebtag niemand gesehen, wo nicht mal gelogen hat. Von Tante Polly – es ist dem Tom seine Tante – und der Mary und der Witwe Douglas steht alles in dem Buch, das beinah’ ein wahres Buch ist, und nur ein bisschen ist drin geschwindelt, wie ich dir schon gesagt hab.

Reformuliert: Mark Twain sitzt immer der Schalk im Nacken. Der Erfolg seiner Zwillingsromane liegt wohl darin, dass beide Alter, Jugendliche und Erwachsene, sie lesen können, nämlich jedes aus seiner Lebensperspektive. Junge erleben die Abenteuer hautnah mit: herrliche Streiche, wildes Leben, ersehnte Freiheit. Alte verstehen lächelnd die selbstironischen Botschaften: hölzerne Biederkeit, doppelte Moral, religiöses Philistertum. Die einen erfreuen sich an handfesten Prügeleien, die anderen an verbalen Ohrfeigen. Hier wird eine ausgeteilt: Es geht um die Wahrheit beim Schreiben. Twain, der Journalist, weiss sich ihr verpflichtet, wenn es um Berichterstattung geht. Seine professionelle Glaubwürdigkeit hängt daran. Twain, der Schriftsteller, tritt in ironische Distanz zur Wahrheit. Die Wahrheiten des Romans sind nicht dieselben wie die des Berichts. Und doch unterliegt auch fiktive Wahrheit der Glaubwürdigkeitsfrage. Twain, der Presbyterianer, kennt die moralische Unerbittlichkeit der puritanischen Erziehung. Gleich drei Frauen stehen in den Romanen für deren rigide Haltung. Sie lügen nie, meint Mark Twain, und spricht ein Problem an, das seine Aktualität auch nach 130 Jahren nicht eingebüsst hat: Wie verhalten sich journalistische, fiktionale und religiöse Wahrheit zueinander? Vor allem, wie hält man sie auseinander?

Konkret: «Fake news» und alternative Fakten betreffen eigentlich die journalistische Wahrheit. Wer sie aber am meisten bemüht, vermischt sie mit der Fiktion des wahren Amerika, mit der grossen Geschichte der Gründer, mit dem Mythos von Freiheit, Machertum und Pioniergeist. Und in all das mischt sich dann unversehens noch religiöse und moralische Rechthaberei. Ein giftiger Brei entsteht. Ihn beschreibt Mark Twain auf unterhaltsame und selbstironische Art. Tom und Huck sind wahr, weil sie eine Fiktion erleben, die es so nie gegeben hat. Die latente Schwindelei macht den Roman so wahr. Damit aber wird der Schriftsteller auch zum Presbyterianer: zu einem unerbittlichen, wenn auch liebenswürdigen Kritiker ideologischer Verlogenheit.

Mark Twain: Die Abenteuer des Huckleberry Finn. Droemer, München o.J.; Seite 5.

Der Theologe und Germanist Matthias Krieg hat bei der Reformierten Kirche Zürich die Stabsstelle Theologie inne. Seine Kolumne Krieg reformuliert handelt von Literatur in reformierter Denktradition.

  • N° 8/2017

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